Janine Eggenberger (17)

Die Probe

Der Abgrund öffnete sich vor seinen Augen. Ein breiter Riss ohne sichtbares Ende, den eine Laune der Natur entstehen lassen hatte, die sichtbare Folge eines Bebens, aufgerissen und unverheilt zurückgelassen.

Aaron starrte in die schwindelerregende Tiefe, fühlte sich angesichts dieser Unendlichkeit klein und unbedeutend. Wind durchkämmte sein Haar, wirbelte ihm Locken ins Gesicht. Seine Gestalt hob sich scharf vom purpurnen Abendhimmel ab, doch konnte niemand die verkrampfte Spannung seines Körpers, die Angst, die mit jedem Herzschlag durch seine Adern pochte, oder das leise Zittern bei jedem verzweifelten Atemzug bemerken.

Aaron bückte sich, nahm den vor ihm liegenden Stein und warf ihn mit einer heftigen Bewegung in den dunklen, klaffenden Mund. Gespannt verfolgte er dessen Flug, bis er ihn schliesslich aus den Augen verlor. Minutenlang horchte er, ohne einen Aufprall zu vernehmen. Keineswegs beruhigter zwang er sich, seinen Blick zum Himmel zu richten, fixierte die untergehende Sonne, deren Strahlen zu einem verwischten Farbklecks geworden waren.

Seine Augen wanderten zum Seil, das über die Schlucht gespannt war, erfassten jede Unebenheit, die kleinste Verdichtung einer Stelle. Straff bildete es eine Brücke über den unüberwindbaren Schlund, leicht zitternd im Wind.

Er spürte die Gegenwart des Mannes, bevor dieser neben ihn trat. Kurz starrten sie gemeinsam das Seil an, dann verschränkte der Mann seine Arme, ein Lächeln erschien auf seinen Lippen.

»Und, liebster Aaron, werden Sie es tun? Spazieren Sie für Ihren einzig wahren, herzensguten, ach so unschuldigen Freund über die Schlucht? Sie kennen die Bedingungen. Retten Sie sein Leben unter Einsatz des eigenen.«

Aaron blickte stur geradeaus, doch er konnte das fiese Grinsen fühlen, sah beinahe die zu spöttischen Bögen verformten Augenbrauen. Er schluckte leer. »Sie sind krank.«

Das Lachen zerriss die Stille. »Danke für das Kompliment, Aaron. Allerdings würde ich mich nicht als krank bezeichnen, mir ist bloss langweilig. Wie sagt man so schön? Reich sein ist nicht alles. Was soll ich mit meinem ganzen Geld anfangen, wenn der Spass fehlt? Die Sache hat doch für uns beide etwas Gutes. Sie retten das Leben Ihres Freundes, ich bekomme mein lang ersehntes Vergnügen. Nun liegt die Entscheidung allein bei Ihnen.«

Aaron lockerte verzweifelt seine zu Fäusten geballten Hände. Wortlos trat er auf das Seil zu, warf einen letzten Blick auf den Himmel und wagte den ersten Schritt.

Das Seil gab unter seinen Füssen leicht nach, er schwankte kurz, fand sein Gleichgewicht wieder.

Tief sog er die Luft in seine Lungen, versuchte, seine innere Ruhe zu finden. Hinter sich hörte er ein leises Lachen. Aaron spürte, wie Zorn die Angst zu verdrängen begann; heisses Blut liess seine Wangen rot werden, sein Herzschlag beschleunigte sich. Vorsichtig setzte er Fuss vor Fuss, tastete sich vorwärts, die Arme waagrecht von sich gestreckt. Mit jedem Schritt verflüchtigte sich seine Angst mehr, lockerte sich die Verspannung seiner Muskeln, während die Umgebung mit der Sonne zu verschwinden schien.

Er richtete seinen Blick auf einen fernen Punkt am Horizont und bewegte sich wandelnd fort, sich zwingend, jegliche Gedanken zu verdrängen, seinen Kopf zu leeren, die Sinne zu schärfen. Mit einigen letzten Schritten hatte er es endlich geschafft, den Abgrund zu überqueren. Vor Erleichterung begannen seine Knie zu zittern, mit blosser Willenskraft hielt er sich auf den Beinen. Die Probe war noch nicht vorbei.

Aaron atmete tief durch, versuchte seine Beherrschung zurück zu gewinnen, bevor er den Rückweg antrat. Diesmal beschritt er das Seil sicherer. Er hob den Kopf und starrte dem Mann, der ihm dies antat, direkt in die kleinen Augen.

Erneut stiegen Wut und unbeherrschtes Verlangen nach Rache in ihm auf. Er schwankte.

Keuchend schnappte er nach Atem, wedelte nervös mit seinen Armen, während seine Füsse nicht still zu stehen vermochten. Er stolperte einige Schritte vorwärts, verlor die Kontrolle. Wind presste die Kleider an seinen Körper, wehte ihm Haare in seine Augen, so dass er einen Moment lang nichts sehen konnte. Panik legte sich wie ein Netz über ihn, liess seinen Atem stocken. Ein weiterer Windstoss befreite seine Augen von der Strähne; er warf einen Blick auf das hämische Gesicht des Mannes.

Der nächste Schritt endete in der Luft. Sekundenlang tastete er nach dem Seil, suchte verzweifelt nach Halt. Dann fiel Aaron. Und während er dem Ende zuraste, hörte er über sich ein leises Lachen.