Elisabeth Klar (15)

Puppenmutti

Sie hat ihn auf der Straße gefunden.

Er ist in einer Ecke gelegen, auf ihrem Heimweg von der Schule, und hat sie angelacht, als sie sich über ihn beugte. Er hat seine Hände nach ihr ausgestreckt und ihr Gesicht gefangen.

Jetzt sitzt das Mädchen bei einer Bushaltestelle, auf einer Bank, und hält den Säugling in ihren Armen. Als sie Kinderstimmen hört, irren seine Augen hin und her. Sie drückt das Kissen fester an sich, bis er sich unwohl fühlt und kleine, unzufriedene Geräusche von sich gibt.

Drei Buben auf Fahrrädern biegen um die Ecke. Sie bleiben stehen und grinsen sie an. Einer fragt: »Was ist denn das?«

»Mein Bruder«, sagt sie und schützt das Baby mit ihren Armen.

»Du spinnst ja!« ruft ein anderer. Der Dritte sagt: »Gib mal her!«

Das Mädchen springt auf und rennt fort, aber die Buben folgen ihr und umkreisen sie auf ihren Fahrrädern. »Puppenmutti, Puppenmutti«, singen sie.

Das Baby brüllt, während das Mädchen in der Mitte steht und ihr Gesicht im Bauch des Babys vergräbt.

Als der Bus kommt, lassen die Kinder von ihr ab und fahren weiter. Langsam geht das Mädchen zum Bus zurück. Sie heult.

Der Busfahrer schaut sie von oben bis unten an.

»Was ist denn mit dir passiert?« fragt er.

»Sie wollten ihn mir wegnehmen«, sagt sie, »sie haben ihn beschimpft.«

Er runzelt die Stirn, »Wegen diesem Klotz?«

»Das ist mein Bruder!« Tränen steigen ihr wieder in die Augen.

»Schon gut«, beruhigt der Fahrer sie, »Wein’ nicht mehr.«

»Das Baby hat geweint«, sagt das Mädchen zu ihm und setzt sich in eine Ecke.

Dort wiegt sie den Säugling, der sich lautstark beschwert.

Als sie aussteigen muss, hält sie ihn vorsichtig. Zum Glück ist es nur ein kurzer Weg nach Hause.

Die Tür geht auf,

»Warum kommst du so spät?«

Das Mädchen hält den Jungen hoch, der Mama mit Staunen betrachtet.

»Was soll das? Du kommst erst mal rein und isst, der Stock bleibt draußen.«

»Aber, Aber…« Dann überlegt sie, atmet tief ein. »Er ist ganz trocken. Du kannst ihn doch zu den Holzscheiten legen.«

»Wir haben genug Holz für den Kamin.« Die Mutter verschränkt die Arme.

»Aber ich will dir doch nur helfen, Mama.«

Mama sieht sie an. Dann lächelt sie und seufzt. »Na, gib schon her!«

Tief in der Nacht, als alle schon schlafen, tapsen kleine Füße ins Wohnzimmer. Eine Zeitlang bleibt das Mädchen im Türrahmen stehen. Dann schaut sie sich um, ob sie auch niemand sieht, und schnappt sich das Kissen mit dem Baby, das wimmernd auf den anderen Holzscheiten liegt.

In ihrem Zimmer wäscht das Mädchen den Säugling und kleidet ihn in Puppenkleider, während das Baby gluckst und mit den Beinen strampelt. Es lacht, fängt ihre Finger und lässt sie nicht mehr los.

»Wir haben sie ausgetrickst«, kichert das Mädchen. »Mama wollte dich nicht. Aber jetzt bist du hier.«