Daniela Pesendorfer (18)

Davongekommen

Schon seit zwei Stunden saß er da. Er trank bereits seine achte Tasse Kaffee und trotzdem kam ihm kein Gedanke in den Sinn, der sich auch nur annähernd zu einem weiteren konstruktiven Gedankengang hätte weiterverfolgen lassen. Was war nur los mit ihm? An manchen Tagen genügte ein zerbrechendes Glas, um ihn zu einer Geschichte zu inspirieren, deren Sinn und Ausdruck von beinahe keinem bekannten Kritiker nicht mit Lob hätte überhäuft werden müssen.

»Du musst einen Gedanken festhalten lernen!«, hatte seine Mutter ihm immer erklärt. Was sie damit gemeint hatte, wurde ihm erst an diesem Tag bewusst, als ihm tausend Dinge im Kopf herumzuschwirren schienen, von denen ihm eines unsinniger als das andere vorkam.

Er zündete sich eine Zigarette an. Rauchen sei schlecht für die Gesundheit. Lungenkrebs und schnell alternde Haut seien die Folgen, hieß es. Doch das war ihm egal. Im Moment war ihm alles egal. Auch seine Frau, die mit dem kleinen Kind zu Hause auf ihn wartete, war ihm egal. Er hasste diese Verantwortung. Er wollte einfach nur frei sein. Jeden Tag neben einer anderen Frau aufwachen, aufstehen und, ohne sie noch eines einzigen Blickes zu würdigen, das fremde Haus verlassen. Doch war das wirklich sein Traum? War es das, was er wirklich wollte? Er wusste es nicht. Eigentlich wusste er im Moment überhaupt nichts. Bis auf das, dass er schnell etwas schreiben sollte. Doch was?

Seine Zigarette war beinahe ganz heruntergebrannt, ohne dass er mindestens noch ein zweites Mal gezogen hätte. Verärgert klopfte er die Asche ab und inhalierte den warmen Rauch noch ein letztes Mal, bevor er den Zigarettenstummel wegschnippte. Er saß im Freien – da konnte er sich das ohne weiteres erlauben. Er sah dem fliegenden Zigarettenstummel nach, der, etwas abgelenkt vom aufkommenden Wind, einer jungen Frau direkt auf das weiße Kleid fiel. Sie blieb abrupt stehen. Er sah sie an. Sie sah ihn an, vermied aber, etwas zu ihm zu sagen, was ihrem Blick noch mehr Ausdruckskraft verlieh. Es schien, als sehe sie ihn als nicht wert an, auch nur ein einziges Wort mit ihm zu wechseln. Er lächelte sein schüchternstes Lächeln. Eines der wenigen Dinge, die er wirklich in der Schule gelernt und darüber hinaus auch noch behalten hatte. Dieses Lächeln, das im Grunde nur ein verzweifelter Versuch war, die Mundwinkel einige Sekunden lang so zu verziehen, dass man wenigstens ein bisschen Sympathie erhaschen konnte, hatte ihn schon oft aus peinlichen Situationen wie diesen noch einmal glimpflich davonkommen lassen. Plötzlich dachte er an seine Frau. Er wollte es nicht einmal, denn diese Unbekannte, die noch immer vor ihm stand und ihm diesen bösen Blick zuwarf, übte einen weitaus größeren Reiz auf ihn aus. Warum war ihm jetzt nur seine Frau in den Sinn gekommen, die zu Hause bei seinem Kind war und auf ihn wartete. Mit schmutziger Schürze um die Hüften gebunden, würde sie zu dieser Uhrzeit am Herd stehen, um ihm ein Abendessen zu kochen, an dem er sowieso nur herummeckern würde. Warum er das Tag für Tag wieder tat, obwohl er wusste, wie viel Mühe sie sich doch immer gab, wusste er nicht. Warum er sie oft schlecht behandelte, wusste er auch nicht. War sie für ihn selbstverständlich geworden?

Die Unbekannte war weitergegangen und er war aufgestanden, um nach Hause zu seiner Familie zu gehen.