Daniela Pesendorfer (18)

Wie Ikarus

Ich wachte auf, und er lag nicht neben mir. Ich musste für einige Minuten eingeschlafen sein, denn wären es Stunden gewesen, hätte ich wohl geträumt. Doch ich konnte mich an keinen Traum erinnern, obwohl ich ansonsten immer im Stande dazu war. Benommen drehte ich den Kopf, um neben mich zu blicken. Nur die Mulde im Kopfkissen zeugte davon, dass er noch bis vor kurzer Zeit hier gelegen haben musste.

Warum war ich nur eingeschlafen? Ich hatte mir doch vorgenommen, auf ihn acht zu geben, wenn er wieder versuchen sollte, auf das Fensterbrett zu klettern, um mir endlich zu beweisen, dass er, wie Ikarus, der Sonne entgegenfliegen konnte. Es war nicht immer so schlimm mit ihm gewesen. Es hatte auch schöne Zeiten gegeben – doch war es klug von mir gewesen, dafür diese täglichen Ängste auszustehen, die Sorge um ihn in Kauf zu nehmen. Und überhaupt: Konnte Liebe alles ertragen? Schnell hatte ich damals gesagt: »Ich würde für dich sterben, darum werde ich dich in dieser schweren Zeit nicht im Stich lassen!« Und ich war ihm beigestanden, wenn er sich über der Kloschüssel die Seele aus dem Leib gekotzt hatte oder plötzlich mitten in der Nacht mit Schweißausbrüchen aufgewacht war, mit der festen Überzeugung, vom Teufel persönlich verfolgt zu werden.

Doch dabei blieb es nicht. Es wurde immer schlimmer und er begann, mich mit hinunter zu ziehen. Immer weiter und weiter, bis auch ich den Boden unter den Füßen zu verlieren schien.

Zu diesem Zeitpunkt verstand ich auch das allererste Mal, wie wenig Sinn die Worte: »Ich würde für dich sterben« doch im Grunde hatten. Sterben. Was ist das schon. Sterben. Sterben ist nicht schwer. Jeder kann es. Doch für einen Menschen durch die Hölle zu gehen, jeden Tag auf dem Drahtseil zu spazieren und ihn nebenbei festzuhalten, erschien mir als die größte Liebeserklärung.

Diese Sorgen Tag für Tag, er könnte tot sein, fraßen an mir. Fraßen ein Loch in mein Herz und meine Seele. So hatte er es doch geschafft, dass ich starb. Jeden Tag starb mein Inneres ein bisschen mehr und mein Körper fuhr fort, dahinzuvegetieren, nur mit dem einen Ziel: Ihn nicht alleine zu lassen!

»Warum machst du das nur immer wieder mit – du kannst ihm nicht helfen, wenn er es nicht zulässt!«, hatten mir meine Freunde täglich einzubläuen versucht. Und eines Tages fragte ich mich, warum ich es wirklich tat.

Tat ich es, weil ich ihn liebte? Tat ich es, weil ich Angst davor hatte, alleine zu sein?

Oder tat ich es vielleicht aus dem einen Grund, der mir sagte, nein, der mir zuzuschreien schien, dass er mich brauchte? Nur mich alleine? Oder war es ein überheblicher Gedanke, zu behaupten, dass es einen Menschen gibt, der nur für mich alleine geschaffen worden war?

Der mich erst zu dem macht, was ich sein könnte? Und wenn er dieser Mensch für mich war, zu was machte er mich dann? Zu einer starken Frau? Oder doch zu einem psychischen Wrack?

Ich öffnete die Türe und ging in das andere Zimmer. Vom Schlaf noch benommen, schloss ich schnell meine Augen, als mich die hellen Sonnenstrahlen, die durch das geöffnete Fenster fielen, blendeten.

Ohne ihn gesehen zu haben, war mir seine Anwesenheit doch bewusst. Ich spürte, dass er wieder auf dem Fensterbrett stand, wie ein Hase zu spüren scheint, dass über ihm ein Habicht kreist. Wie der Habicht über dem Hasen, so kreisten auch meine Gedanken um die eine Frage: »Werde ich ihn noch rechtzeitig festhalten können?«

Ich streckte meine Hände aus – und ich konnte es.