Katharina Fussi (17)

Rotschwarze Raben

Er sah sie jede Nacht; sah ihr Gesicht, ihre großen schwarzen Augen – sonderbarer als die rotschwarzen Raben, die auf den Ästen der alten Eiche krächzten. Er sah ihre Augen, die ihm sagten, sie wüssten alles, doch in Wirklichkeit weder sagten, dass sie etwas wüssten, noch sagten, sie wüssten nichts. Im Grunde sagten sie überhaupt nichts, doch er spürte sie etwas flüstern. Vielleicht zu sich selbst, zu niemandem – waren ihre Augen niemand? Niemandsaugen? Vielleicht sprachen sie aber auch zu ihm? Nicht nur zu ihm, für ihn – etwas, was nur für ihn bestimmt war, etwas, was ihm nur seine Ohren und Augen übersetzen konnten, was für jemand anderen sinnlos, ja vielleicht sogar verrückt erscheinen mochte. Wassermädchen nannte er sie bald. Das Mädchen vom Wasser mit den Niemandsaugen.

Und als ihn eines Tages sein bester Freund fragte, ob er nicht Lust hätte, nach der Schule zu ihm zu kommen, um Fußball zu spielen, oder gemeinsam die Schulaufgaben zu erledigen, sagte er: »Nein, ich kann nicht. Ich treffe heute das Wassermädchen.«

Und als sein Freund ihn fragte, wer denn das Wassermädchen war, antwortete er, es wäre eben irgendein Mädchen. Ob es denn seine Freundin wäre? Nein, es war nicht seine Freundin. Er war nicht in sie verliebt, zumindest nicht auf die Weise verliebt, auf die er damals in Julia verliebt gewesen war, zumindest nicht auf die Weise verliebt, die ihn damals, als Julia im Waldsee ertrunken war, monatelang keinen glücklichen Gedanken fassen hatte lassen.

Wo er denn das Wassermädchen träfe, wollte sein Freund wissen. Unten am Fluss, dort wo das alte Schloss steht, antwortete er, doch schon im nächsten Moment bereute er, seinem Freund auf diese Frage geantwortet zu haben. Was, wenn sein Freund ihm nachspionierte? Wenn er ihn mit dem Wassermädchen sah? Sebastian würde ihn nicht verstehen, würde das Wassermädchen nicht verstehen. Er würde sie beide für verrückt halten. Sebastian durfte ihm nicht folgen. Er musste aufpassen, musste vorsichtig sein, musste das Wassermädchen warnen. Schon heute Nacht. Niemand durfte sie für verrückt halten.

»Ist dir auch niemand gefolgt?«, spürte er das Wassermädchen flüstern.

»Ich weiß nicht, ich bin mir nicht sicher. Wir müssen vorsichtig sein, leise sein.«

Er blickte ihr ins Gesicht; blickte ihr tief in die Augen: »Niemand darf von uns wissen.«

»Wir machen etwas Verbotenes«, spürte er das Mädchen sagen.

»Ja, nur du und ich, ich und du, man kann es drehen und wenden, wie man will, nur wir zwei wissen davon.«

»Wovon?« flüsterte das Wassermädchen.

»Von dem Verbotenen!«

»Ach ja!«

»Es ist doch verboten, oder?«, fragte er verunsichert.

»Natürlich ist es verboten. Aber vielleicht ist es ja nicht verboten, aber ich bin verboten. Ich bin ein Wassermädchen. Du siehst mich ja. Hast du noch nie daran gedacht, dass ich verboten sein könnte?«

»Nein, daran hab ich noch nie gedacht, aber jetzt, jetzt denke ich daran.«

»Und wie fühlst du dich dabei?«

»Ich weiß nicht, es ist irgendwie aufregend. Irgendwie eigenartig. Aber wenn es eigenartig ist, dann ist es wohl gewöhnlich.«

»Langweilig?« fragte das Mädchen und starrte mit ihren großen, schwarzen Niemandsaugen in das Tiefschwarz der Nacht.

»Nein, wenn es aufregend ist, dann kann es ja nicht langweilig sein. Ich fühl mich eben so wie immer!«

»Also ist es dir egal, ob du etwas Verbotenes machst, oder nicht?«, wollte das Mädchen wissen.

»Das kann ich ja nicht sagen, wenn ich nicht weiß, ob es überhaupt verboten ist, ob du verboten bist, oder beides, oder...«

»...Oder beides nicht?«

»Ja, genau, oder beides nicht!«

»Meinst du nicht, es ist unwahrscheinlich, dass beides erlaubt ist, wenn ich Angst habe, dass dir jemand gefolgt ist?«, meinte das Wassermädchen.

»Also ist es verboten. Und du weißt es.«

»Vielleicht ist es so, vielleicht aber auch nicht. Das musst du für dich selbst entscheiden.«

»Dann entscheide ich mich dafür, dass du für mich nicht verboten bist.«

»Das ist schön. Du gefällst mir!« wisperte das Mädchen.

»Du mir auch.«

»Findest du es schade, dass du mich nur am Wasser sehen kannst?«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine, fändest du es nicht schöner, wenn du mich immer sehen könntest? Zu Hause? In der Schule? Überall?«

»Aber ich habe mich dafür entschieden, dass du nur für mich nicht verboten bist. Für alle anderen und für alles andere bist du verboten. Für die Schule. Für zu Hause. Nur hier bist du erlaubt.«

»Was aber, wenn mir das egal ist? Wenn ich mich anders entschieden habe?«, sprach das Mädchen.

»Das darfst du nicht!«, antwortete er ängstlich.

»Wieso nicht?«

»Weil es verboten ist.«

»Aber du hast gerade gesagt, dass es nicht verboten ist.«

»Aber doch nur für mich nicht verboten!«

»Also werde ich überall wo du bist, bei dir sein.«

»Nein!«, rief er aus.

»Wieso nicht?«

»Weil ich es dir verbiete!«

»Aber du hast gesagt, du magst mich!«

»Nein, ich mag dich nicht!«

»Du verwirrst mich«, zischte das Mädchen.

»Doch, ich mag dich!«

»Was jetzt?«

»Ich mag dich. Nein, ich kann dich nicht leiden. Ich liebe dich! Verlass mich nicht! Ich hasse dich. Bleib bei mir. Ich brauch dich. Verschwinde! Geh weg! Lass mich in Ruh!«

Er schrie das Wassermädchen an; verlor seine Beherrschung. Ihre entspannten Züge verwandelten sich plötzlich in unendlich traurige. Ihr Gesicht, das so ruhig am Wasser schaukelte, hatte sie ihm zugewendet. Er blickte auf sie hinab. Ins Wasser. Sein Gesicht, das mit den traurigen Niemandsaugen, bettelte um Verzeihung: »Es tut mir so Leid. Ich wollte sie nicht umbringen. Ich habe sie geliebt! Ich dachte nicht, dass sie wirklich so weit hinausschwimmt.« Er sank auf die Knie. Das Wassermädchen blickte ihn verschreckt an. Ein Stein. Er hob ihn auf, holte aus und schlug damit auf die Wasseroberfläche ein. Mitten in das Gesicht des Mädchens. Sein Gesicht verzog sich im Wasser, zerstreute sich, schlug Wellen, zog Kreise, sammelte sich wieder und war wieder da. So wie vorher. Mit den erschrockenen Niemandsaugen. Er hielt dem Blick nicht mehr stand. Er wollte diese schwarzen Augen nicht mehr flüstern hören und konnte es nicht mehr ertragen, andauernd daran erinnert zu werden, was mit Julia passiert war. Er ertrug den Anblick des Wassermädchens nicht länger; sehnte sich so sehr nach Julias Augen, nach ihren sanften, tiefblauen. Er blickte ein letztes Mal auf sein Spiegelbild im Wasser und wusste, was er jetzt zu tun hatte: Das Spiegelbild vernichten, indem er in den Spiegel hinabsteigt, bis es nichts mehr zu spiegeln gibt außer die rotschwarzen Raben, die verstummt waren und doch alles wussten.