Daniela Pesendorfer (18)

Kommunikationsproblem

Der Wecker musste bereits drei bis vier Mal geläutet haben, als Sascha endlich im Stande dazu war, seine rechte Hand zu heben, um sie mit einem dumpfen Schlag auf dieses nervende Gerät fallen zu lassen.

Es war längst Zeit aufzustehen. Tag für Tag der selbe Kampf. Seine Mutter war bereits weggefahren – Frühstück fiel heute also auch aus, denn selber machen … nein danke! Er zog sich seine graue, weite Hose an. Er zog sie soweit herunter, dass sein Gürtel gerade noch verhinderte, dass sie beim Gehen ganz herunterrutschte. Es war Sommer, und trotzdem trug er seinen dicken Timberland-Pullover. In letzter Zeit war ihm oft kalt.

Sie mochte diesen Pullover an ihm, hatte sie ihm einmal gesagt. Er zog seine grauen Nike-Schuhe an. Er hatte sie in Wien gekauft, hatte er ihr einmal erzählt.

Bevor er das Haus verließ, ging er noch schnell ins Bad und sah in den Spiegel. Unter seinen braunen Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet, und seine geschwollenen Lider zeugten noch von den letzten durchzechten Nächten mit seinen Freunden.

»Du siehst schlecht aus, ich mache mir Sorgen um dich!«, hatte sie ihm einmal gesagt, und er hatte sie ausgelacht.

Beim Gedanken an diese Situation musste er wieder lachen. Trotz der vielen Zigaretten, die er rauchte und des vielen Kaffees, den er trank, waren seine Zähne nicht die Spur verfärbt. Im Gegenteil. Eine Reihe schneeweißer Zähne blitzte ihm entgegen.

Sein Lächeln gefror beim Gedanken an sie. Sie hatte ja keine Ahnung, wie es in ihm wirklich aussah! Niemand wusste das, denn hinter seiner Maske konnte er sich gut verstecken.

Er fuhr sich unbewusst mit der Hand über seinen Kopf und seine kurzen, schwarzen Haare kitzelten seine Handfläche.

Früher hatte er immer mit ihren Haaren gespielt, weil er fand, dass sie so angenehm weich waren. Das hatte er ihr einmal gesagt, und sie hatte ihn angelächelt, ohne etwas zu erwidern. Im Prinzip hatten sie nie viel miteinander geredet.

Er hatte später noch lange Zeit darüber nachgedacht, warum das so war, und auch jetzt fragte er sich oft, was er wohl falsch gemacht haben könnte, doch er wusste es nicht.

»Wenn du mir wenigstens einmal zeigen würdest, dass ich dir etwas bedeute«, hatte sie ihm damals vorgeworfen. Und er hatte sie nur angegrinst – mit einem etwas zu höhnischen Ausdruck im Gesicht, wie er im Nachhinein draufgekommen war – und hatte ihr gestanden, dass er das nicht konnte. Gefühle zeigen … unvorstellbar.

Das war das erste Mal, dass er seine Maske für einen kurzen Augenblick abnahm, um ihr – durch ein entschuldigendes Lächeln begleitet – einen fast unscheinbar kurzen Moment, Einblick in sein Innerstes zu gewähren.

Doch sie hatte nichts darauf geantwortet. Sie hatte wie immer nichts gesagt. Nur gelächelt hatte sie. Wie immer. Im Prinzip hatten sie nie viel miteinander geredet.

In Gedanken versunken griff er nach seiner Tasche und verließ das Haus, ohne die Türe zuzusperren. Er saß einige Minuten schweigend und mit leerem Blick auf das Lenkrad gerichtet in seinem Auto.

Sie hatte ihm einmal gesagt, dass er gut fahren würde. Da hatte er sie angelächelt und nichts weiter gesagt.

Sie, die immer tat, als wüsste sie, was in der Welt vor sich ging, doch in Wirklichkeit verstand sie gar nichts. Sie, die nach außen hin die Allwissende, Unnahbare spielte. Das war ihre Maske. Doch in Wirklichkeit war sie naiv und eine Träumerin. Ja, eine richtige Träumerin war sie. Er hatte ihr nie gesagt, was er wirklich über sie dachte. Wenn sie ihn danach fragte, hatte er sie nur stumm angelächelt.

An manche Tage mit ihr konnte er sich kaum mehr erinnern, an andere wieder mehr. Doch geredet hatten sie im Prinzip nie viel miteinander. Er hatte sich weiter hinter seiner Maske versteckt und sie sich hinter der ihren. Warum sie so wenig miteinander geredet hatten, wusste er nicht. Vielleicht hatten sie beide wirklich ein Kommunikationsproblem. Sie hatte das einmal behauptet, einmal, als es eh schon längst vorbei gewesen war. Nachdem sie dieses Buch gelesen hatte. Der Vorleser oder so. Ja, das musste es gewesen sein. Ein Kommunikationsproblem. So hatten sie irgendwie aneinander vorbeigelebt, ohne auch nur ein bisschen hinter ihren Masken hervorzukommen, um dem anderen einen kurzen Blick auf ihr wahres ICH freizugeben.

Er atmete noch einmal tief durch, bevor er startete und losfuhr. Einfach losfuhr. Weit weg. Denn ein Zurück gab es für ihn nicht mehr.