Markus Grundtner (16) 1. Preis
Ohne Titel
am Horizont werden verschwommene Schatten zu Linien, die sich in Punkte verwandeln und schließlich verschwinden.
Zwar erkenne ich Hast und Überstürztheit ihrer Bewegungen, aber ich will nicht darüber nachdenken, wovor sie flüchten. Mich geht das ja nichts an. Außerdem habe ich größere Sorgen.
An einem ganz normalen Sommerabend bin ich gestrandet. Gestrandet auf der Verkehrsinsel. Eingeschlossen von drei Kindern, die um mich herum radeln. Einem herzhaften Biss auf meine Selbstmordkapsel nahe. Nachdem ich mir meine Zähne in die Zunge gerammt habe, ziehe ich mich aber besser ins Landesinnere zurück. Hunderte von Eingeborenen, rote Feuerameisen, haben sich an meine Fersen geheftet.
Mir bleibt nichts anderes übrig, als das großzügige Geschenk, ein fleckiges Glas, vom Hals meiner Whiskeyflasche zu nehmen, sie zu öffnen und den Verschluss so weit wie möglich von mir wegzuwerfen. Das Zeug schmeckt grauenhafter als alles, was ich je zuvor getrunken habe. Ich brauche unbedingt mehr davon.
In stillem Einverständnis mit ihrem freien Willen fahren die Kinder genau in die Richtung, in die auch die weißen Pfeile auf den blauen Verkehrsschildern zeigen. Sie kreisen mich ein und kreuzen ständig meinen aussichtslosen Blickwinkel. Norden, Osten, Süden, Westen, wo ich auch hinsehe, steht Reihenhaus an Reihenhaus an Reihenhaus.
Luftaufnahme: Ich sitze also mitten im Auge des Fadenkreuzes.
Beinahe hätte ich schon mein Pferd gesattelt und wäre weggeritten. Das darf ich nicht riskieren. Mir ist klar, dass mir diese Kinder in den Rücken schießen werden. Daran besteht kein Zweifel. Außerdem fehlt der Western Sonnenuntergang.
Eine Frau, eine »meiner Nachbarn«, spaziert mit ihrem Hund vorbei. Alle drei Kinder beenden ihr kindisches Erwachsenenspiel, steigen von ihren Fahrrädern ab und laufen fröhlich lachend zu dem Tier.
»Wie heißt denn der?«
»Sein Name ist Otto,«
»Beißt er?«
»Nur, wenn ihr nicht artig und brav seid.«
Ich sinniere über den Namen, der rückwärts wie vorwärts gelesen völlig gleich klingt.
Darauf muss ich doch glatt einen trinken.
Schwenk: Gesicht der Hundebesitzerin. Ihre hochgezogenen Mundwinkel sinken herab, wie bei einem Clown der zwischen lustig, traurig und hysterisch hin und her schalten kann. Kaum ist mein zweites Glas geleert, schon gehts los.
»Das hab ma scho gern. Sich am helllichten Tag vor unschuldigen Kindern ansaufen!«
Reflexartig stemmt sie empört ihre Hände in ihre breiten Hüften und erwartet etwas von mir.
Nur was?
Liebe? Zärtlichkeit? Einsicht? Scham? Erleuchtung? Geld?
Errettung vor dem Bösen?
Konfliktvermeidend starre ich vor mich hin. Ich versuche, den geistreichen Ausdruck des Denkers zu kopieren. Meine entschlossene Pose verliert jedoch an intelligentem Ausdruck, was sich aber nicht ändern lässt, zumal ich langsam Schlagseite bekomme.
»Ich red mit dir! Hast du keinen Respekt vor Erwachsenen!« Trotz ihrer Stimme, die mehr und mehr einer Mikrophonrückkopplung ähnelt, bricht sie meinen passiven Widerstand nicht. Beleidigungen und Flüche murmelnd, verschwindet sie in schnellem Stechschritt mit einem Touch von Entengewatschel.
Na wunderbar! Sie hat es geschafft. Aus meinen Augenwinkeln mustere ich meine Radfahrerfreunde mit ihren hängenden Armen und offenen Mündern. Es wäre ein Leichtes, wild brüllend aufzuspringen und sie ungelenk zu verscheuchen. Aber ich bin wie zur Statue eines Schutzheiligen erstarrt, der zufällig ein Whiskeyglas an der Lippe hängen hat.
Meine Flasche wird leerer und mein Blick direkt proportional dazu immer stumpfer.
Der Prototyp an Vorstadtehefrau und Mutter taucht wieder auf und übersieht mich prahlerisch. Ihr Hund will schnüffelnd verweilen.
»Wie heißt denn der?«
»Otto.«
»Beißt er?«
»Nur, wenn ihr nicht artig und brav seid.«
»Diese Frau. Die ist doch nur eine Illusion. So einen
Menschen kann es doch gar nicht geben.«
»Was solls? Pflichten wir dem Verkehrsschild bei.
So oft spricht es auch nicht mit uns.«
»In was für einer Welt leben wir denn?«
Gerade will ich dem Schild eine Antwort geben, da hat es sich
auf einmal in einen Elfenbeinturm verwandelt.
»Mach Männchen!«
»Na los, mach Männchen!«
»Gib Pfote!«
»Ja, wieso willst du denn nicht Pfote geben?«
Auch, indem die Kinder den Hund fest streicheln, können sie
ihn nicht zum Gehorsam verleiten.
Ich höre sein Knurren. Seine Besitzerin ist derweil darauf bedacht mir zu zeigen wer von uns beiden menschlich und evolutionsmäßig auf einer höheren Stufe steht. Mit ihrer Ignoranz will sie mich bestrafen. Ohne Erfolg. Deshalb vergisst sie aber die Kinder darüber zu informieren, dass der Hund nicht einmal auf ihre Anweisungen hört, folglich auch nicht auf die eines anderen.
Er wird auf die Kinder losgehen und sich in ihre Finger verbeißen. Ich kenne diese Sorte Promenadenmischung nur allzu gut. Nach einem weiteren Schluck verkrampft sich meine rechte Hand
»Plötzlich und unerwartet, muss dazu gesagt werden,« krächzen die Geier in meinen Ohren. Ich verscheuche sie. Das sind aber keine Vögel, sondern Menschen mit angeklebten Federn, Flügeln und Schnäbeln. Schlechte Verkleidung.
das Glas zerspringt und schneidet mir blutige Furchen in meine Handfläche. Ich nehme einen großen Schluck, um den Schmerz erträglicher zu machen, und überlege mir zur Ablenkung, was ich an diesem Abend noch vorhabe zu unternehmen.
Mir fällt nichts mehr ein. Kinder haben mir mein Pferd gestohlen. Der Beweis für ihre Schuld: Es ist weg. Ein weiterer verzeichneter Bericht davon, wie jemand seiner kostbaren Phantasiegebilde beraubt wurde. Trotzdem könnte ich leicht aufstehen und verschwinden. Aber wohin? Wie gesagt, es fällt mir nichts mehr ein.
Die Kinder sehen zu mir herüber. Sie erschrecken angesichts der Leere in meinen Augen, aber ich übe doch Faszination auf einen von drei aus. Er ist immer noch interessiert mit dem Hund beschäftigt. Nichtsahnend will er etwas kontrollieren, dessen Wesen unberechenbar ist.
In solchen Momenten erinnere ich mich immer an meinen Großvater.
»Rein zufällig, versteht sich.« Diese Viecher sind ja immer noch hier.
Ich war fünf, er war fünfzig, er war tot.
Rückblende: Er lag den ganzen Vormittag über im Bett, wollte mittags die Zwerge in seinem Suppenteller erschlagen und sagte abends am Stammtisch allen, vom Pfarrer bis zum Bürgermeister, die beleidigende Meinung ins Gesicht. Er bezeichnete sie als Spießerprotagonisten eines Dorfschwanks und spielte selbst die Rolle des ungeliebten Säufers.
Er, der Familienfeind und Vater, der Atheist und Kirchgänger, verdrängte, nur das Abziehbild eines Menschen gewesen zu sein Risse durchziehen den Inselboden, verrottete Hände tasten sich an die Oberfläche
Ein Leben geführt zu haben, dessen Inhalt gerade mal für eine überdrehte Geschichte reichte Aus allen Himmelsrichtungen überfluten Wellen greller Farben die Gegend und vermischen sich mit dem rötlichen Orange, das träge vom Himmel herabrinnt. Die Verkehrsschilder/Elfenbeintürme schießen ihre Pfeile ab Was blieb ihm anderes übrig als auf ein unkompliziertes Ende zu hoffen, das keine Fragen unbeantwortet ließ Beschwerlich, jedoch zielstrebig, wanken die aus dem Untergrund hervorgebrochenen Gestalten auf mich zu
Nach seiner letzten denkwürdigen Geste
Bei dem Aufschrei des Jungen leere ich meine Flasche vollends und während sich meine Miene zitternd verzieht,
und seinem letzten bedeutungsvollen Satz
schreie ich den zwei vor dem Hund verschreckt flüchtenden Kindern hinter her: »Wo wollt ihr hin? Das ist die beste Therapie, die ihr jemals kriegen werdet.«
begreift er es aber immer noch nicht und