Judith Rifeser (16)

Scherben

Hastig sammelt sie die Scherben wieder auf und beginnt von vorn. Ihre Hände zittern. Die Haare kleben an der Stirn. Sie presst ihre Lippen gegeneinander. Versucht es. Das Glas bricht – wieder. Immer wieder. Immer mehr Scherben. Kleine. Große. Hektische Bewegungen, verzweifelter Blick.

Sie hatte so ein Lächeln, das ihre großen, grünen Augen zum Leuchten brachte. Unwiderstehlich. Damals als die Welt noch in Ordnung war. Sie genoss jeden Sonnenstrahl auf ihrer Haut. War verliebt, zu glücklich, zu naiv. Sie konnte nicht ahnen, dass am makellos blauen Himmel doch irgendwann, irgendwie Wolken – graue, schwarze – aufziehen. Erst nur eine kleine, unscheinbare, dann immer größere. Bedrohlich. Sie drängen sich aneinander, dicht wie eine Mauer. Oder wollte sie es nicht merken? Es war doch nicht zu übersehen. Das Gewitter über ihr.

»Ach, das kriegen wir schon wieder hin«, beruhigte sie sich selbst. Dass ihr Mann nachts schon längst nicht mehr bei ihr lag, damit hatte sie sich abgefunden. Nein, eigentlich glaubte sie, es sei nur eine Phase, die bald vorüber ging. Wichtig war nur, dass er am Sonntag mit in die Kirche kam.

»Die Nachbarn dürfen nichts merken, nein, nein. Sie werden nichts merken. Sicher, ganz sicher.«

»Ja, Frau Maier, uns geht es prächtig. Ich hab so ein Glück. Männer wie Frank gibt es nur ganz selten. Er ist so liebevoll und arbeitet unheimlich hart, nur damit wir jeden Abend ausgehen können.«

Niemand sollte merken, dass ihr Leben schon längst Sprünge bekommen hatte, wie das Glas. Vergeblich versuchte sie, die winzigen Sprünge zu übersehen. Hoffte, es würde dabei bleiben, bei den nächtlichen Ausflügen, die ihr Mann manchmal machte. Doch sie wurden immer häufiger und das Bankkonto leer. Unübersehbar. Für jeden.

Helft ihr! Lasst sie nicht allein! Oder merkt Ihr etwa nichts? Tut doch nicht so! Scheinheiliges Pack! Ihr Mann schleicht sich nachts aus dem Haus, sucht Trost – muss er getröstet werden? – bei einer anderen. Lügt nicht! Ist es nicht so? Habt Ihr nicht gesehen, wie sie die Kronleuchter und das Klavier in den Möbelwagen gepackt haben. Für wohltätige Zwecke, oder wie? Tut doch nicht so! Schaut doch nicht weg! Ihr macht es Euch aber verdammt leicht! Es geht Euch ja nichts an.

Endlich hat sie es geschafft, die Glasscherben zusammenzukleben. Sie atmet tief durch, versucht ein Lächeln. Doch ihr Mund verzieht sich nur, wie von Schmerzen gequält. Die Furchen, die sich tief in ihre Haut gegraben haben, sind nicht zu übersehen. Ihre farblosen Augen starren auf das Glas. Krampfhaft umklammert sie es mir ihren schlanken Händen. Die Venen treten hervor, jeder einzelne Muskel ist angespannt. Fest muss sie es halten. Sie darf nicht nachgeben.

Sie spielt ihre Rolle richtig gut, nicht? Und Ihr, Ihr seid das perfekte Publikum für sie. Applaudiert zur richtigen Zeit. Es geht ihr dreckig und Ihr schaut zu! Gut so! Weiter so! Nur nicht fragen warum, wieso? Eh unwichtig.

Sie umklammert noch immer das kaputte Glas. Drückt und drückt. Sie hat Angst. Unglaubliche Angst vor dem, was passiert, wenn sie loslässt. Plötzlich und ohne Vorwarnung. In ihrer kranken Hilflosigkeit wird der Druck immer stärker. Sie will es zusammenhalten, das Glas und ihr Leben. Verdeckt die Stellen, mit Klebstoff verbunden, wie sie es immer schon gemacht hat. Nein, nein. Sie gibt nicht auf. Sie kann nicht. Ihre Verzweiflung ist stärker als sie. Es wird alles wieder gut. Wird wieder gut. Nur nicht aufgeben. Bitte, bitte. Sie hält es fest, so fest sie kann. Fester, fester …

Auf dem Küchentisch liegen Scherben. Sie hat das Glas zusammengedrückt in der Übereifrigkeit ihres Lebens. Aussichtslos. Nicht reparierbar. Sie würde sich nur weh tun dabei.

Langsam steht sie auf und wirft eine Scherbe nach der anderen in den Müllkorb. Das alte Leben fällt in die Tiefe, mit einer Träne. Sie geht.