Barbara Ritter (16)

Vorwort

Meine Worte sollen nicht verurteilend sein, oder als später Versuch,
andere für gemachte Fehler anzuklagen, verstanden werden.
Dies ist lediglich ein Versuch, das Geschehene zu verstehen und genauso zu schildern,
wie es sich zugetragen hat.

 

Ein Ende ist ein Anfang


Mein Leben ist wundervoll. Ein treffenderes Wort gibt es nicht. Vielleicht bezeichne ich mein Leben im Moment auch so, weil der Frühling beginnt, die Sonne scheint und die Natur aus ihrem Winterschlaf erwacht. Mag sein, dass der Frühlingsbeginn ein weiterer Grund für meine gute Laune ist. Aber wenn ich mich zurück erinnere, war ich schon immer glücklich. Niemand hatte es je geschafft, mir mein Lachen zu stehlen. Ich hatte eine schöne Kindheit, in der ich viel Liebe und Zuneigung bekam und meistens ein unbekümmertes Dasein pflegen konnte. Die friedlichen Kinderjahre, in denen ich behütet und umsorgt wurde, verdanke ich vor allem meiner Mutter, die immer für mich und meinen älteren Bruder da war, und uns vor den weniger glücklichen Gegebenheiten auf dieser Erde zu beschützen versuchte. Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, sind alle Erinnerungen eng mit meiner Mom verknüpft. Nur selten kann ich mich an eine Begebenheit erinnern, in der nicht ein Bild meiner Mutter auftaucht. Denke ich an meine frühen Kinderjahre, denke ich automatisch an sie. Immer an sie, nicht oft aber an meinen Vater.

Die Erinnerungen an meinen Vater sind positiv wie negativ. Es gab Situationen, in denen ich mich bei ihm geborgen fühlte, und andere, bei denen genau das Gegenteil der Fall war. Ich erinnere mich, wie ich mit meinem Vater unermüdlich das selbst erfundene Spiel »Wartichumä« spielte, und ich die Welt um mich herum vergass, weil ich solchen Spass hatte. Bei solchen Momenten hätte die Welt untergehen können, es wäre mir egal gewesen, weil ich mich geliebt und beschützt fühlte.

Ich erinnere mich aber auch an andere Situationen, bei denen ich mich ganz und gar nicht wohl fühlte. Meine Vater hatte zwei linke Hände, die ihn oft zum Fluchen brachten, und wenn er wieder einmal etwas zerbrochen oder vom Tisch geschmissen hatte, waren die Gegenstände daran schuld, sicher nicht er. (Warum fällt die Gabel auch einfach vom Tisch?!) Wenn ihm etwas nicht gelang, dann verzweifelte er, manchmal flossen nebst Schimpfwörtern auch Tränen. Seine Ungeschicktheit in handwerklichen Dingen hielt ihn stets davon ab, in unserem Haushalt kleinere Reperaturarbeiten vorzunehmen, was aber für die Schonung unseres Inventars bestimmt von Vorteil war. Im Grunde war es besser, dass er mit handwerklichen Dingen nicht viel zu tun hatte, für ihn, und für die Handwerker, die wir stattdessen bestellten.

Wenn meinem Vater etwas missglückte, dann fluchte er und Tränen der Wut liefen über sein Gesicht. Es hatte meistens den Anschein, als hätte er sich nicht mehr im Griff, und um ihn nicht in diesem Zustand zu sehen, entzog ich mich seiner Gegenwart. Ich konnte ihn nicht sehen, wenn er in solcher Verfassung war, geschweige denn konnte ich es ertragen, sein Gemisch aus Weinkrampf und Fluchwörtern zu hören. Musste ich doch während einer seiner Fluch- und Weinkrämpfe in seiner Gesellschaft bleiben, kam ich mir wie eine Erwachsene vor, die einen kleine Jungen, dessen Sandburg jemand zerstört hatte, trösten musste.

Zum Glück wurde seine Ausraster nicht von Gewaltausbrüchen begleitet. Aber es war auch so niederschmetternd genug, einen erwachsenen Mann in einem solchen Zustand zu sehen. Meine Mutter äusserte sich nie zu seinem Verhalten, sie war immer darauf bedacht, die Situation zu entkräften, indem sie die missratene Sache eigenhändig zu Ende führte, und den Vorfall dann vergass. Das hatte sie immer getan. Sich über ein Thema ausschweigen, und wenn des Schweigens genug war, die Sache unter »abgeschlossen« zu verbuchen.

Als sie mit meinem Vater verheiratet war, war das ihre Art, Probleme zu lösen. Das war bestimmt ein weiterer Grund, warum sie die kaputte Ehe weiter aufrechterhielt; sie wollte die Tatsache, dass ihre Ehe gescheitert war, nicht einsehen, und hielt den Mund, anstatt die Schritte einzuleiten, die uns vor tränenreichen Nächten bewahrt hätten. Aber sie wusste es nicht besser und führte ihr Leben als unglückliche Ehefrau weiter, in der Hoffnung, dass ein Wunder geschähe. Sie fristete ein deprimiertes Gattinnendasein, wo sie doch im Grund hätte glücklich sein können, hätte sie den Mut aufgebracht, die Scheidung einzureichen oder sich wenigstens zu trennen. Ein Leben ohne Ehemann hätte ihr bestimmt nicht zugesetzt, denn sie war und ist eine starke, selbstbewusste Frau, die sich nicht unterbuttern lässt. Aber es war ihre erste Ehe und die Tatsache, dass sie zwei Kinder hatte (damals etwa acht und zehn Jahre alt), hinderten sie daran, ihre Koffer zu packen und ein neues Leben zu beginnen. Es ist nicht lange her, als sie mir sagte, es sei ein Fehler gewesen, solange ein Leben als unglückliche Ehefrau zu fristen.

Ich weiss nicht, ob mein Vater in dieser Ehe glücklich war; ich habe ihn nie danach gefragt. Ich nehme an, dass auch er sich ein anderes Leben gewünscht hätte, denn er betrog meine Mutter mit anderen Frauen. Ich fragte mich, ob Langeweile der Grund war, aber ich denke, dass er mit seiner Ehe auch so nicht zufrieden war.

Meine Mutter kam den Affären bald auf die Schliche, denn die Existenz von Papas anderen Frauen wurde durch den Fund von fremden Haarnadeln und Lipstiks im Auto, Berichte von Bekannten und der Tatsache, dass die Hemden meines Vaters oft nach Frauenparfüm rochen, bestätigt. Meine Mom fühlte sich verraten und betrogen. Anfangs aber hielt sie den Mund und bemühte sich, keine lauten Dispute heraufzubeschwören, um meinen Bruder und mich nicht zu verängstigen. Doch ihr Herz war gebrochen, und länger konnte sie diesen Zustand nicht ertragen. Sie war enttäuscht und wütend zugleich.

Sie hatte versucht, ihre Gefühle vor ihren Kindern zu verbergen, aber wir merkten trotzdem, dass sie unglücklich war und etwas nicht stimmte. Sie war unglücklich, und folglich war ich es auch. An einem Mittag sah ich sie weinen und das gab mir den Rest. Irgendetwas, wovon ich keine Ahnung hatte, was es war, war geschehen, und ich wusste, dass es sich nicht mehr einrenken würde.

Schliesslich brach meine Mutter ihr Schweigen und warf meinem Vater vor, sie betrogen zu haben. Er wurde wütend und stritt alle Vorwürfe vehement ab, obwohl die gefunden Frauenutensilien seine Taten eindeutig bewiesen. Von da an stritten sie öfters.

Ich weiss nicht, wann es angefangen hat. Schon früher haben sie sich manchmal gestritten, aber immer haben sie sich versöhnt und sind wieder normal miteinander umgegangen. Sobald ein Streit beendet war, nahm der gewohnte Lauf seinen Gang.

Doch nachdem meine Mutter sich entschlossen hatte, den Mund nicht länger zu halten, wurden die Debatten meiner Eltern häufiger und dauerten länger als gewöhnlich. Ausserdem änderte sich der Tonfall, in dem sie zu einander sprachen.

Zu dieser Zeit, ich musste etwa neun Jahre alt gewesen sein, hatte ich auch damit angefangen, mich in meinem Zimmer einzuschliessen. Ich wollte allein sein und genoss die Abgeschiedenheit in meinen vier Wänden. Die Gesellschaft meines Teddybärs genügte mir, und wer die Frechheit besass, mich in meiner Welt zu stören, wurde mit dem Knallen einer Tür oder mit einem Schwall von Schimpfwörtern vertrieben. Das Alleinsein gewann für mich mit den Jahren immer mehr an Wichtigkeit. Mein Zimmer wurde meine Festung, die ich mit aller Gewalt verteidigte. Die Vertrautheit meines Zimmers und die Tatsache, dass ich in dieser kleinen Welt ungestört war und mich mit keinen Problemen auseinandersetzen musste, gab mir ein Gefühl der Geborgenheit. Der Rückzug in meine Burg bewahrte mich davor, mit der Aussenwelt kommunizieren zu müssen, und die Geschehnisse ausserhalb meiner vier Wände mitzubekommen. Im Nachhinein glaube ich, dass mir das Alleinsein selbst von keinem grossen Nutzen war, aber es beschützte mich davor, mitanzusehen, wie unsere Familie langsam auseinanderfiel.

Der Schutz meines Zimmers vor der Aussenwelt war der Grund dafür, dass ich mich immer öfter darin zurückzog. Ich hatte eine Möglichkeit gefunden, meiner Familie in den entscheidenden Momenten aus dem Wege zu gehen. Doch wie jedes andere Kind wünschte ich mir eine Familie, die beisammen sass, zusammen lachte und in der es keine Probleme gab. Ich kapselte mich immer mehr ab, und träumte von einer perfekten Familie. Die Realität sah anders aus. Meine Eltern waren schon so weit, dass sie keine fünf Minuten in einem Zimmer sein konnten, ohne dass ihr Streit von Neuem ausbrach. Die Streitpunkte waren meist Papas Affären. Ich hasste meine Eltern, wenn sie sich stritten. Ich verabscheute ihre Worte. Wie konnten sie nur so gemein zu einander sein? Die Versuche, die beiden zu versöhnen, waren immer gescheitert, die Gründe für ihren Ehekrach waren so schwerwiegend, dass keine der beiden Parteien zu einer Versöhnung bereit war. Die Hoffnung auf ein normales Familienleben hatte ich aufgegeben und ich war es leid, die beiden nur streiten zu hören. Ich beschloss, sie so abscheulich wie nur möglich zu behandeln, weil sie es meiner Meinung nach nicht besser verdient hätten, vielleicht auch, um sie dafür zu bestrafen, dass sie mir Kummer bereiteten. Mein Groll gegen sie wuchs und meine Liebe zu ihnen schlug in Verachtung um. Wie sollte ich meine Eltern lieben, wenn sie sich selbst nicht mehr lieb hatten und darauf bedacht waren, dem anderen zu schaden? Ausserdem fragte keiner von beiden, ob mein Bruder und ich in irgend einer Weise unter ihrem ständigen Krach litten. Ich fand ihr Verhalten egoistisch und höchst unfair ihren Kindern gegenüber. Ohne es zu merken, hatte ich mich so weit von ihnen abgekapselt, dass sie mittlerweile Fremde geworden waren. Sie waren nicht mehr meine Eltern, denn Eltern lassen ihre Kinder nicht leiden, und Freunde waren sie auch nicht mehr, denn Freunde hat man lieb, und dass bekamen wir immer weniger zu spüren. Sie waren nichts anderes als Fremde, die ich Mama und Papa nannte. Jedenfalls redete ich mir ein, mit diesen Leuten nichts zu tun zu haben.

Die Fronten wurden verhärtet und der Hass grösser. Von einem normalen Familienleben war nicht mehr zu sprechen. Ich mochte meine Eltern nicht mehr, sie konnten mich kreuzweise. Schliesslich war ich soweit, dass ich ihre Streitigkeiten mit gnadenloser Ignoranz beantwortete, kein Wort mehr mit ihnen sprach, und das einsame Leben in meinem Zimmer für das Beste hielt, was mir passieren konnte. Ich war der festen Überzeugung, dass mir die Streitigkeiten von Ma und Pa am Arsch vorbei gingen und sie mich weder beeindruckten noch verletzten. Tatsächlich kaufte ich mir diesen Quatsch ab. Von wegen das alles ginge mich nichts an und wäre mir egal! In Wirklichkeit standen mir die Tränen zuvorderst, was ich aber nie zugegeben hätte. In meinem Innern war ich tief verletzt.

Jedesmal fürchtete ich mich davor, dass sich unsere Haustüre öffnete und mein Vater nach Hause kam. Denn sobald er einen Fuss in unser Haus setzte, ging der Krach von Neuem los, jedesmal, ohne Ausnahme. Niemand konnte etwas dagegen tun. Die Versuche, ihren Streit zu schlichten und sie zu einem normalen Umgang miteinander zu bewegen, waren gescheitert, und wir hatten aufgegeben. Auch unsere besten Absichten reichten nicht, um über die riesige Kluft, die sich zwischen meinen Eltern gebildet hatte, eine Brücke zu bauen. Der letzte Versuch, den wir unternahmen, bestand darin, die beiden Elternteile so weit von einander fernzuhalten, dass sie sich nicht in die Haare kamen. Doch auch diese Bemühung schlug fehl und wir gaben uns geschlagen. Nur eine Möglichkeit war geblieben: uns mit »der Sache« abzufinden und so gut wie möglich mit ihr umzugehen. Doch weil wir akzeptierten, dass unsere Familie kaputt war, zerstörten wir auch die Erinnerungen an glückliche Tage.

Langsam hatte sich das Geräusch ihrer ständigen Streitgespräche in unsere Gehörgänge gefressen. Ich hörte ihre erbosten Stimmen überall, in der Schule, beim Reiten, während ich schlief. Wo ich mich auch befand, der erzürnte Redeschwall begleitete mich. Ich versuchte alles, um ihre Stimmen loszuwerden, doch sie verfolgten mich, wohin ich auch ging. Schliesslich erklärte ich mich für geisteskrank, weil ich meine Eltern an den unmöglichsten Orten streiten hörte, und danach merkte, dass alles nur Einbildung gewesen war. Panik stieg in mir auf, denn ich zweifelte an meinen Verstand.

Früher schlief ich immer schnell ein, und nichts und niemand konnte mich aus dem Schlummerland holen. Doch nun wachte ich mitten in der Nacht auf, weil ich ihre Stimmen wieder hörte, doch als ich vor meine Tür trat, um zu lauschen, war da nichts. Wieder eine Einbildung. Doch zu meinen ständigen Einbildungen kam ein weiteres Problem. Obwohl mein Vater nie gewalttätig gewesen war, fürchtete ich, er würde meiner Mom etwas antun, irgendwann, wenn bei beiden vor lauter Geschrei die Sicherungen durchbrannten. Nun wurde ich nicht nur von ihren Stimmen verfolgt, die Angst um meine Mutter kam dazu. Sobald ich sie nicht mehr hätte, wäre ich allein.

Wenn ich wieder einmal schweissgebadet aufwachte, weil ich sie streiten hörte, stand ich auf, und meine Füsse bewegten sich automatisch in Richtung Elternschlafzimmer. Dort setzte ich mich leise auf den Boden, verharrte still und lauschte nach Moms Atemgeräuschen. Sie waren ein Indiz dafür, dass es ihr gut ging. Ihre regelmässigen Atemzüge beruhigten mich und liessen mich, nachdem ich zurück ins Bett getapst war, wieder ruhig schlafen.

Doch in einer Nacht, als ich dreizehn war, wurden meine Befürchtungen Wirklichkeit. Es war die Nacht, die unser aller Leben drastisch veränderte. Folgende Zeilen schrieb ich am nächsten Tag in mein Tagebuch:

»Wieder einmal erwachte ich mitten in der Nacht, weil ich sie streiten hörte. Wieder eine Einbildung, dachte ich. Doch dann bemerkte ich das Brennen der Flurlampe, und sogleich hörte ich die Kellertür, die jemand mit Wucht zugeschlagen hatte. Die Angst um meine Mom, die schon lange von mir Besitz ergriffen hatte, weitete sich nun in meinem Körper aus und machte mir das Atmen schwer.

Ich glaube nicht, dass jemand mein Wimmern hörte. Ich hatte meine Decke über mich gezogen und weinte still in mich hinein. Ungewollt schlotterte ich, nicht etwa, weil die Temperatur gesunken war, ich hatte meinen Körper einfach nicht mehr unter Kontrolle.

Ich begann zu singen, ganz leise, summte vor mich hin, wollte den Klang ihrer Stimmen aus meinem Kopf vertreiben. Das Schreien meiner Mutter hallte durch unser Haus und liess mich zusammenzucken. Ich kämpfte gegen meinen vor Angst gelähmten Körper an, stiess die Decke zurück und taumelte aus meinem Zimmer.

»Ich muss meine Mom beschützen!« befahl mir mein Verstand.

Nach Luft ringend tastete ich mich den Flur entlang. Am Treppenabsatz blieb ich stehen, weil sich meine Füsse nicht mehr bewegen liessen. Ich hörte meine Mom schreien, meinen Vater fluchen, und plötzlich erkannte ich die Stimme meines Bruders, die genauso angstvoll klang wie die meiner Mutter. Ich wagte nicht, in den Keller hinunterzublicken, ich wollte dieses Bild nicht sehen. Ich hörte ein Klatschen, wahrscheinlich eine weitere Ohrfeige, die mein Dad meiner Mom verpasste. Die nächste Schlag meines Vaters erreichte sein Ziel nicht, weil sich mein Bruder schützend vor unsere Mutter gestellt hatte. Der Mann, der bis anhin noch mein Vater gewesen war, trat gegen die Wand und fluchte.

Ich hatte mich gegen eine Wand gelehnt und lag zusammengerollt auf dem kalten Plattenboden. Hilflosigkeit machte sich in mir breit. Ich konnte nicht mehr atmen, weil ich einen starken Asthmaanfall bekam. Schliesslich betete ich zu Gott. Was bleibt einem Kind, das innerhalb einer Minute den Glauben an die Familie verloren hat, auch anderes übrig, als bei dem einzigen, der übrigbleibt, Schutz zu suchen?

Ich betete zu Gott, er solle dieser Situation ein Ende setzen und die Zeit zurückdrehen. Aber nichts geschah. Kraftlos blieb ich liegen, weil ich mittlerweile gar nicht mehr atmen konnte, aber wenn ich ehrlich bin, wollte ich es auch gar nicht mehr. Was hatte es denn noch für einen Sinn, ständig zu atmen?

Einen Augenblick musste ich eingeschlafen, oder ohnmächtig geworden sein, denn als ich wieder zu mir kam, atmete ich wieder recht normal. Als ich hörte, wie mein Vater die Treppe hinauf stieg, schleppte ich mich in mein Zimmer zurück. Wenn ich nie jemandem erzählte, dass ich die ganze Szene mitbekommen habe, würde ich sie vielleicht selbst eines Tages vergessen können. Also schloss ich meine Zimmertür und hoffte, dass sich meine Eltern wieder einkriegen und ihren Streit für heute Nacht beenden würden.

Doch nichts dergleichen geschah, mein Vater brüllte und meine Mutter weinte. Die Stimme meines Bruders vernahm ich nicht mehr. Wieder kroch Angst durch meinen Körper, denn nun war niemand mehr da, der meine Mom beschützte. Ich nahm all meinen Mut zusammen, setzte mich auf und öffnete die Tür meines Zimmers.

Mit tränenverklebten Augen blickte ich meinen Vater an, der nur verständnislos auf mich nieder sah. Auch meine Mutter weinte. Der Anblick, wie ich mit Pyjama und verweinten Augen vor ihnen stand, veranlasste meinen Dad wohl dazu, ins Gästezimmer zu verschwinden, und meine Mom, die bis anhin nur da gestanden hatte, nahm mich in die Arme. Sie trug mich in das Elternschlafzimmer und setzte mich auf die Bettseite, in der mein Vater zu schlafen pflegte. Sie löschte die Lichter in unserem Haus und vergewisserte sich, dass mein Bruder in seinem Zimmer war und zu schlafen versprach. Dann legte sie sich neben mich, deckte sich zu und meinte, ich solle mir keine Gedanken machen und den nächsten Tag abwarten. Ich erwiderte nichts; ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Mom sagte, ich solle die Augen schliessen und schlafen, ich müsste keine Angst haben. Um ihr weiteren Kummer zu ersparen kam ich ihrem Wunsch nach und stellte mich schlafend, doch ich bekam kein Auge zu. Noch immer war mein Körper wie gelähmt. Erst als das spärliche Licht der Morgendämmerung durch die schmalen Ritzen des Rollladens fiel, schlief ich endlich ein.«

Mein Vater war bereits fort, als ich erwachte. Meine Mom war schon aufgestanden und hatte sich um den Haushalt gekümmert. Mein Bruder leistete ihr Gesellschaft. Als ich in die Küche trat, und Milch aus dem Kühlschrank holen wollte, versuchte meine Mutter sofort, ein Gespräch zu beginnen. Sie meinte, das alles wäre nicht unsere Schuld und ich solle diese Nacht vergessen…

Reden war das Letzte, was ich nach so einer Nacht tun wollte. Warum konnte sie mich nicht einfach in Ruhe lassen? Ich redete mir ein, dass nichts geschehen war und mich die Ereignisse der letzten Nacht unberührt liessen. Doch dem war nicht so. Die plötzliche Unfähigkeit, klare Gedanken zu fassen und konzentriert zu arbeiten, hielt an. Mein Notenschnitt sank zusehends, und der fröhliche Gesichtsausdruck, mit der ich meinen wahren Gefühlszustand üblicherweise tarnte, wollte mir gar nicht gelingen. Meine Freunde registrierten schnell, dass irgendetwas geschehen war. Doch als mich meine Freundin darauf ansprach, schob ich meine Laune dem misslichen Wetter zu.

Diese Nacht hatte alles verändert. Ich fühlte, dass nun etwas passieren musste. Nun war der Zeitpunkt gekommen, bei dem niemand mehr die Augen schliessen und über die Fakten hinwegsehen konnte. Etwa eine Woche später zeichnete ich den grossen Schriftzug »Lieber eine Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende« auf ein Blatt Papier, das ich auf dem Kopfkissen meiner Mom platzierte. Sie las meine Worte und fragte mich, ob ich dies wirklich ernst meine, was ich mit einem Nicken beantwortete. Vielleicht war dies der Wink, den sie schon lange benötigt hätte.

Meine Mom reichte die Scheidung ein. Mein Vater richtete sich eine Wohnung über seinem Büro ein, und zog aus. Ich erinnere mich an seinen Auszug. Nachdem die Haustür hinter ihm geschlossen war und wir alle wussten, dass er dieses Haus nicht mehr betreten würde, kehrte Ruhe ein. Mein Schlaf wurde wieder tief und fest, die Alpträume verschwanden sofort. Meine Mom schmiss den Haushalt nach wie vor allein. Verändert hatte sich nur die Tatsache, dass unsere Familie nun aus drei Köpfen bestand. Wir alle fühlten uns frei, und tiefer Frieden erfüllte unser Haus und unsere Herzen. Meine Noten verbesserten sich, ich bestand sogar die Aufnahmeprüfung für das Untergymnasium. Von nun an verlief mein Leben in normalen Bahnen, ohne Angst, ohne Tränen.

An einem sonnigen Herbsttag brachte meine Mom die Scheidung durch, was wir mit Champagner feierten. Sie bekam das Sorgerecht für uns.

Meine Vater sah ich nun alle drei Wochen. Wir hätten ihn öfters besuchen können, aber der Dreiwochenrhythmus hatte sich im Laufe der Zeit eingependelt. Anfangs war mir komisch zu Mute, als ich meinem Vater gegenüberstand. Die Wut brodelte immer noch in mir und die Vergangenheit war so präsent, dass es mir unglaublich schwer fiel, die zornigen Gefühle zu unterdrücken. Erst der gewonnene Abstand und die Zeit, die tatsächlich Wunden zu heilen vermag, lösten die gereizte Stimmung. Nach einiger Zeit, als sich jeder ein neues Leben aufgebaut hatte, fiel es mir plötzlich leichter, die Dinge objektiv zu betrachten. Ich sah ein, dass jeder während der Scheidungszeit gelitten hatte. Langsam baute sich zwischen mir und meinem Dad wieder eine neue Beziehung auf. Mit Zufriedenheit bemerkte ich, wie mein Vater immer glücklicher wurde und freute mich mit ihm über sein neues Leben.

Meine Mutter lebte auf. Ihre Augen strahlten, ihr Enthusiasmus kehrte zurück, sie war die gute Laune in Person. In ihren Augen brannte wieder das lebensfreudige Feuer, das ich in ihrem Blick schon lange vermisst hatte. Die Scheidung hat die Freude zurück in ihr Leben gebracht. Ich verstehe mich gut mit ihr, abgesehen von den üblichen Muttertochterkonflikten.

Wie mein Bruder die Vergangenheit verkraftet, weiss ich nicht. Wir sprechen nie darüber. Ich hoffe für ihn, dass er, genau wie ich, die Kraft findet, die Vergangenheit abzuschliessen und sich neuen Horizonten zu öffnen.

Jede Scheidung hat seelische Folgen, für die Eltern und auch für die Kinder. Sind wir nach diesem traumatischen Erlebnis nun psychische Krüppel? Das lässt sich nicht sagen, glaube ich. Mag sein, dass uns das Beispiel unserer Eltern vorsichtig in Sachen Beziehung gemacht hat, und wir der Ehe nun misstraulicher gegenüber stehen. Ich kann nur für mich selbst sprechen und sagen, dass ich gelernt habe, meine Ellbogen zu benützen und Nägel mit Köpfen zu machen. Für das Glück muss man manchmal hart kämpfen.

Aber ich glaube, die wichtigste Lehre, die ich aus dem ganzen Schlamassel gezogen habe, ist, dass es etwas Schwierigeres gibt, als zu lieben oder zu hassen: es ist die Gabe zu verzeihen. Hass ist eine gleich starke, psychische Verbindung wie Liebe. Beide Gefühle zeugen davon, dass noch immer eine Bindung besteht, die einen daran hindert, loszulassen. Ich für meinen Teil habe meinen Eltern verziehen, obwohl dies seine Zeit gebraucht hat. Wenn ich meinem Vater heute in die Augen schaue, sehe ich einen Mann, gegen den ich keine Vorwürfe einzubringen habe, oder Groll empfinde. Der gewonnene Abstand hat uns beiden ermöglicht, nochmals neu anzufangen, ohne den Druck der Vergangenheit zu spüren.

Nun bin ich sechzehn und die Scheidung ist fast drei Jahre her, doch in der Gegenwart eines Elternteils kann man noch immer nicht den Namen des jeweils anderen erwähnen. Sie hassen sich noch immer. Manchmal macht mich diese Tatsache verrückt. Es ist nicht leicht, ein Scheidungskind zu sein. Beide Parteien erwarten von uns Kindern, dass wir auf ihrer Seite stehen. Sie zwingen uns regelrecht, uns zwischen ihnen zu entscheiden. Bringe ich ein gutes Wort über Papa ein, meint Ma, ich wäre auf seiner Seite. Das gleiche bei meinem Vater. Merken die beiden denn nicht, dass es in diesem Fall keine Seite gibt, auf die man sich stellen kann? Ich bin ihre Tochter und sie sind meine Eltern, ob ich will oder nicht, und ihre Scheidung soll ihnen das Recht geben, die Tatsache zu ignorieren, dass sie beide für meine Entstehung verantwortlich sind und ich einem von ihnen dafür mehr Dankbarkeit entgegenbringen soll? Manchmal führen sie sich deswegen auf wie Kinder, die um einen Legobaustein streiten.

Wir haben alle ein neues Leben begonnen, in dem neue Gesichter aufgetaucht sind. Die Scheidung hat uns allen das Glück zurückgebracht. Ich möchte kein Ereignis in meinem Leben ungeschehen machen, kein Geschehnis hat mir je den Lebensmut geraubt. Denn: Jedes Ende ist ein Anfang.