Regina Rieger (17)

Doppelgänger?

»Ich bin ein natürlicher Klon – so beschreibt zumindest die heutige Wissenschaft eineiige Zwillinge, zwei Menschen, die sich aufs Haar gleichen – oder gleichen könnten wenn sie den gleichen Kleidungsstil oder die selbe Haarlänge und Frisur hätten. Meine Schwester und ich – ich kann mir kaum vorstellen, dass unsere Gene wirklich identisch sind. Wir sind gleich groß, haben eine ähnliche Schrift. Aber deswegen sind wir noch lange nicht gleich! Diese gefühlsduselige Volksmeinung! Wenn es nach dieser Wunschvorstellung ginge, würde ich nur mehr an meiner Schwester kleben. Doch ich sitze nicht einmal in der Schule neben ihr. Das wäre ja auch nervtötend, denn Mia steht immer im Vordergrund. Sie ist immer die Hauptfigur. Ich weiß nicht, ob es das Lächeln ihrer strahlenden Augen ist oder ihre offene Art auf andere zuzugehen, die sie so beliebt macht«, schrieb ich in mein Tagebuch.

In diesem Moment klopfte es an meiner Zimmertür. Es war schon spät. Ich lag schon im Bett.

»Herein!«

Mia trat leise ein und lächelte. Irgendwie fehlte ihrem Lächeln diesmal jedoch der Glanz. Das merkte ich allerdings erst, als ich mein Tagebuch weggelegt hatte. Es ging hoffentlich nicht wieder um so etwas Lächerliches wie ein neues Gedicht, das unseren Eltern nicht gefallen hatte. Aber gleichzeitig spürte ich, dass es das nicht sein konnte und schämte mich für meine Gedanken. Ich schwieg und wartete, bis sie sich auf mein Bett gesetzt hatte. Immer wieder sah Mia mich kurz an, studierte dann aber jedes Mal das Blumenmuster meiner Bettwäsche.

Wenn Mia und ich neue Leute kennenlernen, ist es im Allgemeinen so, dass sie durchgehend Neues zu erzählen weiß. Ich halte mich zuerst zurück. Mit ihrer naiven Direktheit könnte jemand wie ich nämlich auch in ein Fettnäpfchen nach dem anderen treten.

Auch wenn wir mit Philipp, einem Klassenkameraden, von der Schule nach Hause gingen, war das so: Die beiden diskutierten über unseren Englischlehrer und ich lief, in meine eigenen Gedanken versunken, nebenher. Über einen Englischlehrer diskutieren! Das machen doch nur Fünftklässler, für die es nichts anderes als Schule gibt! Philipp konnte sich genauso wie Mia ereifern, über die Unterrichtsmethoden herziehen. Als ob es nicht allgemein bekannt wäre, dass Lehrer Pseudopädagogen sind! Vielleicht kam sein Eifer aber auch daher, dass er mit Mia mithalten wollte. Man mußte sich schon anstrengen, dass man neben Mias Schwärmerei oder scharfer Kritik noch etwas herausbrachte, das genauso wichtig klang. Oder hatte er ein Auge auf sie geworfen? Mein Gefühl sagte mir, dass er immer häufiger ihre Nähe suchte. Dann gesellte ich mich oft dazu. Nur um zu sehen, ob dieses Gefühl recht hatte, oder nicht. Eine Klassenkameradin fragte mich grinsend, ob ich vielleicht eifersüchtig sei. Empört verneinte ich. Wegen so einem eingebildeten Kerl doch nicht!! Noch dazu hatte er, als er vor einem halben Jahr hierher gezogen war, unbedingt den typischen Zwillingsschwesternmythos in uns sehen wollen. Ihr Verdacht war völlig absurd. Was mir dennoch auffiel, war, dass Mia und er wohl gut zueinander passen würden. Mia überließ ihm sogar öfter das Wort, aber warum sollte sie ausgerechnet ihn wollen? Sie könnte ja eigentlich jeden haben! Was dachte ich denn da! Kein Wunder, das mich die anderen für eifersüchtig hielten!

Jetzt saß Mia also auf meinem Bett. Warum rückte sie nicht einfach heraus mit der Sprache? Ich atmete einmal tief durch und setzte mich ihr direkt gegenüber. Nun erwiderte sie meinen Blick. Ihre Lippen zuckten ein paar Mal, bevor sie anfing: »Du hast dich in Philipp verliebt, nicht wahr?« Das sagte sie nicht mitleidig und ohne jeder Spur von Angabe, er interessierte sich wohl eher für sie als für mich. Sie stellte den Satz nur in den Raum. Mit einer Gewißheit in der Stimme, der ich nicht widersprechen konnte.

Jetzt war ich es, die den Blick senkte, die das Muster der Bettwäsche spannend fand.

»Ich wollte dir nur sagen, dass ich es weiß und dass er…«

»Dass er sich in dich verliebt hat?!« fuhr ich sie an. Mein Atem ging schneller. Was fiel ihr eigentlich ein, mich einfach so darauf anzusprechen! Mia presste ihre Lippen aufeinander und stieß langsam Luft aus, wie um sich selbst zu beruhigen. Da sie mich in keiner Weise von oben herab behandelte, hatte ich eigentlich kein Recht darauf, wütend auf sie zu sein. Sie hatte ja bloß die Wahrheit offen ausgesprochen.

»Lass mich doch zu Ende reden!« forderte sie, behielt aber ihre innere Ruhe. »Was würde ich denn gewinnen, wenn ich ihn hätte und dich dadurch ganz verlieren würde?«

Ich erinnerte mich an einen Satz aus einem kitschigen Jugendroman, der hieß: Jungs kommen und gehen, aber echte Freundschaft bleibt.

Freundschaft? Mia sah in mir, ihrer Zwillingsschwester, die sie oft in Gedanken beschimpfte, eine echte Freundin? Ich schluckte. Ihre Augen waren fest auf meine gerichtet. Schließlich fand ich den Mut und erwiderte ihren Blick.

Ich glaube, in diesem Moment, sahen unsere Gesichter zum ersten Mal wie Spiegelbilder aus.