Melanie P. Strasser (17)

Augenblicke

Es war der Moment, in dem die Nacht am verschwiegensten war, als ich beschloss, die letzte Zigarette zu rauchen. Der Raum war klein, aber ich war kleiner, und die rotgetränkten Ziegelsteine flackerten unter dem kühlen Schatten, den das Kerzenlicht warf.

Vor dem Spiegel war ich allein mit mir selbst, und das Licht legte sich stumm auf diesen Körper, der Ich sein sollte. Schweigsames Sich Entgegenstarren.

Nackte Augen, deren Weiße schleimig zitternd hervorzutreten suchte aus aderndurchdrungenen Lidern. Haare, ziellos hervorbrechend, Lippen, die sich unter ihrer eigenen rotgetönten Blässe winden. Dieselben Einbuchtungen und Risse, Kanten und Beulen,

eine Nase, die sich obszön in den Mittelpunkt drängt. –

Das Gewahrwerden der eigenen Unförmigkeit…

Und dieses nackte Fleisch soll das Mittel sein, uns dem anderen zu offenbaren, dieser Leib, in dem ich wohne und doch nicht zu Hause bin. Dieser Körper soll geliebt werden können?

Dieser Bauch soll Platz bieten für schaumig-schmelzende Lippen…?

Ich versuchte mir mein Gesicht vorzustellen, als ich noch ein Kind war und vor dem Spiegel die Frau suchte, die ich werden sollte. Aber nun war ich schon zu weit von dem Mädchen entfernt, das ich war. Man ist sich immer nur im Augenblick nahe, niemals in der Vergangenheit.

Die Gesten und Worte, das Lächeln und das Gehen vom Gestern erscheinen im Heute fern, so wie das Morgen im Heute nur unwirklich ins Jetzt hinübergreift.

Ich nahm einen tiefen Zug, stieß den Rauch aus gegen den Spiegel, sah, wie sich mein Gesicht im dünnen Rauch verlor. Nie wieder mich selbst sehen.

Ich wandte mich ab.

An der Wand hing eine große Uhr, aus der unablässig die Sekunden fielen. Ich stieg hinauf, nahm sie von der Wand und legte sie auf den Boden. Ich trat auf das Glas und es knirschte unter meinem Gewicht, bis sie verstummte.

Aber ich hörte nicht auf, das stete Vorwärtsrücken und Vergehen, das sich Zeit nennt, zu spüren, diese unweigerlich fortschreitende Erneuerung jedes Moments, der still und stetig in die anderen übergreift.

Ist das nun das Leben, dieser reißende Strom aus in sich versinkenden Augenblicken, ineinander verwoben, ineinander verkrallt bäumen sie sich auf, einer den anderen zu ertränken suchend, jeder einzelne in seiner Unmittelbarkeit über den anderen hinwegfließend.

Manche Momente steigen empor, doch selbst im Verharren entziehen sie sich unserem Trachten, ihnen eine endgültige Form zu verleihen, um sie uns nahe zu machen. Nur ein verhaltenes Glänzen als Zeichen, dass sie irgendwann etwas Unausgesprochenes in uns hinterließen…

Augenblicke, die ein Leben zeichnen, und ihm dennoch keine Form zu geben vermögen…

Diese kleinen Momente, die mich herausreißen aus diesem unüberschaubaren Gewirr, Augenblicke wie das Umrühren in bernsteinfarbenem Tee, das Aufhorchen im Stimmengewirr ob eines fremden Lachens, Momente, in denen ich beim Staubsaugen einen verstohlenen Tanzschritt versuchte, oder solche, in denen beim langsamen Hinabfließen irischen Whiskeys das Gesicht des Mannes auftaucht, dem ich einmal auf der Straße begegnete und dem ich mich näher fühlte als irgend jemandem zuvor, weil er sein Hemd verkehrt zugeknöpft hatte.

Vielleicht ist das die Liebe, was so schnell verweht und immer eine Sehnsucht bleiben muss: im anderen ganz nah bei sich selbst zu sein.

Ich tastete nach einem Aschenbecher. Als ich die Zigarette ausdämpfte, zitterten meine Hände. Ganz langsam verlor sich auch der letzte Funken Rot inmitten grauer Asche.

Ich weiß nicht, ob ich jemals geliebt habe. Liebe hat mich immer geängstigt. Liebe muss auch eine innere Berührung sein, da gilt es, eine Sprache zu finden für Ungesagtes und Unsagbares.

Worte haben mich immer nur ertränkt in ihrer Schweigsamkeit, in dieser Unmöglichkeit und gleichzeitigen Radikalität, eine Wahrheit zu schaffen für jede Bewegung, jeden Gedanken…

Dabei ist man einander in Gedanken oft näher. Die Gedanken reichen weiter, selbst wenn sie den anderen nie erreichen…

Worte, was sind Worte –

Eine stete Suche, der Versuch, in ihnen eine Welt zu finden, die meine hätte sein sollen…

Ich wankte ins Badezimmer, und ließ Wasser in die Badewanne, das Tropfen dröhnte in meinen Ohren. Ich wollte nicht mehr denken. Dieses unablässige Denken-Müssen, all diese Fragen, die mich umschlingen wie die Korona ihre Sonne – die Gedanken letztlich sind es, die töten. Wer keine Antworten findet, dem zerfällt die Welt in sich.

Sie wird wieder sie selbst. Sogar die schönen Dinge verlieren sich dann unter hämischem Lächeln in einer Unerreichbarkeit, die uns völlig auf uns selbst zurückwirft.

Das Schwanken unter dem eigenen Nicht-gerechtfertigt-Sein.

Ganz langsam zog ich mich aus. Mein Körper war weiß und fühlte sich seltsam an. Ich versuchte, mein Blut zirkulieren zu spüren, legte mich ins Wasser. Ich fühlte mich angenehm leicht werden. Atmen und atmen –

Nur ein kleiner Schnitt. Eine letzte Tat, durch die alles andere zuvor nicht verschwinden wird, nur vielleicht verblasst. Etwas, das gewesen ist, kann nicht zu einem Nichts werden.

Nun suchte ich krampfhaft nach einem Gedanken, der es wert ist, als letzter gedacht zu werden, der mich noch vereint mit der Welt und dem, was kommt. Ich versuchte, mich bedeutsamer Momente meines Lebens zu entsinnen, sie ganz deutlich emporzuheben aus der Unzähligkeit von Bildern, Tönen, Worten. Aber da war nur Stille. Nur noch ein Augenblick, der sich sachte emporhebt, ein Aufschwingen auf den letzten hin, ein Atmen – dann Nichts.