Maximilian Sadilek (15)

Fremd

Herr K. erwachte. Es war ein kalter Novembermorgen, und feine Nebelstreifen umspannen wie ein elastisches Netz die dunklen Spitzen der so vertrauten Kleinstadt, welche Herr K. durch das leicht beschlagene Fenster seiner Mietwohnung im sechsten Stock schläfrig betrachtete.

Der Raum war karg und spartanisch eingerichtet. Außer seinem Bett, einem Tisch, einem Stuhl und einem Kasten war nur noch ein ängstlich kleiner Spiegel zu bemerken.

Viele Menschen gehen mit Unwillen und schlechter Laune in den Tag, doch so war Herr K. nicht. Er liebte die Frische des Morgens, und oft stand er noch im Nachthemd sinnierend auf dem Balkon. Heiter wie noch nie, überkam ihn plötzlich ein seltsames Gefühl. Er meinte zu spüren, dass dies ein neuer, Unheil bringender Tag wurde.

Nach der üblichen Routine des Waschens, Ankleidens und Frühstückens, die nicht recht anders als an all den anderen Tagen ausgefallen war, begab sich Herr K. in das Stiegenhaus und weiter auf die Straße. Der alte Lift war außer Betrieb.

K. wollte spazieren gehen, denn er brauchte nicht mehr zu arbeiten. Das war früher einmal so, bis zu seinem Unfall. Damals, als er wegen einer schweren Verletzung des Beckens beim Ski fahren frühzeitig pensioniert wurde. Recht so. Jetzt war er fünfundvierzig Jahre alt.

Der erste Gedanke, der ihm in den Sinn kam, als er auf die Straße blickte, war Leere. Er wusste nicht warum, bis ihm klar wurde, dass hier keine Menschen waren, und daher auch keine Autos. Seltsam, dachte sich Herr K., bin ich denn hier fremd?

Sonst musste er nämlich immer eine günstige Gelegenheit erspähen, sich zwischen dem dichten Verkehr hindurchzuwinden, um in den Park zu gelangen. Fast war ihm so, als hörte er seine Schritte widerhallen. Kein Laut. Kein leises, entferntes Rauschen. Es wurde allmählich unerträglich, K. bekam Angst.

Es war, als wurde er beobachtet, doch tröstete sich Herr K. damit, dass er nun doch Stimmen vernehmen konnte. Merkwürdigerweise riefen sie fortwährend dasselbe: »Fremd, fremd!«. Einmal laut, einmal leise, ja, fast geflüstert. »Fremd, fremd!«. Es war ein Raunen, und als Herr K. im Begriff war, sich die Ohren zuzuhalten, bemerkte er, dass die unheimlichen Stimmen nur Illusion waren. Einbildung. Hirngespinste.

Er nahm die Hände wieder von den Ohren und hörte nichts. Gar nichts. Es war schrecklich, und Herr K. suchte in einem Anfall von Hysterie und Wut aber auch Verzweiflung, irgendeine Menschenseele aufzufinden.

Doch es gelang nicht. Egal, wohin er auch lief, nirgendwo war jemand. Es hätte ihn bestimmt mit tiefster Befriedigung erfüllt, hätte er auch nur ein jämmerliches Grunzen vernommen, doch weder auf dem Postamt, noch auf der Polizeistation, noch in irgendeinem Gebäude sah oder hörte Herr K. jemanden. Eine gewaltige Sehnsucht stieg in ihm auf, wie nichts anderes wollte er jemanden sehen, egal, ob es jemand war, den er kannte, oder ob es ein Fremder war. Fremder!?

Wer war denn noch fremd, wenn niemand mehr da war? Doch, einer war fremd, und das war er selbst.

Herr K. erkannte, dass er nicht in dieses neue, fremdartige System passte, dass er einfach – unnötig war. Niemand war da, der ihm Bedeutung schenkte, und so musste er mit Entsetzen feststellen, dass er keinen Wert mehr hatte in dieser Welt. Was war sie, diese unheimliche, leere, kalte Welt, in die er geraten war? Er konnte es sich nicht erklären, auch hatte er sich noch nie ernsthaft mit dieser neuen Welt beschäftigt, obwohl sie die einzige Ursache seiner Vereinsamung, Verfremdung darstellte. Ja, Verfremdung, denn K. hatte sich erstaunlich schnell gewandelt.

Fortan nahm er seine Situation teilnahmslos hin, da er dazu gezwungen wurde, diese zu akzeptieren. Nun, auch über seine Umgebung gab es nichts zu sagen, war sie doch inhaltlos.

Es war Herrn K. nichts mehr vertraut, weil die Bedingungen völlig unterschiedlich waren. Genau genommen war ja alles normal, denn niemand außer ihm konnte vom Gegenteil sprechen. Und er war zu schwach dazu. Außerdem gab es ja niemanden, der von einem Fremden wissen wollte, wie es vielleicht einmal gewesen war. Dazu kam, dass es ihm niemand geglaubt hätte.

Herr K. dachte nie darüber nach, wie er nun weiterleben könnte. Es war ihm nicht wichtig. Es war ohnehin klar. Es war nicht möglich. Und doch trug er Hoffnung in sich, blickte immer wieder zum Himmel. Nein, nicht, um Gott um Hilfe zu bitten, sondern um Flugzeuge zu sehen, denn sie waren gleichbedeutend mit Leben.

Weiters verstand K. nicht, wieso er nun sterben müsse, nur weil er fremd war. Dieses Wort, ging es ihm durch den Kopf, war weit wichtiger, als er bisher angenommen hatte. Für Herrn K. hatte es nun zentrale Bedeutung, da alles, was er tat oder was sonst noch mit seiner jämmerlichen Lage zusammenhing, an dieses Wort gebunden war.

Herr K. kehrte in seine Wohnung zurück, tat scheinbar so, als ob nichts gewesen wäre. Der Lift war noch immer außer Betrieb, und er musste das Stiegenhaus benutzen. Nach jeder Biegung wuchs seine Aufregung gewaltig, denn Herr K. hoffte, jemand würde ihm begegnen. Doch dies war natürlich nie der Fall.

Herr K. schloss sich in sein Zimmer ein, wie die Raupe einen Kokon spinnt, um sich nach einer Verwandlung als Schmetterling wiederzufinden. Doch wie lange hatte es gedauert, bis Herr K. befreit würde, um ein neues Leben zu beginnen?

K. fing an, sich selbst zu bemitleiden. Er war nichts mehr wert, konnte alleine nicht viel ausrichten. Er war eine Minderheit, und zwar eine sehr kleine inmitten einer Welt, die nur Material besaß.

K. hasste seine Umwelt. Er zertrümmerte alles, was er finden konnte, bis er bemerkte und zur Kenntnis nehmen musste, dass seine Schläge wirkungslos waren. Er war doch fremd.

Doch als Herr K. gerade mit diesem Gedanken beschäftigt war, überkam ihn wiederum ein Schauer der Angst und des Entsetzens. Er war zu der Erkenntnis gelangt, dass er nicht mehr fremd war.

Nein, dies war seine neue Umgebung, und er war Teil seiner Welt geworden. Widerwillig. Er hasste seine Umgebung so sehr, auch den ängstlich kleinen Spiegel, der ihm Hohn zu sprechen schien, da er sein Antlitz zeigte. Mit einem Schlag war auch das Teil der Vergangenheit.

Der Stolz des Herrn K. schwand dahin, er lernte, sich zu hassen und ekelte sich vor seiner selbst, war er doch Teil seiner neuen, abscheulichen Umwelt geworden, und damit zum Selbsthass gezwungen.

Nein, das war nicht mehr Verwirrung, sondern Verzweiflung. K. rannte wutentbrannt umher, ständig sich selbst physischen Schaden zufügend. Doch war das bedeutungslos seinem psychischen Leiden gegenüber, das er fortwährend stärker ertragen musste.

Egal, wie laut er auch sie schrie, die Worte »Du bist fremd, fremd, nein, nicht mehr fremd, fremd, fremd, ... » beherrschten, nein, zwangen seinen Geist zur endgültigen Aufgabe. Herr K. musste das Unabänderliche ausführen, er konnte ihm nicht entgehen.

Diabolisch umher hetzend, bot Herr K. einen entsetzlichen, wenn auch traurigen Anblick: Der Schweiß rann in Strömen über das kaum mehr menschliche, schmerzverzerrte Gesicht, die Augen und Adern quollen hervor. K.s Hände rissen blutverschmiert und mit unheimlicher Kraft an seinem zerrauften Haar, mit gewaltiger Energie hatte sich das bedauernswerte Wesen bereits viele Zähne ausgerissen.

In diesem hoffnungslosen Zustand stürzte er auf den Balkon und hinunter, über das Geländer. Erlösung, doch Qual bis zuletzt: Die Stimmen wollten keinen Frieden, denn er war fremd.