Susanne Müller (16)

Monolog

I

Mit dem Läuten werde ich aus der Ruhe gerissen.

Bald wird sich der Vorhang heben, und ich muss hinaus auf die Bühne und in meine Rolle schlüpfen. Es ist seltsam neu, das Lampenfieber; immer abends, kurz vor dem Auftritt, nachdem ich tagsüber unbekannt vor mich hin gelebt habe, kriecht es von innen herauf. Ich kann mich nicht erinnern, früher alles so hinterfragt zu haben, ängstlich schon, bevor ich auftrat. Ich kam zum Theater, und meine Rolle war die, die sie war. Ich nahm sie an. Ich spielte sie. Aber nun, da unser Ensemble immer größer wird, Dinge sich verändern für mich und ich mich an die Aufgabe gewöhnt habe, eine Rolle zu spielen, eine von vielen, beginne ich mich umzuschauen. Vorsichtig nur, verstohlen, sonst würde es wirken wie Argwohn, unangebrachte Zweifel an den Aufträgen, die ich nicht bestimme. Und so ist es doch nicht gemeint.

Wir warten im Dunkeln hinter der Bühne, bis unser Auftritt kommt; das war von Anfang an klar, auch ohne ein Zeichen. Die Regie war selbstverständlich, immer bis jetzt; ich glaube, den anderen ging es nicht anders. Dinge ergaben sich, eins nach dem andern, und irgendwie hat es immer geklappt. – Ich erinnere mich an wenige Zwischenfälle, an kleine Auseinandersetzungen hinter den Kulissen, an einen Stoß in die Rippen mit den Worten »Du bist dran!«, an einen großen Streit um eine Rolle, die mehrere haben wollten, und eine, die keiner wollte. Aber im Großen und Ganzen haben wir uns gut geschlagen, und die Eigenregie war arrangiert.

Eigentlich haben wir nie laut über die eine oder andere Einteilung gesprochen – alles hat sich ergeben und gefügt. Ich weiß nicht, warum nie einer fragte. Warum alles stumm abläuft hinter der Bühne. Es sitzen immer einige zugleich hier, während andere draußen sprechen und spielen, jeder für sich selbst konzentriert, und wir warten auf unser Stichwort. Es ist ein dunkler Raum hinter der Bühne, alter verwitterter Holzboden, der an manchen Stellen knarrt. Wir sind vorsichtig. Das Theater ist nicht neu, es müsste einmal renoviert werden von Grund auf, aber keiner hat die Mittel dazu und keiner spricht darüber. Manchmal fegt der Wind durch die zugigen Gänge, etwas raschelt bei den Requisiten, und wir hören nicht mehr, was die Schauspieler sagen. Wenn ich ganz für mich im Dämmrigen sitze, scheint es mir manchmal, als hätte jemand seine Rolle verändert, spräche anders, werfe Sätze ein oder verändere seine Stimme an Stellen, an denen es nie vorgesehen war… Vielleicht scheint es nur so, aber ich glaube, Dinge ändern sich, ohne dass wir es wirklich bemerken, und das lässt mich zögern. Ich wundere mich – aber nur im Stillen während des Wartens; danach muss ich meine Maske aufsetzen und meine Rolle behalten; ich möchte sie ja auch so gut wie möglich spielen. Jeder Schauspieler setzt Hoffnungen in die Kunst und möchte, solange er hofft, nicht genauer darüber nachdenken, ob sie sich erfüllen werden… Ich bin noch jung, ich habe noch Möglichkeiten zu hoffen. Aber, ehrlich, mir scheint, wir spielen manchmal mehr als unsere Rollen.

Je länger ich hier bin, desto eher werden mir Dinge bewusst. Es ist seltsam und vielleicht nicht normal, und ich würde es auch nie aussprechen, aber es gibt Augenblicke, in denen mir die Rollen Angst machen. Verwirrung, in der ich nicht mehr weiß, wer nun wer ist. Das Spiel scheint so ernst zu werden manchmal, und das macht mir Angst. Ich habe diesen Weg eingeschlagen in der Hoffnung, eine Kunst zu erlernen und eine Kunst zu leben, aber nun ist da die Angst vor einer Sackgasse…

Es macht alles das Lampenfieber.

Aber auch das ist neu.

Ist es ein Zeichen des Älterwerdens?

Ich bin kein Kind mehr, ich bin in meinem Beruf. Wir alle schweigen, und niemand hat mir jemals erklärt, was er mit sich bringen könnte außer der Hoffnung auf die Kunst.

Mir scheint, ich muss es selbst sehen.

II

Diese Verwirrung, dieses Fieber, dieser Schwindel.

Ob die anderen nicht ähnlich fühlen wie ich? Jeder hängt von seiner Rolle ab; wir spielen einander die Sätze zu auf der Bühne und können nur hoffen, dass sie passen. Unsere Rollen stecken ineinander, aneinander, und hinter der Bühne sind wir schon wieder getrennt, jeder für sich darauf bedacht, auch nichts zu vergessen.

Wie sollten wir auch professionell sein bei so wenigen Proben?

Manchmal sprechen wir, manchmal gehen wir aufeinander zu und voneinander weg, wenn jeder für sich auf seinen Text gekommen ist. Man trifft sich, man tauscht einige Sätze. Man probiert seine Gesten am anderen aus, beim Eintreten in die Garderobe, beim Warten auf den eigenen Auftritt, bevor die Scheinwerfer da sind, im Dunkeln noch. Man schneidet Grimassen morgens vor dem Spiegel mit der Kaffeetasse in der Hand statt des Dolches, denn noch übt man für sich, und keinem fällt es auf, und es ist nicht das richtige Leben, nicht der offizielle Auftritt.

Es probt doch jeder für sich, im eigenen Zimmer oder unter der Dusche. Ich weiß nichts von anderen außer den Sätzen, die man sich repetitionshalber zuwirft beim Schminken und Warten. Man zeigt nicht, wie man übt für das, was man unter den Scheinwerfern tun wird. Man spricht nicht über die Schwierigkeiten, hier ist doch jeder Schauspieler. Jeder für sich.

Vielleicht, denke ich leise, sprechen sich auch andere Sätze vor bis in den Traum und schneiden sich morgens im Bad die Grimassen, die sie abends können müssen. Dort kann man sie noch korrigieren, bevor sie endgültig werden.

Ich frage mich.

Ich habe in mich hineingefühlt, sogar während des Spielens, verstohlen; es stimmt, dass man seine Rolle verändert, und manchmal fällt es einem gar nicht auf. Zuerst zwinkert nur das rechte Auge statt des linken, manchmal verschlucke ich ein Wort… Dann werde ich unsicher. Manchmal stottere ich, weil mir ein Wort fehlt, und ich weiß nicht, wer es mir eigentlich in den Mund gelegt hat. Oder ich schweige, obwohl ich etwas zu sagen hätte – ich weiß nicht, ob es auffällt. Doch ich werde unsicher und unsicherer, dann beginnen die Zweifel. Wenn keiner da ist, der mir das richtige Wort zuwirft. Monologe sind schwierig; man muss sich allein beweisen, ohne Zusammenspiel. Dann ist man die Bühne.

Ich wundere mich, wie andere sich ihren Text und ihre Rolle merken – wie lernen sie? Wie schaffen sie es, so sehr in die Persönlichkeit zu schlüpfen, als die sie angekündigt sind? Ich zweifle da immer an mir; ich fürchte, bei mir schillert ein wenig Schauspieler durch, und ich bin nicht der, den ich spiele. Wo bleibt dann die Regie, wo die Anweisungen, wenn das weißblendende Scheinwerferlicht herumschwenkt und mich mit seinem ganzen Kegel trifft? Ich bin vollkommen erleuchtet, hell, und meine Lippen dürfen nicht zittern, wenn ich an der Reihe bin; das Bewusstsein in mir verkompliziert das. Es ist ein Beweisen, auch das; es ist ein eigener Ehrgeiz. Es ist ein Zeigen, aber es gilt so viel zu verbergen. Keinen der Zweifel zeigen, die innen schwirren. Konzentration auf die Rolle, die ist wie sie ist.

Es ist Spielen, es ist Theater. Wir zeigen, was wir vorbereitet haben. Wir lachen und weinen auf Befehl. Es ist unsere Rolle, wir hören darauf und auf die Regie. Meist führen wir selbst Regie, und eins muss sich zum andern fügen – aber manchmal scheinen wir zu warten, und dann frage ich mich, wer da noch ist, der unsichtbare Fäden vom Schnürboden aus zieht…

Natürlich, klar, ist es, was wir spielen – wir zeigen unser Lachen eher als unser Weinen, wie wir auch die Gesten, die wir besser beherrschen, lieber zeigen und die anderen für uns alleine proben, wir alle wissen es wohl, denke ich, jeder für sich, und wenn ich daran zweifle, so nur, weil keiner das anspricht, was alles im Raum hängt, im Raum hinter der Bühne – und ich bin nicht sicher, ob nicht ich es in meinem Bewusstsein hereingehängt habe.

Ich bin unsicherer geworden. Das Lampenfieber wird stärker. Ich bilde mir Dinge ein. Und ich habe begonnen, an meinem Beruf zu zweifeln, der doch nicht sicher ist. Ich sehe mich um, zu viel, und ich suche den Regisseur und mein Textbuch.

Warum wird es mit der Zeit schwerer zu spielen? Der Idealismus ist verloren gegangen, fürchte ich. Wir sind alteingesessen, auch ich nun. Es ist traurig, doch ich bin beschäftigt mit Halten und Suchen nach Text, der früher selbstverständlich war und nicht gelernt werden musste… Wir werden älter, sagt einer von uns auf der Bühne, da gehört es zu seiner Rolle und ist nichts Besonderes. Doch ich kaue an dem Satz, hinter den Kulissen noch, und auch hier hat er eine Bedeutung, über die keiner spricht.

III

Wir spielen unsere Rollen. Wir können nicht anders. Doch da gibt es noch etwas, das einem erst erkennbar wird, wenn die Rolle automatisch wird und man nicht darin lebt. Da gibt es ein Publikum.

Wenn man es sich recht überlegt: Wir orientieren uns. Es gibt Gesetze, ungeschriebene zwar, die doch jeder spürt und kennt; sie sind allgegenwärtig, auch wenn man dabei nicht immer sofort das Publikum bedenkt. Wir zeigen unser Lachen eher als unser Weinen. Es gilt nicht, grundlos zu weinen. Es gilt auch nicht, grundlos zu lachen – aber das Lachen ist eher willkommen. Die Schwierigkeiten, die verborgenen, die Streite hinter der Bühne, das innere Schämen, wenn wir den Text vergessen, und auch das Lampenfieber – wir zeigen sie nicht. Wohl keiner aus dem Publikum kann sie sehen, denn wir verbergen sie gut.

In mir steht die Frage, ob nicht das Publikum sehen sollte, wie schwer es ist, ein Theater zu führen – sie würden es möglicherweise mehr zu schätzen wissen. Doch es gilt nicht, natürlich zu sein, denn wir haben zu spielen; es gibt schließlich Rollen, die zum Spiel gehören, hier in unserer Theatergesellschaft.

Doch ich muss nachdenken darüber. Selbst auf der Bühne. Im Hintergrund, wenn ich im Schatten stehe zwischen zwei Sätzen, die ich zu sagen habe, schiele ich in die Sitzreihen, die für uns im Dunkeln liegen; nur wir sind ja beleuchtet. Es ist verhängnisvoll, mit Gedanken und Augen die Rolle zu verlassen, man ist ja gleich wieder an der Reihe. Und doch frage ich mich öfter und öfter, wer unser Publikum ist. Ich weiß es nicht, weil es im Dunkeln bleibt, es ist mir nicht ausgeliefert wie ich ihm, ich werde es nie sehen können, selbst wenn ich mehr Zeit hätte zum Suchen.

Könnte ich ihre Gesichter sehen, und ihren Ausdruck. Was sie denn denken. Haben sie nicht auch ein Leben? Sie spielen doch selbst, sie tragen ihre Persönlichkeit zur Schau wie wir unsere Rollen, sie haben wohl ihre eigenen Masken, für uns im Dunkel des Zuschauerraumes.

Ich denke, sie haben es gut. Wenn sie doch keiner betrachtet in ihrer Rolle und sie bewertet mit kritischen Blicken. Zwar ist das Spielen mein Beruf, und ich muss das Betrachtetwerden empfinden, ich muss es ertragen ohne Blackout und ohne Filmriss – aber die andern doch auch.

IV

Wir sind für uns, und sie sind für sich, zumindest sehen wir sie so; ich weiß nicht, wie sie uns sehen. Ich fürchte, sie sehen uns als die Zuständigen.

Gehören wir aber nicht alle zum Ensemble, das das Leben spielt, alle zusammen, auf der riesigen Bühne unter zu hellen Scheinwerfern, die jeder auf jeden richtet? Ich glaube, ich bin meinem Beruf nicht gewachsen, aber ich muss dem Licht standhalten und der Rolle, auch wenn ich mein Textbuch selbst entwerfe… Jeder ist sein eigener Dramaturg, das ist es, was mir so kompliziert scheint; man sollte einander beim Schreiben behilflich sein. Man sollte gemeinsam proben, dann wären die Aufführungen nicht so endgültig. Es dauert doch, bis jeder seine Rolle gefunden hat. Ich weiß es; wir haben uns oft darum gestritten.

Wir führen ohnehin schon gemeinsam Regie, wir weisen die anderen an, ihre Rollen zu ändern, ohne Zurufe und ohne Klappe. Es gibt keine Wiederholungen, wenn der Film reißt. Ich glaube, das müsste sich ändern.

Das ist das Anspruchsvolle an unserem Theater: Die Aufführungen sind live und unwiderruflich. Keine Klappe die zweite, kein Zurückspulen.

Ich möchte von vorn beginnen; ich habe den Beruf falsch gewählt, ich möchte zurückspulen. Warum nicht Chancen bekommen? Wir leben unseren Weg in unsere Rollen, und wir müssen proben, damit wir besser werden; warum das nicht zugeben? Natürlich ehrlich sein?

Vielleicht…

Ich glaube, ich werde für das Drehbuch zu unserem nächsten Stück sorgen.