Susanne Heinrich (16) – 3. Preis

Ballerina

Kaugummiblässe
Knäckebrotgedanken
und Spitzenschuhpflege
Ein bisschen Blut im Schuh
Rugedigu
Und erst
Abziehbildchen
dann keine
Abziehbildchen
und jetzt selber eins:
Weizenblonder Augenaufschlag
Finger an Hand an Arm an
45 Kilogramm
zuviel
Getönte Lächellippen
Lippenlächeln
lächeln
Lippen
Pas de deux der grauen Zellen
Nur hin und wieder Rotweinabende
als Rückblende
Voraus nur:
Ballerinenscherenschnitte
an wintervereistem Spiegelglas
Der breite Weg zur Fast Food – Hölle
Der schmale Grat in den Knäckebrothimmel
und vielleicht ist der Weg
spiegelgesäumt

 

Etage: 2 ½.

»Wie lange sitzen wir schon fest?«

»Acht Stunden und dreizehn Minuten. Hat jemand Durst?«

»Mein Chef wird mich umbringen«, lachte Evilyn wieder auf diese schrille Art, lehnte sich dann an Patrice, um nach der angebotenen Flasche zu angeln, die sie durstig an ihre Lippen drückte. Joseph nahm die Flasche wieder entgegen, nickte dem Mädchen zu und drückte sich näher an die Wand.

»Ich möchte raus«, ertönte leise die Stimme Helens, die in der rechten hinteren Ecke auf dem Boden hockte, die Knie bis ans Kinn gezogen hatte und seit den letzten 28 Minuten zählte.

»Was zählst du?«, fragte Patrice und beugte sich zu dem Mädchen hinab, dessen schwarzes Haar an seinen nackten Unterschenkeln kratzte, und dabei rückte er unmerklich ein wenig näher an sie heran. Sie antwortete nicht, das tat sie bereits seit einer ganzen Weile, und jetzt roch sie, wie Patrice schwitzte und zog die Knie enger an sich heran, um ihm auszuweichen.

Mischa, der zwischen Evilyn und Joseph stand, schien eingenickt zu sein. Helen schielte neidisch zu ihm hinüber. Er hatte den Kopf zur Seite geneigt und atmete flach. Das blonde Haar lag ihm wie ein Helm auf dem schmalen Gesicht, jetzt wandte sich Helen wieder ab und schwieg in ihre Hände.

Joseph trank jetzt selbst, dann herrschte eine Weile Schweigen, bis Mischa im Traum zu reden begann.

Evilyn begann zu kichern, worauf Helen sagte:

»Weckt ihn. Er will ja nicht reden.«

Wieder kicherte das Mädchen, rückte näher zu Mischa und kitzelte ihn mit dem Haar an der Stirn.

»Weckt ihn«, rief Helen jetzt lauter und stand auf.

»Er will etwas sagen«, flüsterte Patrice, lachte dann auch und legte schnell den Finger auf den Mund.

Helen hatte erwartet, dass er von sich erzählte. Er redete von Justine.

»Justine!«, lachte Evilyn.

»Lach nicht!«, sagte Helen energischer, aber Evilyn legte den Kopf in den Nacken, lachte lauter und antwortete:

»Wenn wir hier irgendwann raus kommen, verstehst du, irgendwann, dann sehen wir uns nie wieder.«

»Wenn wir uns zu sehr bewegen, kann er stürzen. Der Fahrstuhl ist überladen.«

»Und keiner kommt in dieses verdammte Haus. Wochenende! Freitagabend!«, fügte Evilyn hinzu.

»Keiner. Wir sind allein. Zufall, dass wir alle hier sind. Zufall. Und alle mit dem Fahrstuhl! Zufall!«

»Wir sind allein«, wiederholte Helen leise, nickte dann und setzte sich wieder.

»Heul nicht«, sagte Evilyn. Dann hörten sie wieder hin.

Er redete wirr. Man trank Tee. Und verschüttete ein wenig. Und hob den Rest für die nächsten Stunden auf. Als Helen zu singen begann, redete Mischa lauter. Er tat ihr leid. Sie wollte nicht, dass alle ihn hörten. Evilyn lachte schrill. Das Lachen klebte ihnen an der Stirn, irgendwie war es rot und platt. Ihr war nichts anderes eingefallen.

Jetzt erzählte er von ihren Brüsten. Wie Marzipan, sagte er, und war müde dabei, redete von ihren Schenkeln und ihrer Haut, dann wieder von den Brüsten. Wie Marzipan, sagte er, und sogar Helen schwieg.

»Wie Marzipan«, lachte Evilyn und gähnte dann. Sie wurde müde. Als sie ihre Hände nicht mehr sehen konnte, nicht mal durch den Spalt an der Decke, und auch das fahle Haar Mischas nicht mehr zu erkennen war, gab sie sich der Nacht preis. Es war kühl. Sie zog die Jacke aus, fror, zog den Pullover aus, legte ihn auf den Boden.

»Wie Marzipan«, sagte sie leise und legte sich zwischen Mischa und Helen.

Patrice beugte sich zu ihr hinüber, eine knittrig erbrochene Nacht klebte an seinen Lippen. Er hatte Angst. Er griff nach ihrer Brust. Sie wehre sich nicht.

»Wie Marzipan«, sagte er und lehnte sich zurück.

Mischa schwieg. Weil die Nacht lärmte.

Morgen sah man nur an den Gesichtern. Helen schwieg den Raum voll, Mischa blickte stumpf an die Wand gegenüber. Vielleicht hatte er geheult. Und vielleicht hatte Helen es gehört. Jetzt zählte es nicht. Es war Ausnahmezustand.

Patrice schlummerte, Joseph auch, er erwachte hin und wieder und lachte dann. Zum heulen war er zu müde.

Evilyn kaute auf einem blöden Pfefferminzgummi herum, sie setzte sich neben Helen und legte ihr die Hand aufs Knie.

»Du hast keinen Pullover an«, sagte Helen.

»Wenn mir kalt wird, zieh ich ihn an. Dann ist mir warm. Es geht noch.«

Die jüngere nickte. Sie sah wesentlich älter aus. Es konnte auch am fahlen Licht liegen, was sich auf ihre Wangen schrieb.

Patrice war wach geworden. Er hörte keinen Vogel und keine Straßenbahn. Und keinen Vogel unter der Straßenbahn. Das beunruhigte ihn. Er wollte trinken.

»Wie lang wohl noch,«

sagte Helen leise und spuckte die Antwort an die Tür.

»Das weiß die Wand«, sagte Patrice jetzt, lachte, weil es nichts zu lachen gab, und trank noch einen Schluck. Gurgelte erst, um seinen Mund anzufeuchten.

Joseph weckten sie.

»Du hast im Schlaf geredet«, sagte er zu Mischa. Der kämmte sich mit den Fingern eine tote Nacht aus dem Haar. Und pustete ein beschämtes Lächeln in die Fahrstuhlmitte. Da saß niemand.

Sie bekamen alle einen Pfefferminzgummi. Und tranken wenige Schlucke.

Der Tag kroch durch den Spalt, feucht legte er sich auf die eingefallenen Wangen, und jetzt fragte Mischa leise, als spreche er nur zu sich selbst:

»Was habe ich geredet?«

»Wie Marzipan«, sagte Evilyn und kicherte ein wenig.

»Marzipan«, wiederholte Mischa und fügte hinzu: »Dein BH ist zu klein.« Eine volle und rote Brust wölbte sich rund über den oberen Gummizug. Am Stoff zeigten sich neugierige Brustwarzen ab. Patrice starrte sie an.

»Ich habe den Pullover ausgezogen, damit ich, wenn es kalt wird, etwas zum anziehen habe.«

Patrice lachte.

»Hört, hört!«, sagte er.

»Vielleicht willst du Brüste aus Marzipan haben«, sagte Helen so leise wie möglich und lehnte sich ein wenig zurück an die Wand des Fahrstuhls, die noch immer von kondensierter Luft feucht war, und ein wenig dunkel vom Nachtatem.

Sie teilten sich einen Müsliriegel von Patrice.

»Du bist still«, meinte Helen zu Joseph, der sich jetzt in die vordere Ecke gehockt hatte und die Knie warm rieb.

»Es gibt nichts zu sagen«, meinte er. »Ich will mich nicht preisgeben.«

»Wo wir vielleicht eh nicht mehr lang Zeit haben zu leben«, lachte Evilyn und es wurde still. Helen hatte die Hand vor den Mund gelegt, aber das Schluchzen machte sich frei und klebte nun an der Decke. Es tropfte.

»Heul nicht«, sagte Evilyn. »War ja nicht so gemeint.«

»Wenn wir springen?«, fragte Mischa leise.

»Springen?«, wiederholte Evilyn, »du bist ja verrückt. Wir stürzen.«

Er zuckte die Schultern.

»Wir sollten fröhlich sterben«, lachte das Mädchen leise. Sogar im Stillen lachte sie schrill.

Dann lehnte sie sich Patrice entgegen.

»Berühr sie«, sagte sie laut. »Das willst du doch.«

»Zählt, was ich will?«, fragte er.

»Vielleicht«, sagte sie. Er:

»Bist du immer so?«

»Wie bin ich denn?«

»Wie willst du denn sein?«

»Das darfst du dir aussuchen. Ich bin ja nicht eins. Vielleicht bin ich immer so, vielleicht nur jetzt. Vielleicht, weil ich lebensmüde bin. Vielleicht, weil ich lebensmunter bin. Wer weiß.«

»Gott weiß«, warf Joseph ein. Er wollte nicht, dass Patrice ihren Busen streichelte. Das machte ihn nervös. Er war nie schmutzig gewesen.

»Gott?«, lachte Evilyn. »Das ist ein alter Teufel. Der hängt in den Kirchen.« Sie warf das Haar zurück. Einige streiften Helen. Die zählte wieder.

»Was zählst du nur?«, fragte Patrice. Aber Evilyn reizte ihn mehr. Er lange nach ihrem Busen. Helen begann zu singen.

»Halt den Mund«, sagte Evilyn und drückte die Hand des Mannes fester auf ihre Brust. Helen hatte die Augen fest geschlossen, nur das Zittern beherrschte die Lider, lauter sang sie und heftiger, es klang wie der Gesang eines Zigeunermädchens.

»Zigeunerin«, lachte Evilyn. Aber dann schwieg sie. Weil alle schwiegen. Und Helen sang weiter. Sie merkte nichts. Sie zerrte sich eine weiche Melodie aus der Kehle, hörte nicht auf, spuckte weiter Töne, und alle schwiegen und glotzten. Er hatte seine Hand von ihrem Busen genommen.

Die Sprache klang wie das Reißen von Papier, fand Joseph, und er hörte sie gern und lächelte dazu.

Als sie abrupt aufhörte zu singen und die Augen öffnete, erschrak sie, setzte sich aufrechter und schwieg am lautesten.

Evilyn wandte sich ab und kratzte sich am Kopf. Ein schrilles Lachen blieb aus. Das letzte hing noch in der Ecke.

»Du bist Zigeunerin«, bemerkte Mischa leise, es klang wie eine Frage, die das Nicken gleich mitliefert. Das Mädchen nickte.

»Meine Eltern.«

»Händler?«

»Diebe. Spieler.«

Ein Nicken. Zweimal. Dreimal.

»Sing noch mal«, meinte Joseph, »sing doch noch mal.«

»Was ist schon stehlen?«, fragte Patrice jetzt. »Und was bedeutet es noch?«

Sie sang. Ein wenig lauter. Ein wenig mutiger. Und man schwieg, weil der Ton den Raum füllte und sich in den Augen spiegelte.

Evilyn sang mit. Sie konnte nicht singen. Patrice legte ihr die Hand auf die Brust. Sie schwieg.

»Warum schließt du die Augen, wenn du singst?«, fragte Joseph.

Helen lächelte.

»Weil ich das Wort sonst in allen Augen gespiegelt sehe. Ich hab das Gefühl, keiner versteht es.«

»Was heißt es, was du da gesungen hast?«, fragte Patrice. Sah sie nicht an dabei.

»Es geht um eine entführte, gestohlene Edelfrau.«

»Stehlen, stehlen«, murmelte Mischa und seufzte.

Es war Mittag.

Irgendwo eine Taube. Licht durch den Spalt, Staub auf den Zungen und Schuhspitzen.

»Hat keiner eine Ehefrau oder einen Bruder, eine Schwester vielleicht oder Eltern, die sich sorgen? Hat keiner ein Telefon?«, fragte Patrice jetzt laut.

»Oder will keiner eines haben?«

Helen schüttelte den Kopf.

»Meine Eltern halten mich für eine von ihnen.«

»Das heißt, sie glauben, du amüsierst dich, spielst, schläfst mit Männern, tanzt.«

Sie nickte müde. Evilyn nickte ebenfalls.

»Na fein«, sagte sie.

»Es ist Wochenende. Wer soll uns hier vermuten. Ich wohne allein.«

»Männerpause?«, fragte Patrice und grinste.

»Männerpause«, bestätigte sie und lachte. »Sie kommen, wenn sie Lust haben auf mich.«

Patrice hatte kein Handy. Und keine Familie. Mischa schwieg. Joseph hatte eine Frau auf Urlaub. Es wurde Nachmittag, ohne dass jemand viel redete.

Und das Lachen Evilyns war von gestern zu heute schon stiller geworden.

Patrice küsste Evilyn. Helen musste zusehen, weil sie nicht schlafen konnte. Mischa redete nicht, weil er wusste, dass er wieder im Schlaf reden würde. Er hatte die Freude nie genießen können, sich vor anderen zu verstecken und sich ihrer Missinterpretation seines Wesens zu erfreuen.

Joseph und Patrice hatten die Plätze getauscht, Joseph und Helen zählten jetzt gemeinsam. Wahrscheinlich zählten sie, ohne wirklich etwas zu zählen. Was nützt es auch zu zählen. Die wirklich wertvollen Dinge lassen sich nicht zählen.

Sonne beutelte Blicke der fünf, und als Helen aufblickte, hatte Patrice seine Hand auf Evilyns Po. Die knabberte ihn jetzt am Ohr.

Helen fand das widerlich, aber sie konnte sich dem weder widersetzen noch entziehen. Es ereignete sich vor ihren Augen. Liebe für Stunden. Vielleicht Liebe, ja, daran zweifelte sie nicht einmal.

Der Tag ließ sich nicht zwischen ihren Lidern zermalmen.

Sie sang nicht mehr. Aber sie fragte sich, was sie verlegen werden ließ, wenn zwei sich berührten. Vielleicht war es die Enge des Raumes, die ihre Angst vertiefte. Und vielleicht kannte sie den Ton des Stöhnens. Vielleicht aus ihrem eigenen Mund. Vielleicht von der Sonne. Vielleicht war das Stöhnen überall, das Stöhnen des Gebärens, was die Luft erfüllte. Gebar die Nacht den Tag oder der Tag die Nacht? Wenn die Nacht das Weib war, war sie schon immer dagewesen?

Es wurde allmählich dunkler und kälter. Sie tranken alle einen letzten Schluck, den Rest ließen sie für den nächsten Morgen. Helen stand auf, als alle anderen sich gesetzt hatten und den Kopf auf die Brust fallen ließen. Sie hatte sich noch nicht einmal die Beine vertreten.

Sie hörte, wie Joseph betete, und es faszinierte sie. Sie legte ihren Kopf an seinen Arm.

Evilyn sagte in die Stille:

»Vielleicht bin ich krank. Aber das zählt nicht mehr. Kann mich jemand streicheln?«

Patrice nahm sich ihrer an. Helen hielt sich die Ohren zu. Sie ekelte sich.

Mischa stand als einziger. Schlafend. Und begann zu erzählen.

Er erzählte nicht von ihren Brüsten. Er erzählte von Justines Duft. Dann wieder von ihren Schenkeln. Schließlich erzählte er von ihrem Haar. Und seinem Bart in ihrem Schritt.

Er hatte keinen Bart.

Helen hörte die beiden sich streicheln. Sie drückte sich enger an Joseph. Der lehnte jetzt den Kopf zur Seite, als kippe er, setzte sich dann wieder gerade, nahm mit einem Mal ihre Hand und legte die an seine Wange.

Als Helen zu weinen begann, stöhnte Evilyn dazu. Sie hörte nicht auf, auch als Helen darum bat. Mischa redete lauter.

Jetzt nur noch von ihrem Duft.

Es stank, bemerkte Joseph. Und Helens Hand war kleiner als alle die er kannte. Er mochte Hände.

»In Italien redet man nicht. Man schreit. Und lacht anschließend«, sagte Joseph, bevor er Helen gleichmäßig atmen hörte. Damit begann die Nacht. Sie begann ihn ihren Händen.

Als Mischa erwachte, war es noch Nacht. Er stand auf, streckte seine Beine. Sie schmerzten. War es schon Sonntag? Er hatte Durst. Und auf der gegenüberliegenden Seite Joseph mit der Flasche. Auf seinem Arm schlummerte Helen fiebrig. Er griff nach der Jackentasche des Mannes, schraubte die Flasche auf, trank den letzten Schluck. Legte sie zurück.

Er konnte nicht schlafen. Vielleicht gab es im selben Moment Sternschnuppen. Vielleicht nicht.

Er stellte sich vor, wie Morle vom Schornstein in den Ofen flog. Und verbrannte. Und bekam Angst vor dem Gedanken.

»Was passiert, wenn uns jemand tot schießt, wenn er kommt?«, fragte Mischa in die Nacht. Vielleicht war jemand wach.

»Nichts«, sagte Helen leise. »Dann sind wir tot.«

»Hältst du mich für bescheuert?«

»Nein«, sagte Helen bestimmt. »Ich überlege auch oft, was passiert, wenn mir jemand weh tut. Ob ich es spüre.«

»Ist das normal?«

»Was ist schon normal?«, fragte sie zurück.

»Vielleicht ist der Normalbürger immer ein wenig krank.«

Mischa schwieg. Aber ihr Schweigen war ruhiger. Das Schweigen traf das andere.

Der Atem der anderen klopfte sachte an die Wände. Es gab nichts nach. Helen hätte lieber geredet als geschwiegen. Wenn keiner ihr Gesicht sah, in der Nacht, war ihr wohler beim reden.

Sie Sterne waren blass und zerfahren, irgendwo eine Glocke, vielleicht zu fern, aber Helen stellte sich vor, als Pendel zu schwingen. Stellte es sich so lang vor, bis ihr alles weh tat. Dann wurde sie müde.

»Vielleicht sind wir alle nicht mehr und nicht weniger krank«, dachte sie dann.

War sie jetzt normal, wenn sie nicht wie normalerweise, was unnormal ist, zu Vollmond aufwachte? Ihr Mund war trocken. Und jetzt spürte sie, wie Joseph aufwachte. Er wachte langsam auf. Dann nahm er ihren Arm, drückte ihn, zog sich ein wenig nach oben, suchte ihre Augen, die vielleicht leuchteten in der Dunkelheit.

Er mochte keine Dunkelheit.

»Du kennst mich nicht, wenn es dunkel ist«, sagte Helen.

»Meinetwegen«, sagte Joseph. Und:

»Ich habe Durst.«

»Es ist deine Flasche«, sagte Helen jetzt und zuckte die Schultern. Er nahm sie. Sie war leer. Mischa schloss die Augen und setzte sich wieder. Er schaute zu Helen hinüber. Hatte sie ihn gesehen, als er trank?

Helen lehnte sich auf die andere Seite.

»Leer«, sagte er. »Vollkommen leer.«

»Was nützt es noch?«, fragte Helen zuletzt.

Joseph schlief bald. Mischa nicht.

»Es nützt nichts, wenn er schimpft«, sagte sie wie zur Erklärung ihrer Unehrlichkeit.

Er nickte dankend. Schenkte den Dank dem Mond. Sie sah es nicht. Ob der Mond jetzt mit Lachen spuckte?

»Das schönste waren die ersten Stunden«, sagte er.

»Als alle hastig redeten und abwogen und Handys suchten und schrien. Und lachten. Jetzt gibt es nur noch zu heulen«, sagte er.

»Nein«, widersprach Helen. »Jetzt erst wird es lustig. Nichts zählt mehr.«

»Das macht mir Angst.«

»Mir auch. Aber wir sind fünf.«

»Fünf Kranke, meinst du?«

»Krank werden ist einfacher als gesund werden.«

»Und krank sein ist einfacher als krank werden.«

»Vielleicht habe wir alle etwas Krankes.«

»Meinetwegen«, sagte Mischa.

»Was tut der Mensch, wenn er sich nicht mehr bergen kann?«, fragte er weiter.

»Das.« Er wies auf Evilyn und Patrice. Ihre Umrisse waren schwach zu erkennen. Patrice hatte die Brust der Frau im Mund.

»Wenn er stirbt, stirbt er lebendig. Wenn ich sterbe, sterb ich lebendig?«

»Anders«, sagte er. »Du stirbst anders.«

»Ich hab mir immer gewünscht, einmal blonde Haare zu haben«, sagte sie jetzt.

»Es ist Vollmond. Wünsch es doch. Es macht keinen Unterschied«, antwortete er leise. Und schlief ein.

Am Morgen fand sich keiner, der die Flasche geleert haben will. Und Joseph war zu müde zum schreien. Er heulte nur. Helen strich ihm das Haar aus der Stirn und merkte, dass er Fieber bekam. Es war Sonntag. Der Bäcker hatte geöffnet. 7.28 Uhr war es.

Kindergarten, Schule, Arbeit. Autos. Spuk auf den Straßen.

»Ist das da draußen nun behinderte Ursprünglichkeit und das hier drinnen normal? Oder ist das hier drinnen Krankheit und dort draußen normal?«

»Normal und ursprünglich ist ein Unterschied«, sagte Helen leise zu Evilyn.

»Durchschnitt ist das da draußen. Ursprünglich, verfälscht durch das Leben, was wir die Jahre davor lebten, ist das hier drinnen.«

»Ich habe Durst«, sagte Joseph. Er kauerte auf dem Boden. Er hatte Fieber. War blass.

»Er muss trinken«, meinte Helen. Sang ihm was vor auf die Bitte der anderen hin. Vielleicht würde er dann einschlafen. Er schlief nicht. Er heulte bloß. Und sein Haar war zerzauster als am Vortag. Vielleicht hatte er sich von der Nacht verprügeln lassen. Man neigt bei Angstgegnern dazu.

Mit ihren Händen kühlten Evilyn und Helen seine Unterschenkel. Patrice war still. Mischa auch. Hin und wieder döste er ein.

»Du hast wieder geredet«, sagte Joseph leise. Helen legte ihm den Finger auf den Mund. Er sollte ruhig werden.

»Kenn ich dich jetzt?«, fragte er weiter. Leiser.

»Vielleicht«, sagte Mischa.

»Meinetwegen.«

»Ich kenne keinen Menschen«, sagte Joseph.

Es dauerte lange, bis er schlief. Aber man hatte etwas zu tun damit, ihn zu kühlen. Am Oberleib deckte Evilyn ihren Pullover auf seine Brust. Vielleicht nur, um selbst nackt zu sein. Sie behauptete, alle würden sich anstecken.

Der Morgen humpelte, vielleicht war er knittrig, Mischa konnte es durch den Spalt nicht sehen, auf jeden Fall steckte er in den Kinderschuhen. Und der Wind hustete dazu. Wahrscheinlich hatte er sich von dem jungen Mann angesteckt.

Es wurde Mischa zu eng. Wenn er Angst bekam, wurde er wütend.

Es war Mittag, um 11.41 Uhr, als er zum ersten Mal brüllte. Die einzige, die nicht erschrak, war Helen. Sie hatte es bereits in seinem Gesicht gesehen. Es war etwas zerbrochen.

»Schrei nicht!«, fauchte Patrice. Und sein Ton erinnerte an das Reiben von Knöpfen auf einem Waschbrett.

Joseph war aufgewacht. Seine Hände fuchtelten wild. Er wollte das nicht.

Patrice begann dann, zu rauchen, und hörte nicht auf, auch als Joseph zu husten begann und die Stirn fiebrig gerötet war. Helen streichelte Joseph ohne Unterlass das Gesicht, hin und wieder sang sie auch. Evilyn hatte ein wenig Angst. Wie er schrie.

Er schrie nicht laut, aber er schrie wild und böse und überraschend. Er sagte, es sei normal. Helen weinte nicht.

»Macht es dir keine Angst?«, fragte Evilyn.

»Es ist wie weinen«, antwortete das Mädchen, »nur lauter.«

»Und vor dem Stöhnen hast du Angst?«

»Auch Stöhnen hat wie Schreien einen tierischen Ursprung. Aber Lust wurde zur Sünde gemacht. Schmerz ist edler.«

»Ich habe meine Eltern belauscht, wie sie miteinander geschlafen haben«, sagte Patrice jetzt leise.

Helen sah ihm in die Augen.

»Um mir einzuprägen, wie es klingt.«

»Sex ist auch ein Schrei«, lachte Evilyn jetzt.

»Ein Versuch, die getrennten Hälften zu vereinen«, sagte Helen. Mischa schrie wieder.

»Wie ein Wolf«, meinte Joseph jetzt ruhig.

»Jemand einen Kaugummi?«

Sie teilten ihn sich, Josephs Fieber wurde stärker, und Mischa schlug mit der Faust gegen eine der Wände.

»Wie ein Wolf«, wiederholte Helen.

Sie deckten Joseph zu, legten ihn in die Mitte, sein Kopf auf Helens Schoß, die ihn sanft streichelte und begann zu singen.

»Edelfrauen«, sagte Patrice leise. »Edelfrauen, nicht wahr?«

»Ein Bauernmädchen«, sagte Helen, »es geht um ein Bauernmädchen.«

Evilyn hatte einen Block aus der Tasche gezogen. Jetzt begann sie zu zeichnen. Helen schrieb bald ein wenig. Es war still, nur Mischa zerriss von Zeit zu Zeit die entstandene Haut über der Luft, die entstandene Wärme, wenn er gebrüllte Worte würgte und an die Wand klatschte. Sie zersprangen schon vor dem Aufprall. Hin und wieder zuckte jemand zusammen.

Ein Sonntag quälte sich durch Vergangenheitsdreck und Ampelmännchen. Es war still. Warm. Die Sonne durch den Spalt malte einen Keil auf den Boden, daneben einen goldfischförmigen Klecks aus dreckigem Gelb.

Als Patrice auf den Boden spuckte, schaute Helen auf und versuchte, ihn ins Auge zu fassen.

»Qualm im Mund«, flüsterte er.

Keiner verstand, was Mischa schrie. Es war egal.

Evilyn erinnerte sich an ihre Kommunion. Sie erinnerte sich an den Duft von Weihrauch, ans Kleid nicht, aber die Schleife im Haar. Sie erinnerte sich an Blasmusik und Küsse, dunkel an Kirschtorte und deutlich und schrill an den ersten Joint hinter dem Haus, dort, wo die Stufen in den stinkenden Magen des Hauses führten, einen Keller, wo es seit dem zwölften Geburtstag und ihrer ersten Kippe nach Erbrochenem stank und die Wand voller Kritzeleien von Pubertätsfanatismus erzählte.

Das Haus war immer in der Pubertät geblieben.

Und sie? War sie nicht dazu verdammt gewesen, alles auszuprobieren?

Hatten sie nicht diese verdammten Silberrandteller und das Nietzschezitat an der Wand und das Goethebildnis und das Klassikgedudel dazu gezwungen?

Und warum überlegte sie erst jetzt, als sie Helen gegenüber saß, die da sang und schrieb, deren Worte klecksartig weiße Blätter beschmutzten?

Licht brach sich jetzt selbst, es war die Zeit, als es sich selbst verzehrte und vermehrte. Nachmittag. Die Orgasmen der Zeit, die Augenblicke, verschmolzen im Schweigen und Blicken. Hin und wieder ein Schrei, der sich wehrte. Mischa zitterte, sah Patrice, und Joseph schlief fiebrig.

Helens Haare als feuriger Kopfschmuck eines bleich feinen Gesichtes glänzten jetzt. In der Sonne.

»Ich bin müde«, sagte Mischa plötzlich. »Aber lieber schreie ich, als zu erzählen.«

Joseph. War er nicht immer krank gewesen? War das Gesicht nicht von Anfang an blass gewesen?

»Künstler«, sagte Evilyn jetzt leise vor sich hin, »sind immer krank.«

Und dabei wusste sie nicht, ob sie einer sein wollte. Ihr fiel auch die Blässe Helens auf, die das Puppengesicht schmückte. Und dabei war das Denken Helens alles andere als das Schwarzweiß ihres Schneewittchenschädels. Wusste Evilyn.

Rauchen wollte sie nicht.

Patrice schaute hin und wieder hinüber. Er war sich nicht sicher, ob er die Situation, eine Frau ungehindert beobachten zu können und zu müssen, genoss. Die Sehnsucht war größer, wenn sie ferner war. Inzwischen schlug seine Lust beinahe in seichte Genugtuung um. Konnte es das sein?

Noch immer Sonne, kein Mond, und er hörte ihren Hunger, konnte ihnen aus den Augen lesen. Die Augen, die da stumpf in den Höhlen ächzten.

Schön wäre es, jetzt Wind zu haben. Ein Eis vielleicht. Fernsehen. Ein Weib. Nur einen Tag. Hatte er sich an Evilyn schon satt gesehen?

Stumpfheit im Raum, nichts als Starre, sogar im Schlaf, nur die Brüste der Frau auf und ab. Brustwarzen unter dünnem Stoff.

Es war eng, die Luft inzwischen schlecht. Er hatte Durst. Hunger. Fieber?

Fliegen hätte er verscheuchen wollen, laufen, ein wenig.

Der Tag hatte die Faust um alle geschlossen.

Es war 15.46 Uhr, als Mischa das letzte Mal schrie.

Danach schwieg er angestrengt.

Es wäre Patrice lieber gewesen, wenn er weiter geschrien hätte. Dann hätte die Angst ihm Gänsehaut geschenkt und er müsste nicht an seinen Schweißperlen schlucken. Jeder hatte irrsinnig Durst.

»Was schreibst du?«, fragte er Helen, die jetzt immer wilder auf dem Papier kritzelte.

»Ein Gedicht. Ein chaotisches Minutengedicht.«

»Lies vor«, sagte Joseph leise.

»Du bist wach?«, fragte nun auch Evilyn. Mischa lehnte schwer atmend an der Wand.

»Ich hasse Gedichte«, presste er jetzt zwischen den Zähnen hervor. Spuckte dabei ein wenig.

»Gedichte«, sagte Helen, »können wie das Leben sein. Sie haben einen Rhythmus.«

»Sie sind zu blumig«, sagte Mischa. »So ist das Leben nie.«

Die junge Frau zuckte die Schultern und schwieg. Man reichte das Gedicht herum.

»Blütensemester

im Zeittakt

Sommerwinterwende

Schuhe blasen Atemwolken

Wir leben

noch – Was soll das heißen?«, fragte Evilyn.

Helen lachte und wickelte das schwarze Haar um den Finger. Nach einer Weile fragte sie:

»Hat jemand eine Schere?«

Evilyn hatte eine. Nun stand Helen zum ersten Mal auf. Mischas Atem riss ab, dass lange, wellige Band lag fusselig auf dem Boden.

Helen band das schwarze Haar auf.

»Schneid es kurz«, sagte sie zu der Frau.

Evilyn lachte schrill, bis das schrille Lachen sie einholte. Dann schwieg sie. Lachte wieder. Setzte sich.

»Schneid es kurz«, wiederholte Helen freundlich.

»Warum?«, zerrte Joseph eine Frage aus allen Augen. Nicken. Kopfschütteln.

»Ich habe Lust. Es ist warm. Ich bin gerade fröhlich, das kommt selten vor.«

»Wirst du dich ärgern?«

»Natürlich. Revolutionen haben auch immer Gezeter gebracht.«

Evilyn beugte sich zögernd zu Helen hinüber. Sie stand still und bedeutete den anderen, ruhig zu sein. Die beiden Frauen lächelten. Es war das erste Mal, wusste Helen, dass ihr Lächeln in das von Evilyn passte.

Es war kein Wort im Raum, vielleicht nur noch Hall, nicht mal der Tag, der sich röchelnd zwischen alle zwängte, konnte die Aufmerksamkeit der fünf bezwingen. Alle Augen klebten auf ihrem Haar. Ein paar fusselige Strähnen säuselten bereits nicht mehr.

Mischa fragte sich, ob Haare bluten könnten. Und überlegte, dass es zu spät sei, jetzt daran zu denken. Erster Schatten leckte Falten aus den Gesichtern.

Das Haar zierte den Boden, es kringelte sich wüst.

»Schlangen«, sagte Joseph. Man hatte lange nicht auf ihn Acht gegeben. Und dann:

»Darf ich eine Locke haben?«

Helen nickte, er steckte eine in die Jackentasche, und als er sich wieder zurücklehnte, fielen die Lider zu. Zuckten nur noch rötlich. Adern darunter wie Wasserschlangen. Weiß. Blässlich. Patrice rauchte nicht mehr.

Mischa atmete noch immer heftig.

Evilyn schnitt letzte Strähnen.

Und das Lächeln war noch nicht verfault.

Es war dunkler als letzte Nacht. Helen spürte es. Vielleicht, weil sie mit ihrem schwarzen Haar nicht mehr trotzen konnte. Es war nicht einmal mehr ganz schulterlang.

Neben ihr pustete Joseph unförmige Atemwolken in die Luft, sie machte sich Sorgen. Evilyn schlief allein. Sie hatte sogar ihren Pullover an. Vorn dann Patrice. Sie spürte den Durst aller. Das Atmen schwerer –

Zuerst begann Joseph zu phantasieren. Er redete von Beinen. Dann von Schreien. Schließlich vom Winter. Afrika. Kehrte dann von den Beinen zurück.

Als knüpfe er den Teppich weiter, fiel der schlafende Mischa mit trockener, jammernder Stimme ein. Justine. Justine und ihr Haar. Er erzählte davon, wie weich ihre Stimme war. Sogar, wenn sie stöhnte. Dann von ihren Händen. Von ihrem Busen erzählte er nicht.

Helen blieb wach. Sie konnte vor Durst nicht schlafen.

Die Minuten wälzten sich. Zum Tag? Oder wurde es noch immer dunkler?

Helen schluckte ihre eigene Spucke.

Als Evilyn erwachte, zuckte sie zusammen.

»Du? Bist du wach?«

»Ja.«

»Helen?«

»Ja.«

»Ich habe Durst.«

»Ich auch.«

»Gibt es ein Morgen?«

»Ich weiß nicht.«

»Hast du ihn gehört?«

»Wen?«

»Joseph.«

»Ja.«

»Ich hätte gedacht, er erzählt von Schafwolle«, lachte Evilyn müde, »aber er hat von Beinen erzählt.« Die Müdigkeit lief ihr aus dem Nabel. Helen schlief.

»Helen?«

Die Stille antwortete.

Der Fahrstuhl hatte sich keinen Millimeter gerührt. Es war eng. Eng, warm, dunstig. Micha bekam keine Luft mehr. Vielleicht sollte er wieder schreien. Die Wand damit pflastern. Wenn sie wenigstens weiß gewesen wäre –

Durst. Immer Durst. Aber es war zu spät für Durst. Oder zu früh.

Mischa rüttelte Helen wach. Er hatte Haarfusseln an seiner Hose, als er vor ihr kniete.

»Helen!«

Sie trug Blässe vor sich her.

»Es ist nicht mehr lang. Ich muss dir was sagen.«

Sie nickte. Schluckte ein Gähnen runter. Eine fette Nacht hatte sich in seinen Augen eingenistet.

»Justine gibt es nicht.«

Patrice war der erste, der erwachte, als der Montag einen ersten Lärm ausspuckte.

Der Hausmeister.

Schlüssel hörte er, vielleicht, dann eine Stimme, die sich selbst beantwortete. Schlurfen.

»Hilfe!«

Hilfe? – Er war müde. Der Schlaf hing ihm in Fetzen zwischen den Zähnen. Er spuckte aus. Sie lagen zusammengekauert. Vielleicht sollte er sich das Bild einprägen.

Die Sonne hatte sich noch nicht entschieden, aufzustehen, er auch nicht.

»Hilfe!«

Der Schluss, dachte er, ist nicht einmal wichtig. Und sah noch ein letztes Mal in Josephs Gesicht.

Da lag Fieber wie Blässe. Da lagen Flecken, die ihn alt werden ließen. Oder er war alt. Es machte keinen Unterschied.

Evilyn ließ sich von ihren Tränen nässen. Sie stieg nach Mischa aus der geöffneten Tür. Man gab ihnen zu trinken. Mischa schwieg.

Joseph wurde von Patrice nach draußen gebracht. Er war ohnmächtig. Es fehlte Flüssigkeit. Das Fieber hatte seine Augen zu roten Murmeln gemacht, die Helen an Kinderspiele erinnerten. Aber für Kinderspiele war keine Zeit gewesen.

Zum Leben und Sterben gezwungen werden, dachte Patrice. Vielleicht hatte es damit zu tun. Er bemerkte, dass er sein Hemd falsch zugeknöpft hatte.

Das Haar schlängelte sich in der Mitte des Fahrstuhles. Schwarzes, glänzendes Haar. Patrice musste lächeln. Er ertappte sich dabei, ein Foto machen zu wollen.

Helen stand zuletzt auf.

Ein beschränktes Leben hätte ihr vieles einfacher gemacht.

Sie mochte keine unfertigen Bilder. Also stellte sie sich unter der Sonne, die ihr Kreise ins Gesicht malte, das Ende der Geschichte vor. Vielleicht würde Evilyn in einem Bordell arbeiten, später. Sich wohl fühlen. Vielleicht auch nicht. Vielleicht würde sie sich ein Jahr später von einem Hochhaus stürzen, weil ihre Busen unter zu vielen Händen zu Marzipan geworden waren.

Mischa würde sich einer psychiatrischen Behandlung unterziehen, um Justines Gesicht loszuwerden. Statt dessen würde er vielleicht von Annett träumen, die Augen wie Kerzenflammen hatte.

Patrice würde vergessen, er würde mit dem Bier in der Hand einschlafen, jeden Tag, so lange, bis es kein Bier mehr gab. Oder keine Tage.

Joseph würde träumen. Irgendwann nach Afrika auswandern. Mit seiner Ehefrau eine Löwin großziehen. Und vielleicht hin und wieder fiebern. Wenn die Temperatur 42° überstieg, war man tot.

Und sie selbst?

Ein Fahrstuhl würde stecken bleiben, lächeln würde sie.

Und die Haare noch kürzer schneiden.

Locken vielleicht. Viel Locken.