Thomas Bayer (16)

Der Schriftsteller

Felder, grüne Weiden und leicht abfallende Wiesen, auf denen Blumen in sattem Rot und Gelb leuchteten, waren an ihr vorüber gezogen. Die Stadt war ein gutes Stück weit entfernt, denn Amelie war der Straße lange gefolgt. Die Sonne stand hoch am Himmel. Der heiße Frühlingstag wandte sich gegen Mittag. Ein frischer Wind brachte Luft von den Küsten und ließ Amelies weißes Sommerkleid flattern. Ihren Strohhut hielt sie mit ihrer linken Hand fest, damit ein kräftiger Stoß ihn nicht davontrug. Sie lächelte und freute sich über diesen herrlichen Tag. Und ihr Lachen war so ausgelassen, wie es ein Lachen eben nur sein konnte. Sie trällerte ein Lied. Bald, als das junge Mädchen wieder ein Wegstück gegangen war, beugte sie sich im Schatten eines Kastanienbaums zu einer Blume herab. Zierlich war das Pflänzchen und die weißen Blüten waren von einer Rosette umrandet. Sie pflückte es und roch daran. Summend bog sie von der Straße in den Kiesweg ab, der unter einer Kastanienallee hindurchführte.

Mr. und Mrs. Springston, die ein Appartement im zweiten Stock bewohnten, hatten wieder einmal Streit.

»Wie konnte ich so etwas wie dich bloß heiraten? Rindvieh!« fauchte Mrs. Springston.

»Dumme Kuh!« gab ihr Gatte zurück.

So ging es Tag für Tag, bis spät in die Nacht, in einem fort. Ein Teller klirrte und Henry Thompson, der Mieter von Nummer 6 im ersten Stock des Hauses, zog mit einem Bleistift einen grauen Strich. Für jeden der zwölf Teller, die in den letzten zwei Wochen auf diese Weise zu Bruch gegangen waren, hatte er solch ein Zeichen an die kreideweiße Wand neben seinem Schreibtisch gemalt.

Henry war ein dünner Kerl und von großem Wuchs – ein hageres Männlein. Seine Wohnung lag unter der der Eheleute. Das Mietshaus lag in der Edgehard Road. Es war ein schäbiger, alter Bau aus Backstein. Halbzugezogene, graue Leintücher vor dem Fenster ließen das Tageslicht nur durch einen Spalt in Henrys Einzimmerwohnung.

Es war warm, und Zigarettenqualm hing schwer in der Luft. Langsam zog er sich in Kringeln und Schleifen zur braunen Decke hinauf. Die Holzdielen des Fußbodens knarrten, als Henry, grübelnd und rauchend, auf und ab ging. Es war ein Loch. Der junge Mann, er war nicht älter als 30, hasste es, doch konnte er sich nichts Besseres leisten. Er war ein mittelloser Schriftsteller und versuchte krampfhaft, seinen ersten Roman zu Papier zu bringen.

Sein Kopf schmerzte. Er warf die Kippe auf den Boden und trat sie aus. Dann verließ er Nummer 6 und trat hinaus auf den Gang.

An den Wänden hatten sich, wegen eines Rohrbruches vor einigen Monaten, Schimmelknollen gebildet.

Henry wartete. Die einzige Toilette der Etage war besetzt. Schließlich kam Louise Timer, Mutter von drei Kindern und Nachbarin, heraus. Sie grüßte freundlich. Henry mochte sie. Immer war sie höflich ihm gegenüber gewesen und sie kümmerte sich, so gut es ihre finanziellen Mittel erlaubten, um Brad, Tim und Lisa. Der Vater war mit einer Professionellen durchgebrannt und hatte seine Familie zurück gelassen. Louise verschwand in Nummer 7. Die kleine Lisa spähte heraus auf den Flur und winkte Henry zu.

Es war Abend geworden. Der Schriftsteller saß an seinem Schreibtisch und zerknüllte wütend ein halbbeschriebenes Blatt Papier.

»Verflucht!« schimpfte er und warf es zu Boden.

Amelie schlenderte an der Mauer des Jefferson-Anwesens entlang. Hoch und verzweigt wuchsen Hecken dahinter. Der Wind wehte nicht mehr, und Amelies blondes Haar fiel auf ihre Schultern herab. Unter den Bäumen der Allee war es kühl und schattig. Lilienweiß war Amelies Haut und blass ihr Mund. Braune Augen hatte sie. Neugierig versuchte das Mädchen über die Mauer zu spähen.

Viel wurde in der Stadt über Sir Harry Jefferson, den Besitzer des Anwesens, gemunkelt. Sehr wohlhabend und gutaussehend sollte er sein, nur sehr schüchtern, gar menschenscheu. Drei Mal die Woche schickte er seinen Diener in die Stadt, um Lebensmittel einzukaufen. An seinen Auftragslisten konnte man seinen exquisiten Geschmack erahnen: Erlesen Weine aus Frankreich, Räucherlachs, italienische, eingelegte Oliven, Käse, auch aus Frankreich und der Schweiz, und so weiter. So setzte sich die Liste fort. Teuer war Speis und Trank, doch als reicher Erbe konnte er sich einen mehr als beschaulichen Lebensstil wohl gönnen.

Schatten krochen über die Fassade des Mietshauses. Es wurde eine finstere Neumondnacht. Den Strom konnte Henry nicht bezahlen, also zündete er Kerzen an. Das matte Licht beschien die kahlen Wände des Zimmers. Klein sah er jetzt aus, müde und krank. Schwarze Ringe zogen sich halbmondförmig unter seinen Augen. Sie tränten vom Qualm und Schleierdunst. Er hustete. Langsam lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und ließ den Kopf über die Lehne kippen. Sein schulterlanges, dunkelbraunes Haar fiel zurück. Mit den kleinen, grünen Augen stierte er zur Decke, so, als wollte er dort eine Idee für seinen Roman finden. Er raufte sich das Haar und fluchte. Sein Kopfweh wurde nur schmerzlicher.

Über ihm hatten Mr. und Mrs. Springston erneut begonnen, sich zu zanken. Teller 13 flog und war hinüber. Oft fragte sich Henry Thompson, ob Mrs. Springston je ihren Mann mit einem der Geschosse getroffen hatte. Endlich wurde es ruhig. Henry nahm seinen Stift zur Hand und drückte die Spitze auf ein neues Blatt.

»Jetzt strengen Sie sich an, Mr. Thompson. Schreiben Sie!« dachte er. Viel Mut machte ihm das nicht. Seine Hoffnungen erstarben, je ein Schriftsteller zu werden.

Henry fühlte sich elend. Die Gedanken, die er soeben gefasst hatte, verschwammen, bevor er sie noch aufschreiben hätte können. Unkonzentriert, frustriert kauerte er vor dem Tisch. Er stützte sich mit den Ellenbogen gegen die abgenutzte Platte ab. Seinen Stift hielt er fest umklammert zwischen den schwarzen Fingernägeln.

Der weißgestrichene Zaun an der Hinterseite der Jefferson-Villa war aus Metall. Kalt fühlte er sich an, als Amelie ihn berührte. Dahinter lag ein großer Garten. Das Herrenhaus konnte sie nicht erblicken, dafür Sträucher von Flieder und Rosenhecken – Rote, weiße, gelbe Blüten auf grünem Blattwerk. Von Quarzsteinwegen durchzogene Beete waren sorgsam angelegt worden. Basilikum, Salbei, Kamille, Petersilie und andere Gewürz- und Heilkräuter wuchsen dort. Ihr Aroma stieg über den Zaun zu Amelie herüber. Sie roch und genoss.

Hinter einer zwei Meter hohen Weißdornhecke trat ein Mann hervor. Jung sah er aus. Schulterlang und braun war sein Haar. Seine Kleidung war edel und von exzellentem Geschmack: Ein Anzug aus Samt, das Halstuch aus gelber Seide, die Schuhe aus Leder und Lack. Stolz schritt er durch den Garten. Amelie beobachtete ihn genau. Plötzlich blieb er stehen und erblickte die junge Frau am Gartenzaun. Amelie lächelte ihn vergnügt an und winkte ihm.

»Ashfield!« rief der Mann durch die blühende Anlage. Seinem Ruf folgte ein älterer Herr in schwarzem Anzug. Er trug weiße Handschuh und tat sehr zurückhaltend.

»Sie wünschen, Sir Jefferson?« entgegnete der grauhaarige Butler.

»Sehen Sie nur, dort am Zaun!« sprach Harry, »Kennen Sie dieses bezaubernde Fräulein?«

»Nein, Sir. Ich sehe sie zum ersten Mal.«

»Dann wollen wir nicht unhöflich erscheinen. Bitte Sie sie herein. Schnell, beeilen Sie sich, bevor sie für immer aus meinem Leben schreitet.«

»Sehr wohl, Sir.«

Der Butler verschwand. Harry beobachtete Amelie. Mit seinem Blick hing er an ihr fest. Dann sah er Ashfield außerhalb des Grundstücks erscheinen und die Besucherin in Richtung des Haupttors geleiten.

»Wunderschön«, flüsterte der Besitzer des Anwesens. Er betastete seine roten Lippen, erstaunt und verwirrt, da er nicht wusste, ob er das soeben nur gedacht oder auch ausgesprochen hatte.

Der Gitterrost des Messingbettes quietschte. Henry hatte sein Hemd und seine Schuhe ausgezogen und war ins Bett gekippt. Die Matratze war unbequem. Das Bettzeug roch nach Schweiß. Wie tot lag er da. Die Kerzen waren heruntergebrannt. Aus Ritzen und Winkeln krabbelten Kakerlaken. Dann… Ein Lebenszeichen. Henry bewegte seine Zehen. Die kleinen Gelenke knackten. Der Schriftsteller stöhnte erschöpft. Er war allein. Nebenan schliefen Lisa, Tim, Brad und die freundliche Mutter. Aus dem oberen Stockwerk war Schnarchen zu hören. Wahrscheinlich war es Mr. Springston und seine Frau würde sich, durch den Lärm gestört, unruhig neben ihm herumwälzen. Obwohl sie tagsüber stritten, schienen sie nachts immer noch das gemeinsame Bett zu teilen.

Träume plagten ihn. Unruhig war Henry, selbst im Schlaf schien ihn das Schicksal eines traurigen Schriftstellers zu verfolgen.

Amelie sah den Rücken des Butlers. Ihre Füße traten auf den Kies.

»Wenn Sie mir bitte folgen würden«, hatte Ashfield gesagt, »Sir Jefferson wäre sehr erfreut, Madame kennen zu lernen.«

Harry Jeffersons Villa war safrangelb gestrichen worden. Der Kiesweg führte durch das Haupttor weiter bis zur Haustür. Ashfield öffnete der jungen Dame und gab ihr den Vortritt. Neugierig umherblickend, trat Amelie in das kleine Schloss.

»Wenn Sie hier einen Augenblick warten mögen. Ich werde Sie beim Herren des Hauses ankündigen.«

Seine Schritte hallten durch die Empfangshalle, über den marmorierten Boden, die zwei geschwungenen Treppen hinauf in die erste Etage. Ashfield verschwand durch eine Schiebetür zur Linken. Amelie wartete. Interessierte sah sie den Kristallluster, der hoch über ihr schwebte, an. Der Butler kam zurück und bat sie in Sir Jeffersons Arbeitszimmer.

Teppiche mit orientalischen Mustern breiteten sich zu ihren Füßen aus. Vertäfelungen aus Nussholz verkleideten die Wände. Hinter einem ausladenden Schreibtisch gähnte der Schlot eines Kamins. Die weißen Rundbogenfenster waren geöffnet. Dahinter schlossen Terrasse und Garten an.

Der Hausherr war nicht zu sehen. Amelie trat an einen Couchtisch heran. Eine Silberplatte mit belegten Broten, ein Schälchen Kaviar und eine Flasche Rosé mit zwei bäuchigen Gläsern waren angerichtet worden. Darüber senkten sich die Köpfe von Lilien.

»Wie schön, dass Sie kommen konnten.« sagte Harry. Amelie antwortete nicht. Verunsichert, dass ihm die Schöne keine Antwort gab, begann er zu stottern. Er verbeugte sich kurz und bot ihren einen Platz auf einem Diwan an. Beide schwiegen sie. Amelie ergriff die Weinflasche und füllte ihr Glas.

»So lassen Sie mich das doch machen. Was wäre ich für ein Gastgeber, wenn sich meine Besucher selbst einschenken und sich die Brote schmieren müssten.«

»Dann schenken sie mir reinen Wein ein: Ich weiß, wer Sie sind, oder für wen Sie die Leute halten mögen. Aber ich kenne den Grund nicht, warum Sie mich in ihre prachtvolle Villa einluden.«

Harry wurde rot. Er erhob sich und ging zum Schreibtisch. Amelie verfolgte ihn mit ihren Blicken und sagte schließlich: »Ich heiße Amelie.«

Sie ging ihm nach und reichte ihm ihre Hand. Verwirrt und glücklich starrte er sie an. Er war soviel Initiative von einer Frau nicht gewohnt. Ihr unbekümmertes Auftreten imponierte ihm. Selbst von sich überrascht, verbeugte er sich. Dieses Mal tief und nobel. Stolz hob er seinen Kopf, blickte ihr tief in die Augen und küsste ihre Hand. Das Mädchen, unbeeindruckt von dem Mut, den Harry für diesen sachten Handkuss aufbringen hatte müssen, entriss ihm ihre Hand. Verunsichert blieb der Hausherr zurück.

Amelie schritt durch den weißen Fensterbogen hinaus auf die Terrasse. Der letzte Zipfel ihres Sommerkleides verschwand.

Henry hatte schlecht geschlafen. Eine Matratzenfeder hatte sich die Nacht über in seinen Rücken gebohrt. Alles Herumwälzen und -wenden hatte nichts geholfen. Egal, ob er auf dem Rücken, der Seite oder dem Bauch gelegen hatte, immer störte die Feder. Er stand auf und steckte sich zuallererst eine Zigarette an. Schweißgeruch hing in der Luft, kalter Rauch hatte sich in Gewebe von Decke und Kissen verzogen. Von der Zimmerdecke her begrüßte ihn Mrs. Springstons erstes Schimpfwort: »Idiot!«

Henry ließ sich auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch fallen. Ihm war speiübel. Seine geröteten Augen bannten die letzte Seite seines Romans, die er gestern zu schreiben begonnen hatte. Henry langte nach seinem Stift. Das fettige Haar hing ihm strähnig ins fahle Gesicht. Er hatte die Nacht wenig geschlafen und war erschöpft. Der Wunsch, endlich seine Geschichte zu vollenden, drückte ihm wie eine Last auf Schultern und Brust. Der Schreibstress, der Zwang, den er sich selbst aufgehalst hatte, wurde ihm unerträglich. Geduckt, wie unter dieser Last, wandte er sich seiner Arbeit zu. Seine Hände zitterten. Die ersten Worte waren krakelig.

»Ich werde es nie zu etwas bringen«, dachte Henry, und dieser Gedanke bereitete ihm Angst.

Hohe Sträucher trennten den hinteren Gartenbereich zur Terrasse hin ab. Pfade aus Marmorsteinen führten durch den gepflegten Rasen. Amelie ließ sich auf einer Steinbank nieder, die unter einer Himbeerhecke stand.

Sir Jefferson war in seinem Arbeitszimmer zurück geblieben, und eine Angst überkam ihn, dass er die Frau, die ihn so sehr verunsicherte und gleichzeitig faszinierte, wenn er ihr nicht nachginge, nie wieder erblicken würde. Sir Jefferson folgte Amelie, wie durch einen inneren Zwang geleitet. Erleichtert, sie wieder zu sehen, setzte er sich, mit ein wenig Abstand, zu ihr.

»Es ist heiß heute, nicht wahr?« sagte sie und fächerte sich mit ihrer Hand Luft zu. Wie ein Kind hörte sich Amelie an, wie ein kleines Mädchen, dass seine Mutter fragte, ob sie ein Eis haben dürfte.

»Ja«, antwortete Harry und wies Ashfield, der dazugetreten war, an, zwei gekühlte Zitronenlimonaden zu bringen. Ein hohes Glas wurde Amelie gereicht und sie bedankte sich höflich, so wie es Mütter ihren Töchtern beibringen, wenn ihnen der Eisverkäufer an besonders hitzigen Tagen ein Stanitzel schenkte.

Sir Harry Jefferson mochte ihre Leichtigkeit, ihre Unbeschwertheit, wie sie das Getränk in die Hände nahm und sich einfach freute. Ihm gefiel ihr Gesicht und besonders ihre Lippen. Amelies Gestik, anmutig und fließend, erfreuten Harry.

»Sie ist so wunderschön«, dachte er. Und als ob die Frau seine Gedanken vernommen hätte, stellte sie ihre Limonade ab. Sie rückte näher. Mit den vom Getränk kalten Händen strich sie seine Wange. Obwohl es ihm zuerst unangenehm war, lehnte er sich an ihre Schulter. Amelies blondes Haar roch wie der Blumengarten. Harry schloss die Augen. Er spürte ihre Zärtlichkeiten, und der Wind blies über seine Gänsehaut hinweg.

Er wurde rot bei dem Gedanken, den er gerade gefasst hatte. Es verlangte Sir Jefferson nach einem Kuss. In einem Augenblick nur war eine Sehnsucht in ihm erwacht, wie er es nie zuvor gefühlt hatte. Amelie spielte mit seinem Haar, und ihm gefiel es. Sie hob sein Kinn. Ihre Lippen pressten sich gegen die seinen. Ein Rasen übertölpelte seine Schüchternheit. Seine Wangen glühten. Er vergaß Ashfield, seine Villa, die Sonne und den Garten. Er genoss.

Jemand hämmerte an seine Tür und schrie: »Ich weiß, dass Sie da sind, Thompson. Öffnen Sie sofort die Tür, oder ich schlage sie ein. Sie sind mit der Miete im Rückstand.«

Henry antwortete nicht. Er verhielt sich still. Er hätte ohnehin nicht zurückbrüllen können, dazu fehlte ihm die Kraft. Keinen Bissen hatte Henry Thompson seit dem Erwachen hinuntergebracht, so elend war ihm. Er vergrub sein Gesicht in den verschränkten Armen. Den tobenden Vermieter beachtete er nicht. Seine Beschimpfungen waren ihm egal. Die Drohung, er würde ihn verhaften lassen, wenn er nicht zahle, überhörte er. Nie hatte sich der Vermieter um den jungen Schriftsteller geschert, ob seine Wohnung ein Loch war und dass weder die Heizung, noch die Warmwasserversorgung funktionierten. Der Dicke vor der Tür, dessen Kopf bestimmt schon Wutrot angelaufen war, war an den Mieten interessiert, nicht an den Menschen, die sie bezahlen mussten und deren Problemen. Henry verabscheute ihn. Er hasste seine schrille Stimme und seinen grobes Benehmen. Er verurteilte seine Skrupellosigkeit und Mitleidslosigkeit gegenüber den Mietern. Am meisten hasste er ihn, weil er Louise Timer gedroht hatte, sie samt den Kindern auf die Straße zu setzten. Sie hatte ihre Miete schon seit zwei Monaten nicht aufbringen können. Es war eine stille Wut. Henry wollte sich nicht mit ihm anlegen, so sehr ihn der Vermieter auch reizte, denn die unreine Wohnung war der einzige Ort, an den er sich flüchten konnte.

Endlich verstummte der Vermieter. Den ganzen Häuserblock hatte er mit seinem Geschrei eingeschüchtert.

Henry raffte sich hoch. Er atmete schwer.

Zwei Monate lang war Amelie jeden Tag hinaus zum Jefferson-Anwesen gewandert, den Kiesweg unter der Kastanienallee entlang bis zum weißen Zaun und dem Eingangstor. Als sie klingelte, öffnete immer Ashfield, der Butler. Amelie rannte dann in den Garten und umarmte Harry. Sehr verliebt war der junge Sir in das schöne Mädchen. Und ihr ging es ebenso. Oft küssten sie sich und verloren jedes Gefühl für Zeit, wenn sie durch den Garten spazierten und sich unterhielten.

Harry war froh, Amelie gesehen zu haben, dass er nicht feige gewesen war und sie eingeladen hatte. Seine Zurückhaltung war nach den Monaten mit Amelie verschwunden. Schüchternheit hatte ihn scheinbar nie gehemmt. Drei Mal war er sogar mit Amelie in die Stadt hinuntergefahren, in einer offenen Kutsche, um ihr Kleider anfertigen zu lassen und sie mit süßen Geschenken zu erfreuen. Die Stadtbewohner schauten neugierig und starrten den feinen Sir in seinem pferdegezogenen Gefährt an. Auch die Schönheit seiner Begleiterin ließ sie aufschauen. Getuschelt wurde unter Frauen wie Männern:

Ob das seine Frau ist? Wo kommt sie wohl her? Nie habe ich sie hier gesehen. Mama, wer ist der edle Herr da? Ein hübsches Paar. Ich dachte, der Bewohner des Anwesens wäre ein hässlicher Eremit. Charles, hör auf, diese Frau so anzugaffen!

Amelie dankte Harry für all die Geschenke, und jeder Kuss ihrer Lippen ließ Harry das Herz höher springen. Nachts träumte er von seiner Geliebten und am Morgen sehnte er sich schon nach ihr.

Der Sommer verging. Es war ein sonniger gewesen. Keinen Tag hatte es geregnet. Harry war bei guter Laune. Vor drei Tagen hatte er Amelie gefragt, ob sie ihn heiraten wollte. Ohne lange zu grübeln, hatte sie einer Vermählung zugestimmt.

»Ja, ich will«, hatte sie ausgerufen, so dass es selbst die Leute in der Stadt hätten hören müssen. Die freudige Nachricht verbreitete sich schnell unter den Bewohnern. Jeder sprach von ihrer Verlobung und freute sich für Amelies und Harrys Liebesglück.

Die Ehe wurde überraschend schnell geschlossen, nach nur einer Woche Verlobung. Amelie hatte sich so sehr gewünscht, Harry endlich ihren Gatten nennen zu dürfen. Harrys Verlangen, auf ewig mit seiner Geliebten verbunden zu sein, quälte ihn und er gab nach. Es wurde eine leise Feier. Gäste waren keine geladen.

»Dieser Augenblick soll uns allein gehören«, sagte Amelie.

Ein Pastor traute sie, still und heimlich, im französischen Pavillon im Garten des Jefferson-Anwesens. Nur Ashfield war als Zeuge zugegen.

Henry rang nach Luft. Der Stift kullerte ihm aus der Hand, rollte über die Tischplatte und fiel zu Boden. Henry warf sich zurück. Die Augen hatte er geschlossen, um die drehende und wankenden Welt um ihn herum nicht sehen zu müssen. Schweiß stand ihm auf der Stirn, rann seinen Rücken herunter.

»Ich muss schreiben!« dachte er.

Lady Amelie war in Harrys Villa eingezogen. Es war ein grauer Januar. Der Wind schnitt eisig durch den Garten. Schnee bedeckte die toten Pflanzen. Harry bat seine Angebetete, trotz der Kälte, hinaus auf die Terrasse. In Pelz gekleidet, nahmen sie beide auf der Steinbank vor der Himbeerhecke Platz. Ashfield brachte ihnen zwei Zitronenlimonaden. Die Hände des Butlers zitterten, die Gläser schlugen klirrend aneinander.

»Was soll das, Liebling?« fragte Amelie, als sie das Getränk in ihre handschuhgewärmte Hand nahm, »Wie? Heute keinen edlen Tropfen, Harry!«

»Als wir zum ersten Mal hier saßen, tranken wir aus diesen Gläsern Limonade. Es war Frühling und der Tag, an dem du über meinen Gartenzaun gespäht hast.«

»Ich weiß.«

»Ich bin nur so glücklich, Amelie. Ob die Sonne scheint oder es stürmt und schneit, ich verehre dich. Ich liebe dich!«

Harry wollte ihren blassen Mund küssen. Sie aber wich zurück.

»Was hast du?« fragte er.

Amelie antwortete nicht, und plötzlich erinnerte sich Harry an seine erste Begegnung mit seiner Angetrauten im Arbeitszimmer. Wie er ihre Hand geküsst hatte und sie sie zurückgezogen hatte. Harry fühlte sich unsicher und schuldig, genauso wie damals, klein und geduckt.

Amelie lachte. Sie ließ das Glas aus ihrer Hand gleiten. Es zerbrach in viele Splitter, und die Flüssigkeit ergoss sich über den Schnee. Harry schreckte zurück. Scharf blickte Amelie ihn an. Er hatte sie nie so gesehen. Ihr Gesicht war plötzlich dunkel, der Mund weit aufgerissen. Ihre Augen traten hervor, die Stirn legte sie in braune Falten. Alt sah sie aus. Die zierlichen Hände verkamen zu dürren Ästen. Der rechte Handschuh glitt ihr von den Fingern. Harry fasste ihre Schulter. Sie sagte nichts, lachte nur.

»Was hast du?« wiederholte er und wurde still.

Der Stoß war rasch und schnell gekommen. Obwohl Harrys Brust brannte, kroch die Kälte in seinen Mantel und umfing ihn.

Henry war aufgestanden, doch seine Beine gehorchten nicht seinem Willen. Vorne über fiel er. Mit den Händen versuchte er, sich auf dem Tisch abzustützen. Die Seiten seines Romans fielen zu Boden.

»Amelie«, flüsterte er, übergab sich und brach schließlich zusammen.

»Amelie! Amelie!« flüsterte Harry. Verzweifelt hielt er sich die Brust und reckte die andere Hand nach seiner Frau. Sie trat zurück, wandte sich ab und verließ ihn. Sie schritt durch das Haupttor, den verschneiten Kiesweg hinunter. Die Bäume zu beiden Seiten waren schwarz und kahl. Zurück war nur ihr rechter Handschuh geblieben, lag vor Harry im Schnee. Der Hausherr wand sich auf dem kalten Terrassenboden, und sein Blut befleckte das Weiß.

Es roch nach Erbrochenem. Der Gestank kam aus Appartement 6. Louise Timer hatte an Henrys Tür geklopft. Zwei Wochen hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Sie rief ihn, aber die Tür blieb verschlossen. Auf ihr Geschrei aufmerksam geworden, lugten einige Köpfe anderer Mieter in den Flur hinaus.

»Was ist denn los? Was soll der Krach?«

Schließlich kam der Vermieter. Er war zornig und stieß die Frau beiseite.

»Elender Parasit!« schrie er und brach die Tür auf, »Seine Miete hat er immer noch nicht bezahlt, dieser Strolch! Und dann dieser Lärm! Halten Sie endlich die Schnauze, sonst fliegen sie samt ihren Bälgern auch noch raus!«

Mr. und Mrs. Springston hatten, auf den Tumult im unteren Geschoss aufmerksam geworden, aufgehört zu streiten.

Der Dicke hielt sich die Hand vor Mund und Nase. Angewidert wandte er sich ab und türmte aus der Wohnung. Louise begann zu weinen. Sie kroch in das Zimmer. Der Gestank war unerträglich, der Anblick scheußlich.

Henry hatte die Augen weit aufgerissen. Weiß waren sie, die Pupillen starr und klein.

»Mr. Thompson«, schluchzte sie.

Tot lag er in seinem Erbrochenen. Er war daran erstickt.

Andere Hausbewohner kamen heran und drängelten sich, Tücher vor ihre Münder und Nasen haltend, vor dem Appartement.

Sir Harry Jefferson war auf dem Stadtfriedhof beigesetzt worden. Einen letzten Willen hatte er nicht hinterlassen. Weder Verwandte, Freunde, noch seine Ehefrau Lady Amelie waren ausfindig zu machen. So fiel seine Habe als Spende an die Kirche und sein Anwesen wurde wieder verkauft.

Gerüchte um den Mord an Sir Jefferson im letzten Winter gab es viele. Ein Messerstich ins Herz hatte ihm den Tod gebracht. Ob den Stich der Butler oder ein Einbrecher ausgeführt hatte, wusste niemand. Dass es vielleicht die liebreizende Amelie gewesen sein könnte, daran wollten die Stadtbewohner, trotz ihres Verschwindens, nicht glauben.

Schnee und Kälte waren dahin. Die Bäume trugen wieder Blätter und Knospen. Der Frühling nahte.

Wagen mit großen Kisten beladen fuhren durch die Stadt, folgten der Straße und bogen dann am Kiesweg ab. Sie fuhren zum alten Jefferson-Anwesen. Ein neuer Käufer war schnell gefunden worden. Wer es war, das wussten die Leute nicht.

Der Garten blühte. Der Hausherr schlenderte gemütlich an den Blumenbeeten vorüber. Er mochte Tulpen sehr und hatte unzählige in Rot, Gelb und Weiß pflanzen lassen. Der Blütenduft war herrlich. Er ging in den hinteren Teil des Gartens. Als er hinter einer mannshohen Weißdornhecke hervortrat, fiel sein Blick zum Zaun. Eine junge Frau stand dort. Einen Strohhut hielt sie auf dem Kopf über dem blonden Haar fest. Sie presste ihren schlanken Körper, den ein weißes Sommerkleid bedeckte, gegen die Absperrung.

»Mein Name ist Sir Henry Thompson«, sagte der neue Eigentümer des Anwesens und ging auf sie zu.

Die Frau winkte ihm und lächelte.