Nadja Schüpbach (16)

Fremd

»Guten Tag, Frau Gerber!« grüßte Nina ihre Wohnungsvermieterin.

»Tag, Nina«, antwortete die etwas zu stark geschminkte ältere Dame. Sie blickte neugierig auf Ninas linke Hand, die die lokale Tageszeitung und einen Brief festhielt. Den Brief hatte Nina bereits auf dem Weg vom Briefkasten durch den duftenden Kräutergarten zum Haus gelesen. Als sie Frau Gerber die Treppenstufen wischen sah, steckte sie ihn hastig wieder in den Umschlag zurück. Schließlich kannte sie ihre neugierige Wohnungsvermieterin nur zu gut…

»Na, wieder Post von Ihrem Brieffreund?« fragte Frau Gerber, die den blau-rot-weiss gestreiften Rand des Luftpostumschlages erkannte.

»Ja.«

»Und, was schreibt er denn so?«

Nina schwieg.

»Oder darf man etwa nicht fragen?«

»Doch…«

»Aber?«

Schweigen.

»Mir können Sie doch alles sagen, Nina.« Sie sah die blondhaarige junge Frau mit ihrem »Ich-kann-doch-Schweigen-wie-ein-Grab«-Blick an.

»Also gut…«

Nina wandte den Blick von Frau Gerber ab und betrachtete ihre schwarzen Lederhalbschuhe. Nach einem Augenblick murmelte sie: »Er will mich besuchen kommen.«

»Was haben Sie eben gesagt?« Frau Gerber hielt ihre Hand hinter die rechte Ohrmuschel. Nina wiederholte denselben Satz. Etwas lauter als zuvor. Zuerst kniff Frau Gerber die Augen zusammen. Dann ließ sie ihre rechte Hand vom Ohr zum Besenstiel sinken und rief freudig aus: »Das ist ja toll, Nina!«

»Und Sie haben nichts dage…«

»Bestimmt nicht, mein Kind! Sie sollten die Gelegenheit nutzen, um endlich ein wenig vom Prüfungsstress loszukommen! Sie haben eine Abwechslung dringend nötig. Ich finde…«

»Vielen Dank, Frau Gerber!« fiel ihr Nina in den Wortschwall, der immer mächtiger zu werden drohte. »Ich dachte schon, Sie würden mir diesen Besuch nicht erlauben. Schließlich kenne ich John nur aus Briefen…«

Nina lächelte ihre Wohnungsvermieterin an, verabschiedete sich mit einem »Auf Wiedersehen« und lief die Treppe hoch.

Da stand sie nun. Leute eilten in alle Richtungen an ihr vorbei. Die meisten hatten riesige Koffer und Rucksäcke in allen Farben. Einige waren bleich im Gesicht und sahen müde aus. Kein Wunder, dachte sie. Über zwölf Stunden im Flugzeug zu sitzen, ist wirklich kein Vergnügen…

Immer weniger Menschen warteten in der riesigen Halle des Flughafens.

Nina wurde von Minute zu Minute ungeduldiger. Wo war er denn bloß geblieben? Sie hatte keine Ahnung.

»Nina?!«

Sie fuhr erschrocken herum. Vor ihr stand ein groß gewachsener Afrikaner mit Rastalocken.

»Bist du Nina?« fragte der Afrikaner.

»J-ja«, antwortete sie stockend.

»D-dann musst du John sein?«

»Yep!« entgegnete er grinsend.

»Ich… ich habe nicht damit gerechnet, dass du so, ich meine, du bist echt süß, John!«

»Das Kompliment gebe ich gern zurück!«

Nina spürte, dass sie rot wurde. Schnell sagte sie: »Willkommen in der Schweiz!«

Er umarmte sie freundschaftlich und flüsterte ein »Danke, Nina«.

»Siehst du, ich hab`s dir ja gleich gesagt! Jetzt nistet sich dieser Schwarze noch in deinem Haus ein und verdirbt die Kleine.« Empört blickte Verena Gerber ihre Nachbarin an. »Das glaub’ ich dir nicht, Trudi. Nina ist eine verantwortungsbewusste junge Frau, die sich sicher nicht um den Finger wickeln lässt!«

»Wir werden es ja sehen.« Trudi Meier verschränkte die Arme vor der Brust und sah Frau Gerber gerade in die Augen. Wenn Blicke töten könnten, schoss es Verena Gerber durch den Kopf. Schnell reckte sie sich nach der Zuckerdose und gab zwei Löffel Zucker in ihren Kaffee. Sie rührte eine Weile mit dem Silberlöffelchen und trank anschließend einen Schluck. Trudi Meier stand jetzt vor dem Fenster und blickte über den gepflasterten Weg zum Kräutergarten von Frau Gerber hinaus.

Nach einer Weile fragte sie: »Und wieso sind die beiden dann Hand in Hand in dein Haus geschlendert?«

»Die jungen Leute sind halt anders als wir es in ihrem Alter waren.«

»Und wie waren wir dann bitte schön?«

»Wenn wir in ihrem Alter Händchen gehalten haben, dann war man ein Paar. Heutzutage ist das nicht mehr so…«

»Bla bla bla! Ich glaube dir kein Wort, Verena. Ich glaub dir ja viel, aber das nicht. Nein, meine Liebe. Der will hier Asyl!«

»Es sind doch nicht alle gleich…«

»Und wieso ist der dann hier? He? Kannst du mir das erklären?«

»Die beiden sind doch seit einer Weile Brieffreunde.«

»Pah! Wenn ich das Wort Freunde nur höre! Vergiss es, der will hier bleiben und Nina ist sein Hilfsmittel!«

»Nein.«

»WIESO NICHT?«

Schweigen.

»Siehst du, ich habe doch Recht.« Zufrieden nickte Frau Meier über ihre Antwort. Ihre Freundin sah sie an und schwieg.

Johns Blick streifte die chinesische Blumenvase auf Ninas Nachttisch, ihr Bett mit der königsblauen Decke, wanderte weiter zur kleinen Küche im hinteren Teil der Wohnung. Nina war gerade dabei, eine Packung Fondue zu öffnen. Sie bemerkte seinen Blick und lächelte ihm zu. »Heute Abend gibt's was echt Schweizerisches: Ein Fondue.«

»Was ist das?«

»Geschmolzener Käse, der mit Brot gegessen wird. Du wirst es gleich sehen.«

»Aha.«

Neugierig kam John in die Küche und betrachtete das Essen. »Sieht komisch aus, riecht aber spitze«, bemerkte er.

»Komm, setzen wir uns.«

John nahm vis-à-vis von Nina Platz.

»Na dann, guten Appetit!«

John steckte vorsichtig ein Brotstückchen an die lange Gabel und rührte im Fondue, wie es Nina tat.

»Wie ist es eigentlich in Südafrika? Erzähl ein wenig vom Essen dort, von den Leuten, der Kultur.«

John erzählte von seiner Familie. Der afrikanischen Kultur. Den Leuten. Und von seinem Großvater. Er war seit neunzehn Jahren der wichtigste Mensch in seinem Leben. Dank ihm hatte er eine gute Schule besuchen können, Englisch und Deutsch gelernt. Das war keine Selbstverständlichkeit. Es gab Tausende von Kindern, die nur davon träumen konnten zur Schule zu gehen und jeden Tag genug Essen auf dem Tisch zu haben. Die meisten schwarzhäutigen Familien lebten in Blechhütten neben der Autobahn, die nach Kapstadt führte. In Kapstadt wohnten diejenigen Schwarzen, die eine Chance in ihrem Leben erhalten hatten. Und dort lebten die Weissen. Solche, die sich alles leisten konnten, während sich andere gegenseitig ermordeten, um wenigsten an ein wenig Geld heranzukommen.

John erzählte und erzählte und erzählte. Nina lauschte gespannt seinen Worten.

War die Welt wirklich so brutal und ungerecht? Sie konnte es kaum glauben.

Wenn man in der Zeitung Nachrichten von Morden und Entführungen las, dann dachte man gar nicht daran, dass einem das so nahe gehen könnte… Sie war empört über die Armut im Land der großen Träume. John versuchte Nina zu beschwichtigen.

»Natürlich gibt es auch wunderschöne Seiten in unserem Land. Zum Beispiel die vielen Tierarten und die vielfältige Vegetation. Auch die Leute sind sehr offen und freundlich, wenn Fremde kommen und…«

»Kann man denn nichts gegen diese Armut und die Kriminalität machen?« unterbrach ihn Nina.

»Die Regierung hat schon viel versucht, aber bis jetzt hat sich die Situation nicht groß verändert.«

Als er Ninas Trauer und die Empörung sah, fügte er hinzu: »Nina, nimm‘s nicht so tragisch. Überall auf der Welt gibt es Armut. Nicht nur in Südafrika… Freust du dich denn nicht, dass ich nach zweieinhalb Jahren Briefkontakt endlich hier bin?«

»Hey, was denkst du denn?! Sicher freue ich mich! Und wie!! Und, hat dir das Fondue geschmeckt?« fragte sie, um das Thema zu wechseln.

»Speziell, aber gut.«

Sie saßen auf der Burgmauer und genossen die Aussicht. Geradeaus sahen sie die vordersten Bergketten der Alpen, die sich mächtig über den hügeligen und langgezogenen Tälern erhoben. Wenn man ganz genau hinblickte, waren sogar noch die winterlichen Schneereste auf den Bergspitzen zu sehen. Auf dem Hügel neben ihnen stand eine große Burg, die stolz über das Städtchen ragte.

Die beiden hatten vor einer Stunde die ganze Burg erkundet. Sie waren im Rittersaal, in den Schlafzimmern, auf den Überwachungstürmen… Nach zwei Stunden hatte Nina vorgeschlagen, sich auf die Burgmauer zu setzen und ein wenig auszuruhen. »Einfach wunderschön hier, findest du nicht auch?«

»Ja. Schade, dass wir bei uns nicht solche Hügel und Burgen haben!«

Eine Gruppe von Wanderern setzte sich einige Schritte von ihnen entfernt, um zu essen.

»Einfach faszinierend hier!«

Beide sahen in Richtung Alpen und schwiegen. Nach einer Weile blickte John Nina an. »Noch faszinierender jedoch bist du«, flüsterte er. Sie lächelte ihn an und beugte sich zu ihm. Ihre Lippen berührten sich und sie spürte seinen Atem auf ihrem Gesicht.

Die Wandergruppe schaute den beiden empört zu. Einige tuschelten leise miteinander.

»Was habe ich dir vor kurzem gesagt? Genau das!«

Frau Meier zeigte mit dem Finger aus dem Fenster. Draussen kamen gerade Nina und John Arm in Arm von ihrem Ausflug zurück. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und beide lachten.

»Ja, du hast wohl Recht«, bemerkte Frau Gerber kleinlaut, als sie ebenfalls ans Fenster getreten war und die beiden auf dem Weg zum Haus sah.

Die beiden älteren Damen diskutierten noch lange über Gerüchte, die sich im Dorf ausgebreitet hatten und vergaßen so Nina und John schnell wieder.

Es war schon dunkel, als die beiden Frauen deutlich zwei Silhouetten an Ninas Fenster sahen, die dicht beieinander standen.

»Dieser Mistkerl! Ich glaube, ich rede mal mit meiner Mieterin. Die stürzt sich blind in ihr Unglück! Dieser Joe oder wie er auch heisst, der will doch nur den roten Pass mit dem weissen Kreuz!«

»Ek is lief vir jou«, flüsterte John.

»Und was heisst das?« fragte Nina und kuschelte sich an seine Brust.

»Es ist Afrikaans und heisst ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch. Schon vom ersten Moment an, als ich dich am Flughafen gesehen habe!«

Durch Zufall blickte John aus dem Fenster und sah die beiden unverwechselbaren Silhouetten, die am Fenster standen.

Nina küsste ihn stürmisch und fragte ihn, ob es ihm immer noch so gut in der Schweiz gefalle. Er sagte, dass sie ihm am meisten gefalle und die hügelige Landschaft. Und natürlich die Berge. Aber die Leute hier seien nicht so offen. Wieso, hatte sie ihn gefragt. »Sie blicken einen Fremden immer misstrauisch an, ob sie ihn nun kennen oder nicht«, sagte er. Das glaube sie ihm nicht, entgegnete sie und fuhr mit der Hand durch seine Rastalocken.

»Also ich hätte nie gedacht, dass gerade Sie sich mit einem Schwarzen einlassen würden, Nina!« Frau Meier blickte sie streng durch ihren großen, runden Brillengläser an. Ohne etwas zu sagen lief Nina an Trudi Meier vorbei ins Haus und knallte die Eingangstüre hinter sich zu.

»Nina, können wir an einen anderen Ort gehen?«

»Was hast du gesagt?«

»Können wir an einen anderen Ort gehen?«

»Ach so. Klar.«

Hand in Hand verließen sie das Lokal. Die laute Musik dröhnte immer noch in ihrem Ohren, als sie draussen in der Stille standen. »Nina, ich glaube es ist besser, wenn ich wieder zurück gehe.«

»Wohin zurück?«

»Nach Kapstadt.«

»A-aber wieso denn?« Nina konnte es nicht fassen. Ungläubig starrte sie John an.

»Hast du die Blicke vorhin im Lokal nicht bemerkt?«

Er wartete auf eine Antwort. Als keine kam, sagte er: »Die haben mich alle angestarrt und miteinander getuschelt, Nina.«

Nina senkte den Kopf und schwieg.

»Du hast es auch bemerkt, nicht wahr?«

»Ja«, antwortete sie kleinlaut.

Nina packte schnell ihre nötigsten Sachen in den blauen Rucksack und verabschiedete sich von John. Es war Montag Morgen und die Ferien waren vorbei. Nina wollte nicht in die Schule, aber ihre Abschlussprüfung war zum Greifen nah… Eigentlich hatten John und sie vereinbart, dass er mit Schulbeginn wieder gehen würde. Aber was sind schon Abmachungen, wenn man verliebt ist? Kaum hatte Nina die Wohnung verlassen, klingelte das Telefon. John zögerte einen Moment, ehe er den Hörer von der Gabel nahm.

»Hallo?« fragte er in den Hörer.

»Sie wissen genau, wer hier ist!«

»Entschuldigen Sie, aber ich habe keine Ahnung.«

»Gerber ist mein Name.«

»Ach so, Sie sind die Vermieterin. Nina hat mir schon viel von Ihnen erzählt!« Das war gelogen. Aber was tut man nicht alles für ein wenig Freundlichkeit?

»So, hat sie das?« fragte Trudi Gerber schnippisch.

»Ja.«

»Ich sage Ihnen nur eines: Lassen Sie endlich die Finger von Nina!«

Frau Gerber schrie beinahe ins Telefon. »Ich sage es Ihnen nur einmal, Joe oder wie Sie auch immer heissen.«

»John ist mein Name, gnädige Frau.«

»Schon gut, Joe. Und jetzt packen Sie ihre Sachen und verschwinden aus meinem Haus! Ich will keine Ausländer als Nachbarn haben, die unschuldige Mädchen missbrauchen, um an ein Heftchen mit Schweizer Kreuz ranzukommen!«

»Aber Frau Ge…«

»Nichts aber! Frau Meier ist der gleichen Meinung. Also verschwinden Sie!«

»Ab…«

Ein »Piep-piep-piep« war zu hören. Frau Gerber hatte aufgelegt.

»Und das hat die gesagt???«

Nina konnte es nicht fassen. Kaum war sie zurück aus der Schule, musste sie erfahren, dass ihre Nachbarinnen jetzt auch noch Telefonterror betrieben.

»Ich wollte es dir eigentlich gar nicht sagen, aber ich dachte, es wäre das beste, wenn du es auch weisst.«

»Und ob es das Beste ist, Johnny! Ich werde diese zwei netten alten Schrullen jetzt mal anrufen!« Mit zittrigen Fingern wählte sie Frau Gerbers Nummer. 0-4-3-8-5-4-6-3-2.

»Gerber am Apparat.«

»Jetzt will ich Ihnen mal was sagen, Frau Gerber. Wir sind hier in einem Land mit Meinungsfreiheit. Aber das, was Sie heute Nachmittag veranstaltet haben, das ist Verletzung des Anti-Rassismusgesetzes! Entweder Sie entschuldigen sich jetzt aufrichtig bei John, oder ich ziehe aus!«

»W-wer ist denn am Apparat? Nina, sind Sie das?«

»Wer denn sonst?! Spielen Sie nur ja nicht die Scheinheilige, kapiert!?«

»Nina, was ist denn los mit Ihnen?«

»Das wissen Sie ganz genau, Sie alte Schachtel!«

»Nina, bitte, ich geh ja schon. Mach dir nicht das Leben wegen mir kaputt!« warf John ein und fasste sie am Arm.

»Haben Sie das gehört, Nina? Dieser Joe hat ganz Recht!«

»Sie falsche Schlange!«

Nina konnte sich nicht mehr beherrschen und kreischte die Worte in den Hörer.

»Ich kündige, haben Sie gehört?! Ich will keine rassistische Vermieterin!«

»Aber Trudi meint doch auch..«

»Das ist mir doch scheissegal, was Trudi meint! Ihnen geht's doch nur immer darum, was die Leute im Dorf denken. Alles andere ist Ihnen scheissegal!«

»Nina, bitte…«

»Doch John. Es ist so!«

»Auf Nimmerwiedersehen, Frau Gerber!«

Nina knallte den Hörer auf und brach in Tränen aus. »Wenn…ich… die Matur.. bestehe.. dann- dann komme ich zu dir…. nach… Südafrika«, schluchzte sie. John nahm sie in den Arm und versuchte sie zu trösten.

»Hast du gehört, Johnny? Nach Kapstadt.«

Dear Johnny,

ich komme mir vor wie.. wie ein Tier hinter Gittern, in einem Zoo. Alle sorgten sich rührend um mich. Ich tollte herum, ganz unbeschwert. Doch je älter ich wurde, desto mehr begriff ich, dass es noch ein anderes Leben geben musste als das Leben hinter Gittern. Aber welches? Die Antwort darauf fand ich erst, als du an meinen Käfig kamst und von einem anderen Leben erzähltest, ein Leben in einem fremden Land. Seitdem du abgereist bist, träume ich von diesem fremden Land. Du hast mir die Augen geöffnet, ohne es zu wissen! Ich habe in Kapstadt eine Universität gefunden, die mich für nächstes Semester eingetragen hat. Mit anderen Worten: Ich lasse die vertraute Welt hinter mir, die mir so fremd geworden ist und befinde mich schon bald in einer fremden Welt, die mir vertraut werden wird. Da bin ich mir ganz sicher!

Love, Deine Nina