Julia Wallnöfer (15)

Rote Augen

Wann war sie hier angekommen? An diesem Ort, dem niemand entrinnen kann. Hier gibt es nur eine Möglichkeit zu entkommen: den Tod.

Alles war hier Routine: Aufstehen um fünf, arbeiten, Mittag essen, arbeiten, schlafen gehen um neun. Ständig wurde sie von den Schreien aus den anderen Stationen begleitet.

Warum war sie hier? – Ach ja, sie hatte ihn getötet, aber das war hier normal. Doch die Ordnung hier an diesem schrecklichen Ort war das einzig Beruhigende für Sofie. In der Nacht kamen die Geister der Vergangenheit zurück, die sie am Tag vergessen konnte. Sie legte sich ins Bett, starrte die weiße Decke an. Hier wurde das Licht niemals ausgeschaltet. Jede Sekunde wurden sie beobachtet. Trotzdem fühlte sie sich schrecklich einsam. Wenn Sofie in der Nacht von Alpträumen geplagt wurde und weinte und schrie, kam niemand um sie zu trösten. Sie sah die roten Augen in der linken Ecke, und schrie um so mehr. Dann kamen sie, in den weißen Kitteln, packten sie und brüllten, dass sie still sein solle. Doch sie konnte nicht aufhören zu schreien. Die Augen, diese schreckliche roten Augen, starrten sie unentwegt an, und eine eiskalte Angst überkam sie. Dann schnallten die Pfleger sie an. Mit rauhen Händen wurde sie ans Bett gefesselt, bis sie sich nicht mehr bewegen konnte. Sie wehrte sich, doch die Weißen, wie sie die Pfleger nannte, waren stärker – wie immer! Sie fühlte sich ausgeliefert und hilflos. Dann war sie die ganze Nacht wach, starrte in die Leere, aus der ihr die roten Augen von überall her entgegen blickten. Sie funkelten und Sofie wusste, dass sie sie holen kommen würden. Die Angst in ihr wurde immer größer – Panik ergriff sie. Doch Sofie konnte nichts tun, und sie war allein. Am nächsten Morgen kamen die Weißen, entfesselten sie und brachten Sofie zum Arbeiten. Das Frühstück konnte sie wieder mal vergessen. Ihre Arme schmerzten von den Fesseln, trotzdem musste sie Papiertüten falten – wie immer. Irgendwann war Sofie so müde, dass sie die Augen nicht mehr offen halten konnte. Sie schlief ein.

Plötzlich wurde sie an den Haaren gepackt und aus dem Schlaf gerissen. Ein stechender Schmerz durchzog ihre Kopfhaut. Entsetzt blickte sie sich um. Einer von den Weißen schrie sie an. Doch sie konnte nicht verstehen, was er sagte. Sie starrte ihn nur mit weit aufgerissenen Augen an. Er schüttelte sie, schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Sie zuckte nicht einmal zurück, stand nur so da, ohne eine Regung zu zeigen. Da ergriff er ihre Arme und zog sie hinter sich her. In ihrem Innersten wusste sie, was geschehen würde. Sie sah wie sie die Station B verließ und die Station A betrat. Doch sie konnte nichts dagegen tun. Ein starker Uringeruch schlug ihr entgegen. Sie sah entstellte Fratzen in jedem Zimmer. Sie schrien, weinten, oder lagen apathisch da. Jetzt war sie auf der Station der Psychiatrie, von der noch nie jemand zurückgekommen war. Kurz bevor Janine, ihre beste Freundin in der Station B, in diesen Teil des Gefängnisses gekommen war, hatte sie mit ihrer üblichen ruhigen Stimme gesagt: »Hier kommst du nur mit den Füßen vorwärts heraus!« Sofie war damals so entsetzt gewesen, doch jetzt sah sie die Menschen hier und wusste, dass es stimmte.

Sie wurde in einen kalten Raum gesperrt. Noch ein zweites Bett stand darin. Eine alte Frau lag dort. Sie murmelte etwas vor sich hin. Plötzlich setzte sie sich auf und begann zu schreien. Sie kreischte so entsetzlich, dass Sofie glaubte, sie würde die Schreie nicht mehr ertragen. Doch niemand kam, um die Frau ruhig zu stellen, auch nicht als sie sich über ihrem Bett erbrach. Niemand kam. Sofie trat an die Tür und wollte um Hilfe schreien. Doch das Entsetzten lähmte ihre Stimme. Sie setzte sich vor die Tür im Zimmer. Dann sah sie es wieder! Die roten Augen, sie starrten sie an. Sie waren genau gegenüber. Sofie wollte die Augen schließen, den Blick abwenden, doch es ging nicht. Wie lange sie schon so dagesessen war, wusste sie nicht. Irgendwann ging die Tür wieder auf und sie wurde in einen Saal gebracht. Dort sassen sie – diese irren Monster – sie war jetzt eine von ihnen. Sofie wollte das nicht glauben. Sie bekamen Suppe. Hier gab es keine Gabeln und keine Messer, alles Gefährliche war entfernt worden. Suizidgefährdet, dachte Sofie. Hier hatte man nicht einmal mehr den Ausweg in den Tod. In dieser Nacht schlief Sofie lange nicht ein, doch irgendwann überkam sie der Schlaf. Wieder einmal träumte sie den einen schrecklichen Traum, der für sie Wahrheit geworden war.

Sofie saß am Tisch. Ihr Mann kam herein. Wieder einmal hatte er diesen spöttischen Ausdruck im Gesicht, der sie verrückt werden ließ. Dann stand sie auf und ging langsam auf ihn zu. Er schaute von oben auf sie herunter und lachte immer noch. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie immer noch das große Küchenmesser in der Hand hielt. Ihr Blick fiel darauf. Auch er sah es, schien ihre Gedanken zu lesen. Dann sah sie wieder zu ihm, sein ganzer Körper sagte: »Du traust dich nicht! Du nicht!« Langsam hob sie die Hand, hielt das Messer an seinen Hals. Da begann er erneut zu lachen, und sie stach zu.

Hier, an dieser Stelle, wachte Sofie schreiend auf. Ihr ganzer Körper zitterte und sie sah sich entsetzt um. Und schon waren sie wieder da: die roten Augen. Ihre Blicke durchbohrten sie, schienen sie zu erdrücken. Anklagend starrten sie die Augen an. Schlagartig sah Sofie wieder einmal ihre ausweglose Situation. Der Druck auf ihrer Brust wurde immer größer. Sie schlug die Bettdecke von ihrem Körper und stand auf. Sie ging zur Tür, wollte fliehen, und drückte den Türknopf hinunter und tatsächlich die Weißen hatten vergessen abzuschließen. Sie konnte endlich aus diesem schrecklichen Zimmer entkommen. Wie ein gehetztes Tier rannte sie hinaus, riss die Tür zum Badezimmer auf und stürmte hinein. Dort blickte sie in ihr Spiegelbild. Sie hatte sich schon lange nicht mehr gesehen. Erschrocken zuckte sie zurück, als sie die roten Augen hinter sich sah. Voller Panik schlug sie mit der Faust gegen den Spiegel. Er zerbrach. Lange starrte sie auf das Blut, das von ihrer Hand tropfte. Tropfen für Tropfen. Die Schmerzen beruhigten sie. Sie setzte sich zwischen die Scherben, sah, wie sie glitzerten. Dann nahm sie eine davon in die Hand. Sie starrte auf ihre Hände, sah, wie sich das Glas in ihren Arm drückte, wieder und wieder. Sie sah, wie das Blut spritzte, und fühlte, wie sie eine angenehme Ruhe umgab: endlich!

Doch plötzlich wurde sie herumgerissen. Sie hörte Stimmen, aber wusste nicht, zu wem sie gehörten. Sie spürte, wie ihr Körper angehoben wurde und wie sie aus ihrer Ruhe wieder entführt wurde.

Als sie die Augen öffnete, spürte sie schreckliche Schmerzen. Sofort stand einer der Weißen an ihrem Bett. Er schrie sie an und schlug ihr ins Gesicht. Sie wollte die Hand heben, um sich zu schützen, doch es ging nicht, denn sie war angeschnallt, und konnte nicht einmal mehr den Kopf heben. So lag sie da. Eine endlose Stunde folgte der nächsten. Die Angst war wieder da, und sie war stärker als je zuvor.

Dann riss man sie aus dem Bett, nahm ihr ihre Kleider und sperrte sie ein. In einem kleinen Raum, in dem es keine Fenster gab, und wo kein Bild die kahlen Wände schmückte. Es gab kein Bett, nur eine Decke lag am Boden. Die Wände waren mit Schaumgummi verkleidet. Nur an der Tür war ein winziges Fenster, durch das einer der Weißen schaute. Sie schämte sich ihrer Nacktheit, und sie fror. Dann ging sie zu ihrer Decke und wickelte sich ein. Langsam begannen die Wände sie zu erdrücken. Sie kamen immer näher. Die Augen starrten sie an. Von weither hörte sie Lachen. Panik begann an ihr zu fressen. Hier gab es kein Entkommen mehr. Sie wollte nur noch sterben, endlich Ruhe haben, doch nicht einmal das durfte sie. Sie schrie und schlug um sich, doch es wurde immer schlimmer. Sie hörte die Stimmen aus den anderen Zellen, wurde sich ihres eigenen Wahnsinns bewusst, und dann rannte sie mit dem Kopf gegen die Wand.

Der Schmerz betäubte sie.

Immer und immer wieder rannte sie mit dem Kopf gegen die Wand.