Malte Borsdorf (20)

Pflegeheim

I.

Jonathan hasste die Alten, ihre waschlappenartigen Fettablagerungen, knochigen Hüften. Er war Pfleger und vermied es, mit ihnen zu tun zu haben. Doch eines Tages sah er eine alte Frau. Sie war auf dem Weg zum Speisesaal zu Boden gefallen. Wie sie so vor ihm lag, wirkte sie sehr zerbrechlich und beinah anmutig. Jonathan setzte sie auf. Sie war sehr aufgeregt, plapperte schnell auf ihn ein. Meinte, sie sei gestürzt, die Beine zusammengeknickt, »einfach so«. Jonathan beruhigte sie, indem er ihr Haar glattstrich.

Danach brachte er sie in den Speisesaal und blieb bei ihr, während sie aß. Sie sprach sehr lebhaft, erzählte von sich. Ihr Name war Margit, und sie lebte seit mehreren Jahren in diesem Heim. Jonathan mochte ihre rauhe Stimme.

In den folgenden Wochen suchte Jonathan Margits Zimmer an den Nachmittagen auf, wenn er nicht zu arbeiten hatte. Sie hörten dann aus Jonathans Walkman Musik. Carl Orffs »Carmina Burana«. Die Stimmen des Chors brandeten auf, wenn Jonathan und Margit es nicht vermuteten. Sie lachte dann inmitten der Klangwelt auf. Ihre Stimme war rein, wenn sie lachte.

Doch eines Mittags war Margit fort. Er sah sie mehrere Wochen nicht. Die Pfleger, die er nach ihr ausfragte, konnten ihm nicht sagen, wo sie sei. Als sie wiederkam, führten mehrere Schläuche aus ihrem Körper, und sie wurde in ein anderes Zimmer verlegt. Die Schläuche waren mit Maschinen verbunden, die Jonathan nicht verstand.

Sie war still geworden und sah immer auf einen imaginären Punkt. Manchmal, wenn sie ihn ansah, war er der Punkt. Das mochte er.

Andere, die wie Margit mit diesen Geräten verbunden waren, schienen nicht älter zu werden. Man sagte ihm, sie alterten unter der Haut, der äußerliche Verfallsprozess war nicht zu sehen. Sie wurden auch nicht gewaschen, lagen nur da. Ihn verwunderte das, und als er sie befühlte, merkte er, dass das Schlaffe an ihnen eine breiige Konsistenz annahm.

Als er eines Morgens Margits Zimmer reinigte, begannen die Geräte zu blinken und laut zu tönen. Entsetzt beobachtete Jonathan, dass Margits Haut bleich wurde. Ihre Glieder verkrampften sich, sie atmete flach. Doch trotz der Krämpfe und Windungen, die der alte Körper vollführte, blieben die matten Augen ruhig, als sähen sie noch immer den imaginären Punkt. Jonathan setzte sich auf ihr Bett und versuchte, sie zu beruhigen. Er hielt sie fest, um die Krämpfe zu bändigen.

»Was machen sie da?« In der Tür stand ein Arzt, den Jonathan niemals gesehen hatte.

»Die Geräte, ich will nicht, dass die ihr etwas antun.«

»Ich werde die Alte behandeln müssen. Sie können früher nach Hause gehen, heute.« Er drängte Jonathan auf den Gang und schloss die Tür.

Da kurz nach dem Vorfall sein Dienstplan geändert wurde, und er nicht mehr in diesem Teil des Hauses zu arbeiten hatte, bekam Jonathan in den nächsten Wochen Margit nicht zu sehen.

Doch er musste immerzu an sie denken, konnte nachts nicht schlafen. In den Arbeitspausen drückte er sich vor dem Zimmer herum, in dem sie zuletzt gelegen hatte, oder erkundigte sich bei den Pflegern nach dem Arzt. Sie wussten nichts.

 

II.

Zuletzt hatte Margit in der Vollpflegestation gelegen, im Westflügel des Hauses. Dieser Bereich schien großteils leerzustehen. Manche Stockwerke wurden vom normalen Personal nicht betreten. Jonathan meinte, dass sich Margit immer noch in jenem Teil des Hauses befand. Er wollte nicht glauben, dass sie tot war. Nach Dienstschluss ging er in den Westflügel und versuchte herauszufinden, wo Margit war.

Nach einigen Wochen hatte er wieder im Westflügel zu arbeiten, musste die Gänge und leerstehende Pflegezimmer reinigen. Hier sah er den Arzt erneut. Jonathan beobachtete ihn, wie er einen weiteren Patienten in den Lift schob und in ein Stockwerk fuhr, das offiziell leer stand.

In den folgenden Tagen lauerte Jonathan dem Arzt auf, schlich durch das Haus und versteckte sich hinter Türen.

Jonathan blieb nun immer im Heim, auch nachts. Er verbarg sich vor den Sicherheitsbeamten, die im Gebäude patrouillierten, und hielt sich wach. Bei jedem Geräusch versuchte er herauszufinden, was es war.

Anhand der Hautfärbung und der Flachheit des Atems erkannte er, bei welchen Senioren auf dieser Station der Zustand kritisch zu sein schien. An sie hielt er sich, und es funktionierte: Eines Tages begannen bei einem dieser Patienten die Geräte zu rumoren. An manchen Stellen leuchteten sie in grellen Farben auf, und ein kleines Display meldete in rasantem Tempo verschiedene Nachrichten.

Jonathan nutzte die Gelegenheit und verkroch sich im Rahmen des Bettes, unter der Matratze. Die Ärzte würden ihn dahin bringen, wo er wollte.

 

III.

Das Krankenbett wurde aus dem Lift geschoben. In einem günstigen Augenblick kroch Jonathan aus seinem Versteck.

Von den Bildschirmen ausgehend, besah er den ganzen Raum. Metallregale standen an den Wänden. In ihnen befanden sich mehrere Prozessoren und Monitore, die in einem komplexen Kabelsystem miteinander verdrahtet waren. Gemeinsam schienen sie ein Netzwerk zu bilden, dessen Sinn Jonathan verborgen blieb.

Im hinteren Teil des Raumes bildeten die Regale enge Korridore, durch die er sich zwängte und an eine massive Metalltür gelangte, unter der die Verbindungsleitungen der Hardware hindurchführten. Jonathan versuchte mit aller Kraft, die Tür aufzustemmen, doch der Raum, der ihm zwischen Tür und Regalmauer blieb, war so klein, dass er kaum Schwung bekam. Mit dem Gewicht seines gesamten Körpers stemmte er sich gegen die Tür, bis sie nachgab und er zu Boden fiel. Jemand zerrte ihn dann ins Innere des Raumes und stieß ihn hart auf ein Metallbett.

»Da sind Sie nun.« Die Stimme des Fremden klang herausfordernd.

»Was ist das hier?« Jonathan schwitzte. Er blickte den Raum hinunter. Es war ein langgezogener Saal. Beide Seiten bestanden aus Bettreihen. Insgesamt mochten sich hier ungefähr fünfzig Betten befinden.

Der Boden war hier ein Kabel- und Schlauchmeer, über das dünne Stege führten.

»Wir haben Sie erwartet.«

»Das verstehe ich nicht.« Erst jetzt bemerkte Jonathan, dass der Mann der Arzt war, der Margit damals mitgenommen hatte.

»Dachten Sie ernsthaft, wir hätten nicht bemerkt, dass Sie nach Ihrer Freundin suchen?« sagte er spöttisch.

Jonathan wusste, dass es um Margit ging. Sie musste sich hier befinden, in diesem Raum.

»Kommen Sie«, sagte der Fremde, »ich werde Ihnen vorher noch alles erklären.«

Sie gingen die Metallstege entlang, der Arzt vorraus. Auf den Betten lagen dünne Leiber alter Menschen, die mit Kabeln und Schläuchen verwachsen waren.

»Was passiert mit ihnen?« fragte Jonathan.

»Sie erleben das Chaos.«

»Wie?«

»In ihrem Kopf, da ist eine Software, die ermöglicht es ihnen, miteinander zu verschmelzen. Was Sie bei Ihrer Freundin gesehen haben, wie hieß sie doch gleich«, der Mann ging an eine Konsole und begann auf eine schmale Tastatur zu tippen.

»Margit!« sagte Jonathan erregt.

»Genau. Was Sie bei der gesehen haben, war nur die Vorbereitungszeit. Der Körper muss sich an die Elektronik gewöhnen, da sie wächst.« Der Mann hielt an manchen Betten inne, um die Wesen zu begutachten, die in ihnen lagen. Ihre Gesichter waren ausgemergelt.

»Der Körper wird durch gezielte Eingriffe von der Elektronik durchwachsen. Sie speist ihn gleichzeitig mit Energie, verstehen Sie mich?«

Jonathan verstand nicht. Es erschien ihm alles bizarr.

Einige Betten weiter lag Margit. Jonathan stürzte auf sie zu, umarmte sie.

Ihr Körper war matt, man hatte ihre Haare kurzrasiert. Sie strahlte keine Wärme mehr aus und reagierte nicht auf ihn.

»Die Komplikationen dürften bei einem jungen Menschen, wie Ihnen, nur minimal sein, glauben Sie mir.« Der Arzt stand ihm nun gegenüber. In seiner Hand blitzte kurz etwas, und Jonathan fühlte Schmerz in seinem Unterarm.

Er wurde wütend und sprang auf den Anderen zu. Der schien jedoch über enorme Kräfte zu verfügen. Jonathan fühlte, dass es im Unterarm zu kribbeln begann. Der Arzt drückte ihn mit seinem Körpergewicht zu Boden und hielt ihm die Handgelenke fest. Er versuchte, Jonathan festzubinden. Jonathan wälzte, seine gesamte Kraft noch einmal zusammennehmend, den Arzt vom Steg. Dieser prallte auf die Verstrebungen, die die Kabel sichern sollten. Aus seinem Rücken trat Blut, vermischte sich mit den Schnittstellen, sodass der Strom direkt in den Körper des Arztes fuhr. Funken stoben aus den Computern.

Jonathan sprang auf seine Beine, doch aus den Kabeln, die unter dem Gittersteg lagen, kamen bereits Flammen. Der Saal wurde nur noch von den Flammen erleuchtet. Er wusste, dass ihm wenig Zeit blieb und Margit verloren war.

Doch die Eisentür war versperrt. Jonathan riss an ihr herum, versuchte sie aufzubrechen, während die Flammen seine Hose erfassten…