Susanne Gottlieb (14)

Seltsame Fügungen

Normalerweise glaubte Natalie an solche Dinge wie Kartenlegen nicht. Doch aus reiner Neugierde kam sie auf dem Rummel nicht drum herum, sich von der Tarotkartenlegerin die Zukunft voraussagen zu lassen.
Der ganze Raum war vernebelt, und seltsame orientalische Tücher hingen überall. Während Natalie noch überlegte, ob die Wahrsagerin wohl ihr ganzes Geld in diesen Kitsch investierte, betrat ein Mann den Raum.
»Entschuldigen Sie«, meinte sie verärgert, »aber ich denk wohl, ich war zuerst da!«
»Ja sicher, und jetzt sag ich dir deine Zukunft voraus.«
Verlegen biss sich Natalie auf die Lippe. »SIE? Sie sind die Wahrsagerin, äh der Wahrsager?«
Der Mann lächelte. »Ja, warum?«
»Naja, ich hab halt noch nie einen Mann dabei gesehen.«
»Es gibt ja auch fast niemanden, der diesen Job macht.«
Damit führte er sie in den hinteren Teil des Raumes, der durch einen milchigweißen Vorhang abgetrennt war. Doch was sie dahinter sah, enttäuschte sie. Sie hatte große weiche Polster erwartet und eine flimmernde Kristallkugel, doch der Raum wirkte fast steril, wären da nicht die nervigen Tücher gewesen. Es stand ein einfacher Tisch mit zwei Stühlen da, auf den Tisch schlampig hingeworfen ein Set Tarotkarten, die man in jedem Geschäft günstig kaufen konnte.
Der Mann bat sie, Platz zu nehmen. Jetzt wusste sie, woher der Rauch im Vorzimmer kam. Auf dem Tisch stand ein bis zum Rand gefüllter Aschenbecher.
»Die Zukunft«, begann der Mann mystisch, »ist ein ungeklärtes Phänomen. Ich kann dir ungefähr erzählen, was passieren wird, aber ich kann mich immer irren. Nimmst du dieses Risiko auf dich?«
Natalie winkte ungeduldig ab.
»Also gut.« Dann begann er mit der simplen Aufgabe, die Karten zu mischen und verschieden auszulegen. Er studierte sie und meinte schließlich: »Du hast Glück! Schon diese Woche triffst du deinen Traummann!«
»Ja ja, morgen treffe ich mich mit meinem Freund«, unterbrach sie ungeduldig.
Der Mann runzelte die Stirn über die Unterbrechung. Dann fuhr er fort. »Also, Schule: mittelmäßig, Privatleben: gut, Freunde: hast du genug. Alles in Ordnung mit dir, dass macht 20 Euro.«
Etwas widerwillig kramte sie das Geld heraus und gab es ihm. »Viel Glück für die Zukunft!« meinte er munter und ließ die Münzen in seiner Hand klimpern.
Sie beschloss, nie wieder zu einer Wahrsagerin, geschweige denn einem Wahrsager, zu gehen.

Kaum hatte sie sich am nächsten Tag bereit gemacht, ihren Freund zu treffen, als sie einen Anruf bekam. »Hey, Natalie, ich bin’s. Hör zu, es gibt ein großes Problem!«
»Kannst du nicht kommen?«
»Könnte schon, aber ich werd’ nicht.«
»Warum nicht?«
»Naja, weißt du. Ich hab beim Skateboarden dieses Mädchen kennen gelernt und jetzt…«
»Okay, ich versteh schon!« meinte sie wütend, »Wie heißt sie?«
»Sarah«, hörte man die verlegene Antwort.
»Na, dann viel Spaß«, sagte sie und knallte den Hörer auf die Gabel.
»Eigentlich könnte ich diesen Deppen von Wahrsager verklagen.« dachte sie.
Sie verbrachte den restlichen Tag nur mehr mit Fernsehen und wilde Verwüstungen aussprechend.

Am nächsten Tag lud sie ihre Freundin Lena ins Kino ein. Immer noch deprimiert, sagte sie zu.
»Es kommen noch mein Bruder und sein Freund mit«, meinte Lena vorsichtig.
Natalie zuckte die Schultern. »Solange es kein Mädchen ist, das Sarah heißt, ist es mir egal.« Nur bei der Nachricht, das Ben Affleck die Hauptrolle im Film spielte, verzog sie schmerzlichst das Gesicht.

Die beiden Jungs stellten sich als äußerst nette Typen heraus, uns sie redeten nicht die ganze Zeit über Fußball oder Formel eins, was sehr angenehm war. Natalie hatte ihre Augen hartnäckig auf den Freund des Bruders gerichtet. Wahrscheinlich lag es daran, dass er ihrem Ex-Freund ein bisschen ähnlich sah. Er hieß Patrick, erfuhr sie. Der Film interessierte sie nicht besonders. Ihn auch nicht. »Bist du freiwillig den Film gegangen?« fragte sie grinsend.
»Nein«, flüsterte er, »ich wurde eingeladen.« Als er ihr erstauntes Gesicht sah, fragte er überrascht: »Du etwa auch?«
Sie nickte.
»Das darf man wohl als Kupplungsversuch auffassen!« scherzte er.
Also begannen sie während des ganzen Filmes sich zu unterhalten, während ihre Freundin Lena und deren Bruder gebannt auf die Leinwand starrten.
Am Ende des Films ging sie glücklich mit seiner Handynummer nach Hause, bis ihr plötzlich auffiel, dass das genau war, was ihr der Wahrsager gesagt hatte. Schmollend, dass dieser Geldabzocker Recht gehabt hatte, blieb sie den ganzen Abend auf ihrem Zimmer und schrieb Verwünschungen in ihr Tagebuch.
Das Glück blieb ihr hold. Als sie am nächsten Tag ihre verhasste, gefürchtete Schularbeit zurückbekam, stellte es sich als Dreier heraus, etwas, was sie in Französisch schon seit zwei Jahren nicht mehr bekommen hatte. Ihr schlechter Durchschnitt war gebrochen. Doch richtig freuen konnte sie sich nicht. Der Wahrsager hatte ihr es ihr ja schon vorher erzählen müssen.
»Sei doch froh!« meinte Lena, »Dann weißt du ja, was noch auf dich zukommt!« Dabei grinste sie Natalie blöd an.
Doch Natalie war nicht zum Lachen zumute. Der Typ hatte ihr die ganze Woche versaut, indem er ihr alles Wissenswerte erzählt hatte. Also beschloss sie, ihm noch einen Besuch abzustatten, um ihm die Meinung zu sagen.

Es war noch früh am Nachmittag, als sie bei ihm ankam, und so hatte er noch keine Kundschaft. Sie kam gleich dran.
Er war überrascht, sie wieder zu sehen. »Und wie ist es mit deinem Schicksal gelaufen?« fragte er belustigt.
Natalie starrte ihn finster an. »Warum haben Sie das getan?«
»Was?«
»Mir alles zu sagen. Meine Zukunft!«
»Du wolltest es doch so!«
»Aber es war unverantwortlich von Ihnen!«
»Setzt dich!« meinte er schließlich.
Langsam ließ sich Natalie auf dem Sessel ihm gegenüber nieder.
»Glaubst du an Übernatürliches?«
Natalie schüttelte verneinend den Kopf.
»Aber du glaubst an meine Vorhersage?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Naja, ist ja alles eingetroffen…«
Er unterbrach sie. »Du musst wissen, es gibt Tricks und Kniffe, wie die Karten gelegt werden. Meiner vorletzten Kundin vor dir hab ich dieselbe Zukunft vorausgesagt. Und das alles passiert nur dann wirklich, je nachdem wie viel du hinein interpretierst. Zufall, Glück war das alles, okay?«
Natalie nickte und stand dann auf.
»Was hast du jetzt noch vor?«
»Ach«, meinte sie, »ich habe eine Verabredung mit dem Traummann, den ich diese Woche getroffen habe.«
Und damit war sie verschwunden.