Gabór Fónyad-Joó (19)

Die Kunst von morgen

Mir war bereits beim Eintritt in dieses Gebäude etwas unwohl. Aber nun hatte ich bereits die Karte gekauft und würde mir die »Ausstellung für die Kunst von morgen« anschauen.

Im ersten Saal waren, sozusagen zum Einstimmen, Klassiker der modernen Malerei ausgestellt. Das erste Werk war an sich ein schönes Bild, wären da nur nicht überall diese grauen Flecken und roten Striche gewesen. Die gelbe Ente am rechten unteren Bildrand war wirklich liebevoll gemalt, wenn ich auch nicht verstand, weshalb sie in einer Weinflasche saß. Beim zweiten Bild hatte ich bereits Probleme: Ich wußte nicht recht, worauf ich schauen sollte. Es war nichts anderes als ein schwarzer Strich auf gelbem Hintergrund zu sehen. Darunter stand: »Konsumgesellschaft«.

Ich versuchte, die Leute zu beobachten, wie sie dieses Kunstwerk auf sich wirken ließen: Ein junger Mann mit einer schiefen Mütze auf dem Kopf und in eine lange Kutte gehüllt, wahrscheinlich ein Franzose, griff sich, während er das Bild studierte, alle zehn Sekunden an seinen spitzen Kinnbart und rief: »Oui. Oui!« und: »Mon Dieu!«. Eine Frau, bereits etwas betagt, aber gar nicht dementsprechend gekleidet, starrte überhaupt nur seit mehreren Minuten eine einzige Stelle an. Doch nicht etwa den schwarzen Strich, sondern einen beliebigen Punkt im gelben Meer. Ein anderer Herr, sein Alter nicht erkennbar, stand so nah am Gemälde, daß er fast mit der Nasenspitze ankam. Dann fuhr er mit der Nase die ganze Fläche ab. Es gab noch ein weiteres Bild, auf dem war aber lediglich ein Kaffeefleck, ein mit Klebeband befestigter Schraubenzieher und sonst nur noch ein konfuses Fleckenmuster.

Ich betrat den zweiten Raum. Hier befanden sich die Werke der größten Künstler der Gegenwart. Auf der rechten Seite stand ein Glaskäfig. In diesem lag ein Rasenmäher, ein umgedrehter und in der Mitte auseinandergesägter Eßtisch sowie ein Fußball. Dann waren noch zwei Menschen vorhanden: Der eine sah schweigend vom Rasenmäher zum Fußball, während er mit der linken Hand einen Fuß des umgedrehten Tisches streichelte. Er trug übrigens einen weißen Smoking. Der andere war vollkommen nackt und hielt ein Verlängerungskabel in der Hand. Seine Aufgabe bestand darin, von der einen Seite auf die andere zu huschen und dabei abwechselnd »Februar! – Februar!« und »Leßrüb! – Leßrüb!« zu rufen.

Ich ging weiter und stand vor einem Schild mit der Aufschrift: »Blumenverkäufer«. Ich schaute hinter das Schild, entdeckte aber nichts, ich blickte mich im Saal um und sah außer dem hinter Glas herumhuschenden Nackten und seinem Kollegen nichts, was auf einen Blumenverkäufer hätte hindeuten können. Ich schämte mich zuerst, doch dann wandte ich mich an einen Nebenstehenden und fragte vorsichtig, ob er denn glaube, daß das Kunstwerk namens »Blumenverkäufer« in Bälde gebracht werden würde.

Der Befragte fuhr mich an, daß man besser zu Hause bleiben sollte, wenn man keine Ahnung von Kunst hat, und ich solle mich folglich zum Teufel scheren.

Eine Dame, die unser Gespräch mitangehört hatte, zischte zwischen den Zähnen hervor, ob ich, Kunstbanause, der ich sei, denn nicht verstünde, daß es bei diesem Werk nicht darauf ankomme, ob da nun tatsächlich ein Kunstwerk ist oder nicht, sondern ob der Betrachter den Willen aufweist, darin einen Blumenverkäufer zu erkennen. Anscheinend würde ich das nicht tun, weshalb ich ein Ignorant und eine Gefährdung für die Kunstentwicklung sei, schloß sie und trat gegen mein Schienbein.

Unter strafenden Blicken, die mich aus dem ganzen Raum trafen (sogar der nackt Herumhuschende hielt für einen Augenblicke inne), schlich ich mich aus dem Raum.

Nun kam ich in den Saal, in dem das Werk eines Künstlers, der als der Große Meister der Zukunft gehandelt wird, ausgestellt war. Es war fast vollkommen dunkel. Um mich herum drängelten sich die Menschen, reckten ihre Hälse und stießen mich zur Seite. Sie bewegten sich alle in eine bestimmte Richtung, und ich versuchte ebenfalls dorthin zu gelangen. Dann sah ich, warum: In der Mitte des Raumes leuchtete ein schmaler roter Lichtstrahl senkrecht von der Decke. Jetzt war ich schon sehr begierig darauf, die Kunst von morgen zu erfahren. Um den Strahl herum bildeten die Menschen einen Kreis, so eng an die Sicherheitsabgrenzung gedrängt als nur möglich. Ihre Blicke waren auf den Mittelpunkt des Kreises gerichtet, und ihre Gesichter trugen einen äußerst erregten Ausdruck. Manche der Besucher konnten sich nicht mehr im Zaum halten, fielen auf die Knie und falteten ihre Hände wie zu einem Gebet Richtung Strahl zusammen. Andere wiederum ergingen sich in grellen, von gleichzeitiger Ergebenheit und Erleuchtung durchdrungenen Schreien und zerrauften sich die Haare, womit sie die Umstehenden ansteckten und ebenfalls in Hysterie versetzten. Ein älterer Mann neben mir (wahrscheinlich ein Franzose – an solchen Orten sind immer viele Franzosen anzutreffen) riß sich sogar das Hemd vom Leib, während er aus Leibeskräften brüllte. Wenn ich nicht gewußt hätte, daß ich mich in einem Museum befand, hätte ich geglaubt, man feiere eine wilde Orgie.

Endlich hatte ich es geschafft, mir eine günstige Position zu erkämpfen. Ich konnte nun auf den Boden blicken, auf dem sich im teetassengroßen Lichtkegel des roten Strahls das Werk des Meisters in voller Pracht präsentierte: Still und leblos lag eine zertretene Erdbeere auf einem runden Silbertablett.

Beim Verlassen des Museums konnte ich nicht umhin, einen Herrn (kein Franzose), von dem ich mir sicher war, daß er meinen peinlichen Auftritt vor dem »Blumenverkäufer«-Schild nicht verfolgt hatte, zu fragen, ob ihm die Ausstellung denn wirklich gefallen habe.

»Alles ist Kunst, mein Herr!«

»Alles?«

»Ja, alles, solange man es als Kunst betrachtet. Jede Handlung, jeder Gedanke, ja, sogar jeder Ansatz zu einem Gedanken ist Kunst.«

»Sie sagen also, daß alles Kunst ist?«

»Ja, mein Herr.«

Darauf nahm ich einen Balken von der Baustelle, an der wir gerade vorbeigingen, und schlug ihn bewußtlos.

Er hatte doch selber gesagt, daß jede Handlung Kunst ist. Und ich betrachtete, was ich getan hatte, durchaus als Kunst – oder zumindest tat ich es für sie.

Auf alle Fälle war mir nun wohler.