Ruth Dellinger (16)

Schweigen

Er hatte Zeit seines Lebens nicht sehr viel gesprochen. Doch als er etwa zehn Jahre alt war und sein Bruder starb, gab er es ganz auf und verbrachte fortan sein Leben in Schweigen. Damit trotzte er auch den vielen Spezialisten, die sein Fall zu interessieren begann, und die mit den verschiedensten Medikamenten und Therapien versuchten, Worte aus ihm herauszuzwingen.

Obwohl er schwieg, ging er ganz normal zur Schule. Eines Tages kam ein Mädchen in seine Klasse, das war neu in der Stadt. Es setzte sich neben ihn, weil dort der einzige freie Platz im Raum war.

»Hallo«, sagte es leise. Er nickte zurück.

Während der Stunde blieb das Mädchen ruhig, folgte den Ausführungen des Lehrers, kritzelte Notizen.

Schön still ist sie, dachte er.

Dann kam die Pause.

»Hallo, ihr alle zusammen, ich heiße Susanne, bitte nennt mich nicht Susi, wir sind erst vor drei Tagen hergezogen. Toll ist es hier, das Bild, das ihr dort hängen habt, gefällt mir gut. Darf ich mir von euch Unterlagen ausleihen zum Nachschreiben, der Lehrer ist richtig cool,…«

Er schwieg, war entsetzt. Solch einen Redeschwall hatte er in seinem Leben noch nicht vernommen, alles kunterbunt durcheinander gewürfelt, Satz zusammenhanglos an Satz gereiht.

Irgendwann läutete es zur nächsten Stunde. Sie setzte sich wieder neben ihn. Bloß nicht, dachte er.

Mitten im Lösen eines Mathematikbeispiels störte ihn ein Zettel, den sie ihm zuschob.

»Ich bin immer so. Schrecklich, oder? Kaum mache ich den Mund auf, kommen dumme Sachen raus.«

»Ja. Schrecklich.«, schrieb er auf die Rückseite des Zettels und reichte ihn ihr zurück. Sie las und schwieg.

In der nächsten Pause redete sie wieder, und die Leute scharten sich um sie.

»Ich rede nie«, schrieb er ihr in der darauffolgenden Unterrichtsstunde als Friedensangebot.

»Ich weiß«, kam es prompt zurück. Und dann noch ein Zettel. »Hilfst du mir beim Stillsein, beim Schweigen?«

Er dachte nach. Sollte er seine Stille, sein Schweigen für das ihre aufgeben?

»Vielleicht«, schrieb er. »Wenn wir gemeinsam schweigen.«

 

 

Blau
und ein bißchen verbogen
hängt eine Kinderschaukel
verlassen im Regen.

 

Seefarben

Grau ist der See,
schlafend die Wellen.
Aufkommender Wind,
jagt Wolken.

Schwarz ist der See,
tosend, reißend
brechen die Wellen,
gleich gierigen Zungen.

Blau ist der See,
munter die Wellen.
Reingewaschen vom Sturm
die neu erwachte Welt.