Lisa Ehetreiber (14)
Das Tier
Ein komischer Kauz meinten die einen, aber ungut nicht, nein, ein integerer Mann, nie unfreundlich, aber zurückgezogen, er hielt seinen Mund, eine Bereicherung für die Gegend eben.
Eine fast unsichtbare Gestalt sagten die meisten, er kaufte seine Zigaretten an der Ecke und verschwand wieder, leise aber lächelnd. Wie ein Geist, sein ganzes Wesen. Manchmal im Herbst hatte ich schon Angst der Wind weht ihn davon, lachte die Metzgerin.
Grau war das Viertel, wie von einer dunklen Schicht überzogen, schmutzig und fahl und verblasst, eine Welt mit einer übergestülpten Kuppe aus nebligem Dunst. Die dreckige Luft sagten die Leute, die Luft der Armut.
Aber seine Frau, die ist seltsam, eine Hure, natürlich hinter vorgehaltener Hand. Mit blondem Haar, grünstichig, vom Salzwasser im Sommer, da war sie am Meer, allein, vieldeutige Blicke nach oben, in den 5. Stock. Neiderfülltes Getuschel, wissendes Lächeln vor und hinter dem Tresen der Metzgerin, zwischen den lagernden Würsten Postkarten mit türkisblitzendem Wasser, gleißendem Sonnenlicht, funkelnd, im Sand dunkelhäutige Schönheiten, Inbegriff des Paradieses, doch das alles noch viel weiter weg als Tausende von Kilometern.
Die Hände der Metzgerin, rot und aufgedunsen wie das Fleisch,
das sie zerschnitt, in eindeutigen Posen, Missgunst auch hier,
wie überall.
Eine lange Kratzspur bildete sich auf seinem Handrücken,
der herabhängende Ast der Weide bäumte sich widerspenstig
auf und schien ihn auszulachen, leise und höhnisch. Er leckte
über seine Hand und fluchte, stolpernd hastete er weiter.
Lichtflecken tanzten über seiner Gestalt und er zog etwas
hinter sich her, halb auf seinem Arm, schleifend im kühlen
Schatten der Bäume.
Die Luft war warm und satt, streichelte seine Haut, als wollte
sie ihn locken und verführen, so süß und herb
wie der Duft der Brombeeren. Das Wasser der Au rauschte leise
vor sich hin, spielte sein Lied wie immer und die Feuchtigkeit
hing zwischen den Hainbuchen und Erlen, sodass er schwitzte, und
ihr blondes Haar klebte an ihm, kitzelte ihn zart an der Schulter.
Er sah in ihre blauen Augen, starrte in das tiefe Dunkel ihrer Pupillen und versuchte, diese Hülle, die er auf dem Arm hielt, zu durchbohren, hinter Muskeln und Haut zu kriechen und nach ihrem Innersten zu tasten, nach dem, von dem niemand wusste, wo es saß und wie es aussah. Vielleicht fand er es jetzt, nach vielen Stunden, vielleicht konnte er es jetzt berühren. Ein Tier, das ohne Krallen so stark war, zwischen all dem roten Fleisch saß und ihn auslachte und die Zähne fletschte. Vielleicht würde es lachen. Das Tier würde lachen wie kein anderes Tier.
Seine Gedanken flimmerten, Bilder tauchten auf und verschwanden
wieder. Er versuchte, einen Faden in dem Durcheinander seines
Kopfes zu finden, doch je krampfhafter er danach suchte, desto
mehr schien ihm die Vernunft aus den Fingern zu gleiten wie ein
frischer Fisch.
Vorsichtig zog er das Messer aus ihrer Brust, vorsichtig, um
das Tier nicht zu verletzen. Würde es ihn anspringen? Er
hielt sich für einem Angriff bereit, bereit um zu kämpfen.
Warmes Blut rann über seine Hand, rot und süß
und stinkend. Wo war das Tier? Hielt es sich versteckt? Würde
es in einem unvermutetem Moment attackieren?
Die Steine am Ufer waren glitschig. Bunte Blätter schwammen. Das Wasser schmerzte in seinen Füßen. Sie blickte ihn durch die honiggelbe Oberfläche an. Auf der Böschung huschte ein Tier durchs Dickicht ihre Seele?