Kathi Serles (14)

Schwarz

Zitternd stand Maria vor seinem leblosen Körper. Ganz ruhig und verlassen lag er da. Seine Augen waren weit geöffnet und blickten starr in den Himmel. Sein Mund war geschlossen, doch er spiegelte Hass und Schmerz wider. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und ruhten reglos auf dem harten Asphalt. Um ihn herum hatte sich eine Menge von Schaulustigen gebildet. Wie Tiere lechzten sie danach, ihn sterben zu sehen. Zwei Notärzte knieten neben ihm und versuchten, sein Leben noch zu retten. Das Blaulicht des Rettungswagens beleuchtete die Szene. Dunkle Schatten huschten über hohe Hauswände, Autos rasten an ihnen vorbei, und die schwarze Nacht umhüllte Maria wie einen Umhang.

Ihr Herz klopfte und alles andere schien nur mehr in Zeitlupe zu geschehen. Nur vage nahm sie die Ärzte wahr, die hoffnungslos den Kopf schüttelten, aber trotzdem weitermachten und versuchten, ihn am Leben zu erhalten. Um sie herum schien sich langsam alles aufzulösen und sie tauchte noch einmal in die Vergangenheit. Was war geschehen? Wieso lag John hier auf dieser Straße, blutend und in Lebensgefahr schwebend? Sie schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern…

»Bis morgen!«

»Ja… bis morgen also!«

John und Maria standen vor ihrer Haustür und sahen sich an. Seine schwarze Haut wirkte nicht mehr so fremd auf sie, seit sie sich kennengelernt hatten. Irgendetwas an ihm faszinierte sie. War es seine Hautfarbe, oder seine großen, dunklen Augen?

Während sie ihn stumm betrachtete, blickte John verlegen zu Boden. Er hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, ständig angestarrt zu werden. Als er wieder aufsah, war Maria schon ins Haus verschwunden. Drinnen wurde ein Licht angemacht und der Duft von Kaffee und Kuchen strömte ihm aus dem geöffneten Fenster entgegen. Eine leichte Brise ließ den Vorhang kurz aufflattern und vertrieb den Duft.

Seufzend drehte sich John um. Auf ihn wartete jetzt eine kleine, dunkle Kellerwohnung. Wahrscheinlich schliefen seine Eltern und Schwestern schon. Langsam ging er die einsame Straße entlang. Die meisten Menschen lagen schon in ihren Betten. John liebte die Nacht; nur im Dunkeln fühlte er sich nicht ausgeschlossen von den anderen. Manchmal wünschte er sich, weiss zu sein und nicht so dunkel und fremd. Er kam sich oft klein, unerwünscht und fehl am Platz vor…

Plötzlich hörte er Schritte hinter sich. Verwundert, wer in dieser Nacht noch auf den Beinen war, drehte er sich um und erstarrte.

Höhnisch grinsend sahen ihn sechs Augenpaare an. Einer deutete auf ihn und ballte seine Faust. Voller Hass traten sie näher auf ihn zu. Wortlos begannen sie ihn zu verprügeln. John konnte sich nicht wehren. Mit Händen und Füßen gingen sie auf ihn los. Stumm ließen sie ihre Wut an ihm aus. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis sie von ihm abließen.

Wie tot lag er da. Leise entfernten sich die Schritte. Nur noch einer stand bei ihm. Er beugte sich zu John hinab, streichelte im lächelnd über seine geschwollene Wange und flüsterte:

»Du lebensunwertes Leben.«

Dann ging er. John lag da und hörte immer nur diesen einen Satz. Lebensunwertes Leben. Eine verlorene Träne glitt über sein Gesicht. Dann wurde ihm schwarz vor Augen…

Zitternd öffnete sie ihre Augen wieder. Immer noch lag er hier am Boden. Heulend wandte sie sich ab. Sie war schuld. Durch ihr Fenster hatte sie die Szene beobachtet und nicht gewagt einzugreifen. Nur um ihre eigene Haut zu retten, hatte sie nichts getan. Und jetzt lag hier ein Mensch im Sterben, weil sie zu feig gewesen war.

Plötzlich wurde es still. Hoffnungsvoll drehte sie sich zu John und beugte sich über ihn. Mit glasigen Augen sah er sie an uns sagte:

»Ich bin ein lebensunwertes Leben.«

Dann lächelte er schwach und schloss die Augen. Weinend brach Maria über seinem toten, schwarzen Körper zusammen.