Katharina Fussi (18)

Eine Flasche Rotwein

Sie mit ihm im Bett. Speichel am Kopfpolster. Ihre Hand auf seinen Körper gepresst. Seine Hand verkrampft. Blick zur Decke. Er schnarcht. Sie starrt ihn an. Bartstoppeln im Gesicht. Klüfte in seinen Lippen. Sein Mund halb geöffnet, halb trocken, halb nass. Die Backen aufgedunsen. Der Atem ruhig. Babyatem. Baby mit Bierbauch und Zigarettenträumen. Die Nacht ist keine Jungfrau mehr. Die Puppen sind zugedeckt. Die Kinder schlafen schon. Ist nicht mehr lang bis zum Tag. Schlaf, schlaf ein! Träum endlich! Morgen ist alles anders. Wirst sehen, morgen ist’s besser. Vergiss es. Er ist zu Hause. Du musst dir keine Sorgen mehr machen. Die Mädchen auf der Straße tragen ihr Make-up noch. Du kannst jetzt schlafen. Es ist vorüber. Der Schweiß wird langsam wärmer. Der Schmerz zwischen den Beinen vergeht.

Der Wecker schellt. Er wendet sich von ihr ab. Das Gesicht zur Wand gedreht. Seine Rückenhaare verklebt. Heute kommen die Nachbarn zum Kaffee. Sie steht auf. Ihre Schürze ist blutig. Sie wirft sie in den Wäschekorb und zieht ihre Bettdecke ab. Er murmelt etwas. Sie füllt den Wäschekorb auf und öffnet das Fenster.

Kleinstadtwohnung. Zwei Zimmer und ein Bad. Die Küche im Schlafraum. Die Wände in schmutzigem Weiß. Unabsichtlich gewollt. Die Leute denken, es ist eine nette Wohnung. Kleiner Garten unterm Fenster. Ein Kirschbaum für die Kinder zum Klettern und Verstecken.

Der Junge hat heuer seinen ersten Schultag gehabt. Große Schultüte mit viel Süßem. Schokolade und Kaubonbons. Ein Foto mit Superman-Schultasche. Zahnlückengrinsen. Die Mutter hält die Tränen zurück. Ihre Tochter ist schon in der Zweiten. Gute Noten, aber ein scheues Kind. Gutes Benehmen, unauffällig, brav. Zum Herzeigen, aber nicht viele Freunde.

Der Junge sitzt am Esstisch und malt Monster und Raumschiffe. Kinderfantasie. Fantasiekinder hat sie geboren. Das Mädchen sitzt neben ihm in ein Buch vertieft. Die Welt dort ist bunt. Schlaraffenland mit Honigbächen und Würstelbäumen.

Die Mutter stellt die Cornflakes auf den Tisch und setzt Kaffee auf. Kriechend sickert das Wasser durch den Filter. Blubbergeräusche und Kaffeemaschinenseufzen. Der Dampf beschlägt die Wand der Kanne. Minuten verstreichen. Die Monster und Raumschiffe sind jetzt Lastautos und Laserwaffen. Vom Bett her hört man ein Röcheln.

Das Riesenbaby ist erwacht. Es riecht den Kaffee und schlürft in die Küche. Seine Frau hat ihm bereits eingeschenkt. Sie trägt die Haare offen und lehnt gegen das Küchenfenster. Sie soll aufräumen, die Nachbarn kommen heut. Zu Mittag. So gegen eins. Kaffee, Kekse und eine nette Unterhaltung. Das genügt, dann sollen sie ihn wieder alleine lassen. Die Frau wird schon reden. Tratschweib!

Sie nimmt einen Topf aus der Abwasch. Der Reis gestern ist ihr angebrannt. Mit den Fingern kratzt sie den schwärzlichen Rest aus dem Topf. Hartnäckiges Brandgeschwulst. Dann beginnt sie das Backrohr zu putzen. Die Wohnung ist schmutzig. Kinderspielzeug am Boden. Wäsche auf den Stühlen. Vogeldreck und Bierflaschen am Fensterbrett. Am Tisch kleben Spaghetti von vorgestern. Er hat ihr den Teller zerbrochen. Zu wenig Salz auf den Nudeln. Kein Salz im Haus. Der Supermarkt geschlossen. Das Riesenbaby verärgert.

Sie putzt die Fenster, räumt die Wäsche ein, wischt den Boden auf. Nette kleine Wohnung. Die Nachbarn bekommen den Kaffee in hübschen Tassen. Hochzeitsgeschenk von seinen Eltern. Kaffeeservice aus China. Billigware, merkt aber niemand.

Zu Mittag gibt es Bratwurst mit Pommes. Lieblingsessen der Kinder. Das Mädchen hilft der Mutter beim Kochen. Heute wird ein schöner Nachmittag. Wenn die Nachbarn kommen, ist der Vater ruhig und es gibt einen ganzen Teller Kekse und Sahne zum Kakao. Die Nachbarn sind nette Leute, schon etwas älter, keine Kinder, aber feine Leut. In ihrer Wohnung: Designermöbel und ein riesengroßer Fernseher. Den dürfen ihr Bruder und sie einschalten, wann immer sie wollen. Der ist viel besser, als der Fernseher daheim. Bei den Nachbarn sind sie immer, wenn sie von der Schule nach Hause kommen und den Wohnungsschlüssel vergessen haben. Und den vergessen sie oft, den vergessen sie gerne.

Nun sitzen sie gemeinsam am Tisch; das Mädchen in seinem blauen Sonntagskleidchen, der Junge in stattlichen Hosen, die Mutter im gelben Sommerkleid, der Vater mit sauberem, weißen Hemd und ordentlichen Haaren, die Nachbarn elegant wie immer. Eine Flasche Wein als Gastgeschenk. Die Mutter will sie erst später öffnen, oder gar nicht.

Das chinesische Porzellan klingt, als die Nachbarin den Zucker in den Kaffee rührt. Sie erzählt von Urlaub, von Flugzeugen und Schiffen, von großen Städten und kleinen, romantischen Fischerdörfchen, von Schwimmen im Meer und Wandern in der Wüste. Die Mutter bekommt ganz leuchtende Augen. Die Nachbarn waren schon überall: in New York, Kairo, Lissabon, Indonesien und Johannesburg. Sie zeigen den Eltern auch Fotos von ihrem Haus auf Teneriffa. Der Nachbar fragt, wo sie denn heuer hin auf Urlaub fahren. Die Mutter sagt, sie fliegen in die Türkei und der Junge freut sich, weil er gar nicht gewusst hat, dass sie heuer auf Urlaub fliegen und weil er gar noch nie geflogen ist, weil er gedacht hat, die Eltern wollen gar nicht Urlaub machen. Aber das Mädchen weiß schon, ihren Urlaub verbringt sie heuer wieder im Schlaraffenland. Den Bruder nimmt sie mit, wenn er will.

Die Nachbarn schlagen vor, dass man gemeinsam Urlaub macht. Oslo im Juli. Aber die Mutter schlägt dankend ab, im Juli hat der Onkel die Familie nach Berlin eingeladen. Aber das stimmt nicht, die Mutter hat keinen Onkel. Notlüge. Die Reise nach Oslo ist viel zu teuer.

Dann sprechen sie über den Sohn vom Lederfabrikanten, der sich versoffen hat. Ob die Nachbarn was ahnen? Ob sie wissen, dass der Vater trinkt? Schnell wechselt die Mutter das Thema.

Ihr Mann macht keine Anzeichen, sich in die Unterhaltung einzumischen. Er meint nur kurz, seine Frau redet ja für ihn, sie kennt ihn ja schon besser als er sich selbst und legt ihr den Arm um die Schulter. Wangenkuss. Sie weicht aus und schenkt Kaffee nach. Die Nachbarn lächeln verlegen. Die Kinder blicken zu Boden. Die Mutter bietet der Nachbarin noch ein paar Kekse an. Das wären die letzten Kekse, die sie zu Hause hätten, meint der Vater. Auf halbem Weg zieht die Nachbarin die Hand zurück. Peinliche Stille. Sesselrücken. Der Vater holt sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Dann setzt er sich wieder. Noch immer Stille, Gewitterstille, bis zur Katastrophenfrage, bis der Vater den Nachbarn fragt, wie es denn in seinem Beruf mit Frauen aussieht. Mit jungen Frauen. Er verbessert sich, mit jungen und schlanken Frauen. Sie wissen schon, mit Frauen, mit denen es noch Spaß macht. Ich weiß nicht, wie Sie das meinen, antwortet der Nachbar. Na ja, entgegnet der Vater, ich dachte nur, wo es doch so viele hübsche Mädchen, so viele hübsche Sekretärinnen gibt, da könnten Sie, als Parteivorsitzender versteht sich, sich ja glatt eine aussuchen. Der Nachbar blickt ihn entrüstet an. Seine Frau kocht vor Wut. Die Mutter versinkt im Erdboden. Der Vater grinst bis über beide Ohren. Der Nachmittag ist gelaufen. Die Nachbarn verabschieden sich hastig. Wenn es Probleme gibt, solle die Mutter die Kinder zu ihnen rüberschicken. Dann fällt die Tür ins Schloss.

Endlich. Der Vater greift nach der Weinflasche, die die Nachbarn ihnen mitgebracht hatten. Die Mutter reißt ihm die Flasche aus der Hand: »Wie konntest du nur? Siehst du nicht, wie du alles kaputt machst mit deiner Sauferei!« Die Kinder zucken zusammen. Im Kinderzimmer drehen sie das Radio ganz laut auf und schließen die Tür ab. Die Mutter soll nicht so schreien. Das macht ihnen Angst.

Im Nebenzimmer hört man die Mutter weinen. Ob sie der Vater schlägt? Der Stuhl fällt um. Das Holz auf den Fliesen kracht. Dann hört man, wie Glas am Boden zersplittert. Der Vater schreit die Mutter an, sie solle verdammt noch einmal leise sein. Die Mutter wimmert, dann ist sie plötzlich still. Lange hört man keinen Laut mehr, bis der Vater zu schluchzen beginnt. Das Mädchen nimmt wahr, wie die Eingangstür ins Schloss fällt. Eine ganze Stunde verstreicht, es wartet darauf, dass irgendetwas passiert. Aber es passiert nichts. Dann bettet es den Bruder, der in seinen Armen eingeschlafen ist, auf sein Bett. Auch das Mädchen ist müde, trotzdem öffnet es vorsichtig die Tür zur Küche. Hoffentlich kommen die Eltern bald zurück. Der Tisch ist noch vom Nachmittag gedeckt. Die letzten Kekse liegen noch am Teller. Langsam geht das Mädchen um den Tisch herum. Scherben am Boden. Ein paar davon sind rot. Auch die Fliesen. Der Vater hat den Rotwein zerschlagen, denkt das Mädchen. Es muss Acht geben, dass es nicht in die Scherben tritt. Die Mutter wird sie später wegräumen.

Als der Vater nach Hause kommt, erblickt er sein Mädchen. Wo ist die Mama, fragt es. Sie kommt gleich, meint er, sie hat den Onkel auf der Straße getroffen und du weißt ja, wie die Mama ist, die weiß immer so viel zum Reden. Du bist jetzt sicher müde, nicht wahr, Anna? Das Mädchen nickt. Komm doch, sagt der Vater, setzt sich aufs Bett und zieht sein rotes Hemd ab, leg dich zu mir ins Bett!