Ruth Dellinger (16)

Rachel’s Room

Sven Hadivgard ist wieder Single!, stand auf dem Zettel, der langsam, Reihe für Reihe, bis zu meinem Platz gewandert war. So gut wie jeder hatte ihn gelesen. Sven war rot bis über beide Ohren.

Selbst schuld, dachte ich. Er hätte sich eben nicht mit meiner Schwester einlassen dürfen. Ein neuer Zettel landete zu meinen Füßen. Mit einem vorsichtigen Blick auf Mrs. Peller, die mit unglaublicher Begeisterung die Namen wichtiger Charaktere aus Louisa May Alcotts ‚Little Women’ an die Tafel schrieb, beugte ich mich hinunter, hob ihn auf und faltete ihn auseinander.

Erstaunt erkannte ich Svens saubere Schrift:

Scheiße, das mit Rachel, hm? Ich weiß auch
nicht, warum, aber sie hat gestern, als wir
telefonierten, erinnerst du dich, du hast
selbst abgehoben und sie dann geholt,
einfach gesagt, Sven, tut mir leid, aber es
ist vorbei und aufgelegt. Weißt du vielleicht
ob sie was mit einem andern hat? Und wenn
nicht, könntest du dann versuchen, heraus-
zufinden, warum sie Schluss gemacht hat?
Ich mein, du bist schließlich ihre Schwester,
dir erzählt sie sowas.

Ha, dachte ich. Er nahm tatsächlich an, dass Rachel irgendjemandem irgendetwas erzählte. Offensichtlich kannte er sie noch nicht allzu lange. Ich wollte gerade zu schreiben beginnen, als eine Stimme mich aus meinen Überlegungen riss.

"Was wird denn hier so fleißig gekritzelt, Miss Clarke? Darf ich, bitte."

Mrs. Peller riss mir den Zettel aus der Hand. Als ich einen kurzen Seitenblick riskierte, sah ich, wie Sven den zu einem Revolver umfunktionierten Zeigefinger an die Schläfe setzte, abdrückte und augenblicklich starb.

"Das ist allerdings eine dumme Sache, Mr. Hadivgard. Ich würde es mal mit Blumen versuchen. Übrigens schreibt man ‚so was’ getrennt. Und jetzt wenden wir uns bitte wieder Jo und ihren Plänen zu. Also, nachdem Professor Bhaer ihr erklärt hat, dass ..."

Ich schaltete ab und kehrte erst mit dem Pausenläuten in die Realität zurück.

Sven stand bei der Tür und wartete auf mich. Gemeinsam gingen wir zu den Spinden und verstauten unser Schulzeug.

"Also? Was ist es? Ein anderer, hab ich recht? Verdammt."

"Sven, ich kann dir versichern, dass es niemand andern gibt."

"Dann weißt du, was das Problem ist?"

"Ja. Natürlich. Schließlich ist sie meine Schwester." Mann, bin ich blöd, dachte ich deprimiert. "Aber von mir wirst du nichts erfahren. Vergiss es."

"Oh." Sven klang enttäuscht. Er blieb hinter mir zurück. "Warum?"

"Du musst sie schon selbst fragen."

"Aber sie erzählt doch nie etwas!", rief er mir nach.

Ich hätte ihn seiner Dummheit wegen erwürgen können, doch ich war schon zu weit von ihm entfernt, um noch einen ernsthaften Versuch zu starten. Endlich war das Schultor in Sicht und in einer Menschenmenge entkam ich dem verhassten Ort, um mit dem Schulbus in mein wohlverdientes Wochenende zu fahren.

"Phoebe!"

Die Stimme meines Bruders übertönte den Lärm der ganzen ausgelassenen Leute, ich wandte mich in seine Richtung und sah ihn mit Rachel und Sarah neben seinem Auto stehen. Schnell war ich bei ihnen.

"Wir fahren was essen, zur Feier des Tages", meinte Joel, als wir alle im Wagen saßen.

"Was für ein besonderer Tag ist denn heute?", fragte ich ein wenig erstaunt.

"Ach, Dad ist geschäftlich nach Hartford, wir sind also mit Mum allein und dementsprechend schön wird dieses Wochenende."

Zur Untermalung seiner Worte trat Joel abwechselnd auf Gaspedal und Bremse, was bei Sarah, die vorn neben ihm saß, nervöse Zuckungen auslöste.

"Ich kann nicht, ich muss für den verdammten Test lernen", sagte sie mit unterdrückter Wut in der Stimme.

"Ich fürchte, ich hab auch keine Zeit, ich muss die ungekürzte Ausgabe von Little Women lesen und ihr wisst, wie lang ich immer brauche", seufzte ich bedauernd.

"Ach, das hab ich irgendwann gelesen, ich kann dir helfen", sagte Rachel und sah aus dem Fenster, als wären die Straßen von Concords Innenstadt völlig neu für sie. Ihre Stimme klang nach Schnupfen, was mich ein wenig verwunderte. Sie war so gut wie nie krank.

"Du hast diesen Schinken ehrlich mal freiwillig gelesen?", fragte Joel erstaunt und ignorierte mit gewissenhafter Gleichgültigkeit ein Stopschild und eine rote Ampel.

"Ja. Mir war eben fad und da ich nichts anderes zu tun hatte ... es war schrecklich. Ständig Belehrungen, wie man Gott am besten dienen und seinem Mann eine gute Frau sein kann."

"Also, das lese ich nicht. Oder doch, in Literatur bin ich heute schon schlecht aufgefallen und wir werden einen Test haben. Danke für dein Angebot, Raych, aber ich muss es selbst gelesen haben."

"Wieso bist du schlecht aufgefallen, Phoebe?" Sarah drehte sich mit gerunzelter Stirn nach mir um.

"Gott, jetzt spiel du nicht auch noch Moralapostel, Sarah. Dad hat mir gestern gereicht." Joel bog quietschend um eine Ecke.

"Ich habe einen Brief an jemanden geschrieben und wurde dabei erwischt."

"An wen?" War ihre Neugier einmal geweckt, so fand sie kein Halten mehr.

"Sven" formte ich lautlos mit den Lippen und einem warnenden Blick zu Rachel.

"Oh." Sie drehte sich wieder nach vorn, was Rachel dazu veranlasste, erstaunt aufzusehen.

"Also, dann müssen wir zu zweit was essen, Kleine", meinte Joel und setzte eine bekümmerte Miene auf.

"Ich weiß nicht, wenn ich ehrlich sein soll ist mir nicht nach Feiern zumute." Rachel schniefte ein bisschen.

"Ach, komm schon, Raych, lass mich nicht du auch noch im Stich. Über Sven kommst du schon hinweg und Dad vergisst übers Wochenende wieder alles", erklärte Joel, in dem Versuch, seine jüngste Schwester aufzubauen, ziemlich taktlos allerdings. "Wir setzen die zwei Spielverderber zu Hause ab und genehmigen uns wo einen Burger oder so."

Man sah Rachel an, dass sie auch gern Spielverderber gewesen wäre.

"Okay", seufzte sie. Eine einzelne Träne bahnte sich ganz langsam den Weg über ihre Wange zum Hals hinunter.

Nachdem ich zuhause geduscht und etwas anderes angezogen hatte, streckte ich mich auf meinem Bett aus und ackerte mich mühsam durch dreiundzwanzig Seiten. Danach dröhnte mir der Schädel von Alcotts Belehrungen und ihrem altmodischen Stil.

Ich wanderte in die Küche hinunter und richtete mir zur Stärkung ein paar Sandwichs her, als Joel und Rachel heimkamen. Die beiden spazierten mit erschreckender Zielstrebigkeit durchs Esszimmer zu mir.

"Na, wie war’s?"

"Ganz schön", meinte Rachel. Joel schien sie tatsächlich in eine bessere Stimmung gelotst zu haben, so etwas konnte er hervorragend und Raych war, obwohl fünf Jahre jünger als er, sein auserkorener Liebling, vielleicht, weil sie so widersprüchliche Charakterzüge hatten.

Joel nahm sich eines von meinen Sandwichs und ich sah mich genötigt, ihm mit einer Bratpfanne zu drohen.

"Bitte. Ich sterbe vor Hunger."

Er hob die Hände in einer flehenden Geste und versuchte gleichzeitig, abzubeißen, wohlwissend, dass ich das Sandwich dann nicht mehr mögen würde.

"Ich dachte, ihr ward essen?", fragte ich erstaunt.

"Nein, waren wir nicht", antwortete Rachel mit vollem Mund. Mein Vorrat war schon bedrohlich geschrumpft.

"Bitte? Wo ward ihr dann? Was habt ihr schon wieder angestellt?"

"Gar nichts", sagte Joel mit solcher Entrüstung, dass man ihm den Unschuldsengel fast hätte glauben können.

"Er hat mich vor Svens Haus abgesetzt und gesagt, ich solle einmal in meinem Leben den Mund aufmachen und dem armen Kerl alles erklären. Naja, es war mir schon peinlich, aber dann hab ich den Verräter beim Wort genommen und Sven alles erklärt. Er hat mir verziehen."

"Hätte mich auch gewundert, wenn er es nicht getan hätte, bei der Leidenschaft und Inbrunst, mit der du ..." Joel bekam einen nassen Fetzen ins Gesicht und verschwand für eine Weile im Bad.

"Du hast es ihm erklärt? Du? Es geschehen tatsächlich noch Wunder heutzutage." Ich übersah

absichtlich, dass Rachel den Fetzen schon wieder aufgehoben hatte und unter den laufenden Wasserhahn hielt.

Sarah erschien. Sie machte einen müden Eindruck, was sie jedoch nicht davon abhielt, sich mein letztes Sandwich zu nehmen. Eine Weile betrachtete sie es gründlich, drehte und wendete es in alle Richtungen und sagte dann: "Du solltest anfangen, dir gesunde Sachen zu machen, Phoebe. Spätestens nächstes Jahr, wenn du, wie ich jetzt, für deinen Abschluss schuftest, wirst du merken, wie wichtig Vitamine und solches Zeug sind."

Ihrer Schufterei zum Trotz würgte sie das Sandwich mit Todesverachtung hinunter.

"Und, seid ihr wieder zusammen, Raych?", fragte ich, um meine Wut ein bisschen zu dämpfen. Die Gute ließ endlich den Fetzen los und sah mit nachdenklichem Blick aus dem Fenster.

"Ich weiß nicht. Wir haben nicht darüber gesprochen, wie es weitergehen soll."

"Was? Erklärt mir mal einer, was jetzt wieder los ist?"

Ich berichtete Sarah, was ich wusste. Sie bekam so ein seltsames Stirnrunzeln und fragte nach Joels momentanem Aufenthaltsort.

"Im Bad schätze ich. Warum?"

Ohne Antwort rauschte sie nach draußen ab. Ich hörte sie rufen.

"Joel? Joel! Was fällt dir ein?"

Den Rest verstand ich nicht mehr, sie war schon zu weit weg. Rachel warf mir einen besorgten Blick zu und drehte das Wasser ab. Schnell trocknete sie ihre Hände an einem Geschirrtuch und eilte mit den Worten: "Was hat sie jetzt wieder vor?" an mir vorbei, Sarah hinterher.

Ich starrte hungrig auf den leeren Sandwichteller und verfluchte in Gedanken meine Familie.

Irgendwann, viel später, ich war schon bei Seite siebenundfünfzig, kam Sarah in mein Zimmer. Sie ließ sich auf meinem Schreibtischsessel nieder und starrte grüblerisch aus dem Fenster. Die Lichter von Concord spiegelten sich in ihren Augen. Es sah unheimlich aus.

"Glaubst du, es war klug von Joel, Rachel dazu zu ermuntern?"

Ich zuckte mit den Schultern und versuchte vergeblich, so zu tun, als würde ich lesen.

"Dad wird es nicht freuen, das zu hören."

"Er wird es nicht hören. Sarah, kannst du nicht ein Mal Moral und Gewissen vergessen und einfach nur Schwester sein? Das Problem wäre nie aufgetaucht, wenn du Dad nicht gesagt hättest, dass Rachel mit einem Norweger zusammen ist."

"Er wäre sowieso dahinter gekommen. Besser früher als später. Stell dir vor, er hätte sie bei irgendeiner Dummheit erwischt."

"Auch Rachel wird irgendwann aufhören, Dummheiten zu machen. Im Übrigen bist du in

ihren Augen mittlerweile für sie zu einer Bedrohung geworden, ist dir das klar? Und ich kann es ihr nicht verdenken."

"Ich bin keine Bedrohung, ich versuche nur, weitere Unglücke zu verhindern."

Sie sah wieder aus dem Fenster.

"Das Seltsame ist, dass die Gründe für Rachels diverse Taten immer wunderschöne Geschichten sind. Kannst du dich erinnern, wie sie mit fünf Jahren, als sie mit Mum einkaufen gewesen war und diesen Bettler gesehen hatte, einfach Brot und Milch aus dem Kühlschrank genommen hat und damit bis zum Shoppingcenter marschieren wollte? Obwohl sie gar nicht wusste, wo es lag. Wäre Joel ihr nicht begegnet, als er vom Basketballspielen heimkam, dann gäbe es sie heute vielleicht gar nicht mehr."

"Oder aber der Bettler wäre satt geworden", kommentierte ich trocken.

Sarah warf mir einen wütenden Blick zu und ging aus dem Zimmer.

Ich versuchte, weiterzulesen, doch ich konnte mich nicht konzentrieren. Irgendwann, es war etwa halbzwölf, stand ich auf, öffnete die Tür und trat auf den dunklen Gang hinaus. Hinter Joels und Sarahs Türen schimmerte es hell, bei Rachel war es finster. Vorsichtig näherte ich mich ihrem Zimmer, horchte leise. Nichts.

Plötzlich hatte ich das dringende Bedürfnis, sie mir anzusehen, diesen Abglanz des inneren Friedens auf ihrem Gesicht zu sehen, der nur Bestand hatte, solange sie schlief. Leise kam ich in ihr Zimmer, konnte jedoch in dem spärlichen Licht, das von draußen hereindrang, nichts erkennen. Ich stolperte über irgendeinen unförmigen Gegenstand und machte dabei ziemlichen Lärm. Weil sich nichts rührte, knipste ich ihre Nachtischlampe an. Sie war nicht da, das Zimmer leer, ihre Jacke fort. Das Fenster stand offen, der Wind zerrte an den Vorhängen.

Oh nein, dachte ich. Vielleicht hat Sarah doch recht.

Ich machte das Licht wieder aus, ging hinaus, schloss die Tür hinter mir und stieg die Treppe hinunter zum Schlafzimmer meiner Eltern. Da ich sah, dass auch dort noch Licht war, klopfte ich und trat ein.

Mum saß auf dem Bett. Ich blieb in der Tür stehen.

"Rachel ist weg, Mum."

"Wie meinst du, weg?"

"Ihr Zimmer ist leer, das Fenster steht offen. An diesem Rosengitter an der Wand kann sie ganz leicht und bequem hinunterklettern. Ihr solltet es abmontieren. Irgendwann bricht sie sich den Hals."

"Oder sie kommt gar nicht mehr zurück. Fängst du jetzt auch schon an, mir hinterherzuspionieren?"

Rachel trat aus dem Schatten hinter der Badezimmertür. Mir fiel plötzlich auf, dass das Fenster offen stand.

Ohoh, dachte ich noch, dann hatte ich schon ein leises "Entschuldigung" gemurmelt und war aus dem Zimmer geflohen. Wütend auf mich selbst trampelte ich die Treppe rauf.

Mann, wie kann man nur so blöd sein. Da mach ich mir Sorgen um sie und will ihr helfen und dann gebe ich ihr erst recht das Gefühl, dass ich ihr nicht vertraue und sie heimlich bespitzel. So was Dummes.

Ich hatte Sarahs Tür erreicht, klopfte an und trat ein. Sie lag in einer Flut von eng beschriebenen Zetteln auf dem Bett und sah ziemlich durcheinander aus.

"Wie kommst du mit dem Gedanken zurecht, dass Rachel dich vermutlich hasst?", fragte ich rasch, bevor sie sich hinter ihren Kissen verschanzen konnte.

"Gut, wieso? Ich ignoriere ihn."

Das erstaunte mich doch ein bisschen. Ich fegte mit einer schwungvollen Armbewegung eine Ecke des Bettes frei und ließ mich nieder.

"Für was für einen Test lernst du denn da?"

"Wahlpflichtfach Biologie, Teilbereich Somatologie, Thema Gehirn, spezieller Titel: ‚Für den Laien erkennbare Auswirkungen einer leichten Demenz der rechten Gehirnhälfte auf die linke

Körperseite’."

"Oh mein Gott, ich habe auch Biologie gewählt."

Mir wurde ganz schwindelig.

"Du hast aber nicht Miss Plum als Lehrerin. Warum hast du mich das wegen Rachel gefragt?"

"Ach, nur so. Ich wollte mich vorbereiten."

"Das klingt nicht gut. Was hast du gemacht?"

"Ich wollte sie mir beim Schlafen ansehen und ging ..."

"Beim Schlafen?"

"Ja. Ich finde, sie sieht schön aus, wenn sie schläft. So still und friedlich. Jedenfalls war sie nicht in ihrem Zimmer und das Fenster stand offen und deswegen lief ich hinunter zu Mum um ihr davon zu erzählen, bloß war Rachel auch dort, vermutlich haben sie über irgendetwas Wichtiges gesprochen und jetzt denkt sie, ich spioniere ihr hinterher. Naja, und ich kann mir gut vorstellen, dass sie nun anfängt, mich zu hassen."

"Das glaub ich nicht. Sie hat dich sehr gern, viel mehr als mich. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, das renkt sich schon wieder ein. Jetzt sei so gut und lass mich weiterlernen, ich bin eh schon hintennach."

"Okay. Gute Nacht."

"Nacht."

Zurück in meinem Zimmer schleuderte ich Alcotts vielseitigen Ergüsse an eine Wand, zog mich zum Schlafen um und legte mich ins Bett.

"Phoebe?"

Überrascht schlug ich die Augen auf. Rachel saß in T-Shirt und kurzer Hose, ihrem Schlafzeug, auf meinem Bett und sah forschend auf mich herunter. Ich drehte den Kopf und warf einen Blick auf meinen Wecker. Es war halbelf Uhr vormittags.

"Was ist denn?" fragte ich und gähnte.

"Für dich." Sie streckte mir unser schnurloses Telefon entgegen. Ich nahm es mit spitzen Fingern und sagte fragend "Hallo?" in den Hörer.

"Hi, Sam hier. Wie geht’s?"

"Ganz gut. Warum rufst du an?"

"Wollte mich nur mal erkundigen, wie’s so steht. Wärst du für eine kleine Spritztour an die Küste zu haben?"

"Sicher, immer. Wie lange denn?"

"Bis morgen, schätz ich mal. Nur wir beide. Wir könnten das Zelt mitnehmen und unten ein Boot leihen, dann schippern wir ein wenig durch die Gegend und braten uns am Abend überm Lagerfeuer selbstgefangenen Fisch. Es würde schön romantisch."

"Ja, vermutlich. Na schön, ich pack mein Zeug, wann bist du da?"

"Ich gebe dir eine Stunde, einverstanden?"

"Okay. Bye."

"Bye."

Ich reichte Rachel das Telefon und stand auf.

"Und, wohin geht’s?" Sie saß im Schneidersitz auf meinem Bett und sah mir beim Einpacken diverser Utensilien zu.

"An die Küste. Borgst du mir deinen Schlafsack?"

"Wozu? Ich wette, in Sams Schlafsack ist auch für dich noch Platz. Er freut sich sicher."

Ich warf ihr einen Blick zu, der sie dazu veranlasste, aufzuspringen und zur Tür zu gehen. Sie drehte sich noch einmal um.

"Frühstück?"

Ich schüttelte den Kopf und stopfte ein T-Shirt in meine Tasche.

"Achja, dein neuester Tick, hab ich ganz vergessen."

Rachel ist fest davon überzeugt, dass ich von einem Tick zum nächsten lebe, wie sie es ausdrückt. Momentan bilde ich mir angeblich ein, ich sei zu dick und müsste abnehmen. Wie sie auf diesen Blödsinn kommt, ist mir schleierhaft. Ich habe in der Früh einfach keinen Hunger. Eine Stunde später warf ich meine Tasche auf die Ladefläche von Sams Pick-up, winkte Mum, Rachel, Sarah und Joel, die in der Tür standen und ließ mich auf dem Beifahrersitz nie

der.

"Hi."

"Hi."

Ein ganz unspektakulärer Kuss, nur für die Zuschauer draußen, dann legte Sam den Gang ein und fuhr los. Wir hatten schließlich noch ein ganzes Wochenende füreinander Zeit.

Es war wundervoll. Der Herbst hielt Einzug, die Blätter, die auf die Straße nieder segelten, waren braunrot gefärbt, die Luft kalt und klar, auf manchen Pfützen lag bereits Eis, das knirschend brach, wenn wir darüber fuhren. Ich seufzte vor Glück. Sam sah ein wenig irritiert zu mir herüber, mein Lächeln beruhigte ihn jedoch.

"Freust du dich?"

"Ja. Es ist ganz wunderbar. Danke."

"Wir könnten die Bootfahrt auslassen und gleich unser Zelt aufschlagen, was meinst du?"

Er grinste.

Ich sah aus dem Fenster und schüttelte den Kopf. "Wir brauchen doch schließlich einen Fisch fürs Abendessen. Sei nicht so faul. Und damit du’s weißt, unter einem seefrischen Lachs tu ich’s nicht."

"Jetzt findet man aber an der Küste nicht einmal die Schwanzspitze von einem Lachs, die sind alle oben in Kanada und dahin bräuchten wir doch ein Weilchen länger. Dieses Weilchen können wir viel besser nützen. Im Übrigen fällt mir grad ein, ich hab den Köder vergessen. Shit!"

"Dann graben wir eben nach Würmern. Das nimmt dem Ganzen zwar die Romantik, aber wir haben wenigstens Übung für den Fall dass uns das Benzin für das Boot ausgeht und wir festsitzen."

Ach, hätte ich das doch niemals gesagt. Vielleicht wäre es dann nicht wahrgeworden. Aber es passierte und es wurde noch viel schlimmer als ich es mir ausgemalt hatte, weil es mitten auf hoher See geschah und wir im Ganzen einen Tag und eine Nacht in dieser Nussschale von einem Boot gefangen saßen, bis sich schließlich ein Fischer erbarmte und uns ans Festland schleppte. Von dort aus mussten wir dann elf Meilen bis zum Auto laufen, in eisiger Kälte mit unsrer ganzen Ausrüstung auf dem Rücken. Und dabei stritten wir, zuerst nur ein bisschen, wir zankten eben, aber bald wuchs es sich zu einem richtigen Krieg aus, wir schrieen beide Zeter und Mordio und warfen uns die schlimmsten Beschuldigungen und Wörter an den Kopf, ohne auf die paar Leute um uns zu achten, die mit betretenen Gesichtern aus unsrer Nähe eilten. Auf der Heimfahrt schwiegen wir uns eiskalt an.

Als wir zu unserem Haus abbogen, standen Dad, Mum und die andern drei schon bereit. Joel, Sarah und Rachel sahen entsetzt zu, wie Dad, kaum, dass wir hielten, meine Türe aufriss und außer sich vor Wut brüllte: "Raus, junge Dame!"

Ich stieg aus, holte meine Tasche von der Ladefläche und ging auf das Haus zu. Hinter mir hörte ich, wie Dad versuchte, mit Sam Streit anzufangen, doch der sagte nur: "Leben Sie wohl, Mr. Clarke. Und grüßen Sie Ihre Tochter von mir." und schoss mit quietschenden Reifen davon. Ich drängte mich zwischen dem Rest meiner Familie durch und ging auf die Treppe zu. Aus den Augenwinkeln nahm ich ihre Reaktionen wahr. Mum schüttelte traurig den Kopf, Joel schluckte und sah ziemlich betreten drein, Sarah schien unheimlich böse zu sein, auf wen war mir nicht klar und Rachel stand augenscheinlich kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Auch das wunderte mich.

Dad kam wieder rein, als ich bereits die Hälfte der Treppe hinter mir hatte.

"Phoebe."

Ich ignorierte ihn einfach und ging weiter.

"Phoebe!"

Ich hatte mein Zimmer erreicht. Er stürmte die Treppe hinauf, ich warf ihm die Tür vor der Nase zu und sperrte ab. Einen Moment lang dachte ich nach. Sollte ich böse sein oder traurig? Dann beschloss ich, den Zeitpunkt der Entscheidung zu verschieben und legte mich ins Bett. Es war so herrlich nach der kalten, nassen und unbequemen Nacht in dem Boot, wieder etwas aufzutauen und mich in die weiche Decke kuscheln zu können, dass auch mein Herz auftaute. Ich begann zu weinen, endlos lange, bis ich schließlich einschlief.

Als ich aufwachte, dröhnte mir der Kopf, in meinem Hals kratzte es ganz schauderhaft und kaum hatte ich die Augen geöffnet, musste ich niesen.

Trotzdem versuchte ich aufzustehen. Ganz vorsichtig richtete ich mich auf und schob meine Beine unter der Decke hervor. Langsam tastete ich nach dem Fußboden. Er schien sich zu bewegen, mir wurde ganz schlecht. Dann stemmte ich mich hoch, blieb einen Moment still stehen, um wieder zu Atem zu kommen und taumelte zur Tür. Ich kam noch dazu, aufzusperren, dann wurde mir schwarz vor Augen, ich begann umzukippen und griff nach etwas, woran ich mich festhalten konnte. Das erste, was ich erwischte, war leider die Türklinke.

Viel später wachte ich wieder auf, diesmal zusätzlich mit einer Beule auf der Stirn und einer am Hinterkopf, da, wo ich mit der Tür und da, wo ich mit dem Boden kollidiert war. Dafür trug ich einen Schal um den Hals, einen Wickel um die Brust, Essigpatschen an den Füßen und ein Thermometer steckte in meinem Mund.

Mum kam mit einem Tablett herein, auf dem eine Teetasse mit dampfendem Inhalt stand. Sie lud es auf dem Nachttisch ab und griff nach dem Thermometer.

"Ich mag keinen Tee, Mum", krächzte ich mühsam.

"Ich weiß, Darling. Es ist heißer Orangensaft. Hm." Sie runzelte die Stirn, als sie die Skala des Fiebermessers untersuchte, strich mir schnell über den Kopf und ging aus dem Zimmer.

Heißer Orangensaft? Wer kam auf so eine Idee?

"Und, schmeckt er dir? Bei mir hilft es immer." Rachel trat vorsichtig ins Zimmer, Sarah folgte ihr.

"Ich hab noch nicht gekostet", sagte ich ausweichend.

"Wie fühlst du dich?" Sarah ließ sich auf meinem Schreibtischsessel nieder und musterte mich besorgt.

"Naja, abgesehen davon, dass ich verbeult und zerschlagen, einsam und verlassen und ziemlich krank bin, ganz gut, danke. Warum fragst du?" Sarkasmus war die einzige Möglichkeit, meine Tränen zurückzuhalten.

Einen Augenblick lang war es still. Ich spürte, wie Rachel sich vorsichtig an das Bettende setzte und ihre Finger sich um meine Hand schlossen.

"Ich hab Dad die Meinung gesagt." Sarah holte tief Luft. "Ich hab sie ihm ins Gesicht gebrüllt und Joel und Mum haben mir geholfen. Wir ... er ist total fertig. Am Ende. Er hat einen Koffer gepackt und ist weggefahren. Mum macht sich Sorgen, aber ich glaube, er muss sich einfach ein wenig erholen. Schließlich haben wir ihn sehr überrumpelt. Ich bezweifle, dass er sich noch mal in unser Leben einmischen wird."

"Oh Gott."

Ich drehte den Kopf und verbarg mein Gesicht in den Kissen. Es war mir gleich, dass sie zuhörten, ich konnte die Tränen nicht mehr fortblinzeln und begann haltlos zu schluchzen. Nach einer Weile strich Sarahs Hand sanft über meine Haare und das machte alles noch schlimmer. Meine eigene Hand verkrampfte sich um die Rachels, bis sie vor Schmerz nach Luft schnappte. Lange blieben wir so, bis es an der Tür klopfte.

Sarah stand auf und ich ließ Rachel los. Da ich noch mit dem Gesicht in den Kissen lag, sah ich nicht, was vorging, ich kann also nur anhand der Dinge, die ich hörte, rekonstruieren, was geschah.

Die Tür wurde geöffnet, Joel kam herein und sagte: "Besuch für dich, Phoebe."

Sarah rief sehr erstaunt Svens Namen, der mit "Hi" antwortete. Sven sagt "Hi" nicht so wie wir, also "Hai", sondern mehr so: "Hej".

Rachel wollte davonlaufen, Joel hielt sie jedoch fest, nur so lässt sich folgender Wortwechsel erklären:

"Lass mich durch!"

"Du bleibst schön hier. Kneifen gilt nicht."

"Joel! Lass mich los."

Sven sagte mit ziemlich verlegener Stimme: "Ich wollte Phoebe nur ihre Schulsachen vorbeibringen. Mrs. Peller hat mich darum gebeten."

Irgendetwas fiel klirrend zu Boden und eine Weile war es ganz still. Dann folgte unheimlich viel Geraschel und Geflüster, während dem ich vor Spannung fast geplatzt wäre.

"Wie geht’s dir denn so, Phoebe?" fragte Sven nach einiger Zeit. Ich wette, Joel oder Sarah hatten ihm ein Zeichen gegeben.

"Ich hab Fieber", murmelte ich in meinen Polster.

Sie redeten, ich verstand aber nichts, dann sagte Sven laut "Ach so" und irgendwer zischte "Schscht!". Es klang nach Sarah.

"Also, ich leg dir dein Zeug auf den Schreibtisch. Der Test wegen "Little Women" ist übermorgen, du wirst ihn vermutlich versäumen, oder? Mrs. Peller meint, sie wird sich noch überlegen, ob du ihn nachholen musst. Ich drück dir die Daumen. Gute Besserung. Well."

"Ich bring dich runter", sagte Rachel mit seltsamer Stimme. Ich hatte gar nicht gewusst, dass sie noch da war.

Ich wartete noch einen Moment, dann drehte ich mich um. Keiner mehr da. Ich versuchte herauszufinden, was sie die ganze Zeit gemacht hatten, doch es gab keinerlei Spuren. Dann hörte ich Dads Wagen in der Einfahrt.

Ich wusste genau, was Rachel und Sven gerade in diesem Augenblick in der Eingangshalle taten und ich glaubte auch zu wissen, was geschehen würde, wenn Dad hereinkam. Doch obwohl ich lange wartete, drang kein Geschrei und auch sonst kein Lärm von unten herauf. Es schien mir eine Ewigkeit zu sein, während der ich ungläubig im Bett lag und mir das Hirn zermarterte auf der Suche nach einer logischen Erklärung.

Ein Klopfen an der Tür unterbrach mich in meiner Arbeit. Dad trat ein, das Telefon in der Hand.

"Wir essen gleich zu Abend. Du kannst nicht aufstehen, oder?"

Ich schüttelte den Kopf.

"Rachels Norweger isst mit uns."

"Sei nett zu ihm, Dad."

"Sicher. Ich hab ihn schließlich eingeladen. Wenn er mich nur nicht ansieht mit seinem Röntgenblick."

"Er hat bloß sehr blaue Augen, Dad. Ich finde sie schön."

Dad drohte mir mit dem Zeigefinger.

"Jetzt gehört er schon Rachel. Hier, für dich."

Er gab mir das Telefon und ging hinaus. Ich starrte ihm fassungslos nach. Schließlich erinnerte ich mich wieder an das Telefon.

"Hallo?"

"Hi, Phoebe. Wie ich höre, bist du krank."

"Hi, Sam. Ziemlich sogar."

"Hm. Das ist wohl meine Schuld. Ich hätte dir im Boot meine Jacke anbieten sollen."

"Dann wärst du aber erfroren und ich hätte die ganzen Sachen alleine zum Auto tragen müssen und mir dabei den Rücken ruiniert."

"Stimmt. Warum hast du deinen Schlafsack nicht mitgenommen? Ein Schlafsack reicht nicht für zwei Leute, vor allem nicht in einem nassen, kalten Boot."

"Ja. Tut mir leid. Ich muss wohl vergessen haben, ihn einzupacken."

"Schon okay. Hoffentlich wirst du bald wieder gesund."

"Hoffentlich."

"Wir könnten dann ja einen Ausflug nach Kanada machen. Dort fischt man Lachs, ohne in ein Boot zu steigen."

"Gerne. Wenn wir Sven und Rachel mitnehmen, fangen wir sicher mehr, Sven kennt sich da aus."

"Einverstanden. Ich pack noch die Gitarre und einen zweiten Schlafsack ein. Nimm vielleicht

ein paar Marshmallows mit."

"Vielleicht."

"Okay. Sarah und Joel kämen sicher auch gern mit."

"Sicher."

"Na dann wäre ja alles geklärt. Oder würdest du lieber allein fahren?"

"Nein, ich glaube, vorerst sind mir die vielen Leute schon recht. Lass uns mit dem Alleinwegfahren noch ein Weilchen warten."

"Klar. Wenn dir das lieber ist. Also dann, gute Besserung. Ich ruf dich wieder an."

"Bye."

Ich legte auf.

Die Tür öffnete sich, Sarah und Joel kamen herein.

"Hallo. Wir fahren ein bisschen weg, den neuen Dad feiern und so."

"Ja. Viel Spaß."

"Willst du gar nicht wissen, was passiert ist?"

Ich versuchte, mich zurückzuhalten, doch dann platzte die Neugier aus mir heraus.

"Doch. Fangt schon an."

"Sarah soll erzählen, die hat schließlich gelauscht."

"Du hast gelauscht?!"

"Gar nicht. Ich bin zufällig vorbeigekommen."

Joel und ich grinsten. Sarahs zufälliges Vorbeikommen kannten wir schon.

"Jedenfalls standen Rachel und Sven unten an der Treppe und ... ihr wisst schon ... dann kam Dad rein und starrte sie an. Sie hörten natürlich gleich auf, Dad sagte `Na, wenigstens hat er schwarze Haare´ ..."

"Was, das hat er gesagt?"

"Ja. Und Sven drauf, ganz lässig, `Howdy, Mister. Außerdem kann ich die amerikanische Hymne, in meiner Freizeit spiele ich leidenschaftlich gern Basketball und Baseball und Hamburger aller Art sind mein Leibgericht.´ Dad starrte ihn ziemlich perplex an, dann sagte er `Na, wenn Sie schon so an meiner Tochter hängen´ und das meinte er nicht bildlich gesprochen `dann könnten Sie uns doch die Ehre geben und mit uns zu Abend speisen.´ Und Sven ließ Rachel los, knallte die Hacken zusammen und salutierte. `Sir, yes, sir. Liebend gern, sir.´ Ich dachte, ich spinne, aber Dad nickte nur und ging Richtung Schlafzimmer. Und Rachel sah aus, als wäre sie einem Herzinfarkt nahe, ganz blass und zittrig. Sie hat sich aber schnell wieder erholt. Sven war so klug, Dad beim Abendessen nicht dauernd anzublinzeln. Diese blauen Augen können einen ja schrecklich aufregen, wenn man sie nicht gewohnt ist."

Ich lag in meinem Bett und war völlig fertig. Das konnte doch nicht unser Dad sein.

"Und jetzt?"

"Sind sie in Rachels Zimmer. Und Mum und Dad sind zusammen weggefahren. Bis Ende der Woche wollen sie wieder da sein. Mum hat sich Sorgen gemacht, ob sie dich einfach so allein lassen kann, aber wir haben gemeint, wir versorgen dich. Na ja, und jetzt müssen wir erst mal feiern. Wir bringen was mit, okay?"

"Ja. Viel Spaß."

Die beiden verschwanden und ließen mich äußerst verwirrt zurück. Um mich ein wenig abzulenken, begann ich Taschentücher einzusammeln und in den Mistkübel zu werfen. Dabei stieß ich auf ein zusammengeknülltes Papierkügelchen.

Sven Hadivgard ist wieder Single, stand darauf.

Ja, haha, wer sich vom Gegenteil überzeugen will, braucht nur in Rachels Zimmer zu sehen.