Janina Kurzmann (15)

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Mein Name ist Katharina Haberl. Vor einer Woche bin ich 16 Jahre alt geworden. Bis vor einem Jahr war ich ein ganz normales österreichisches Mädchen. Ich hatte einen Vater und eine Mutter, und ich war glücklich hier in Österreich, bis es passierte. Und jetzt, jetzt lebe hier, in diesem fremden Land.

Ich habe Angst, denn die Menschen sind mir fremd. Ich habe das Gefühl, sie weichen mir aus, wollen keinen Kontakt zu mir haben, mich nicht kennen lernen. Denn sie haben schreckliche Dinge gehört über mein Land. Sie glauben, dass wir alle Nazis sind, Mörder und Verbrecher. Deshalb meiden und beschimpfen sie mich. Früher, in meiner Heimat in Österreich, bin ich oft fortgegangen, ich hatte viele Freunde, und wir gingen zusammen in Cafés und in die Disco. Jetzt bin ich alleine und isoliert. Die Menschen hier verstehen meine Sprache nicht. Meine Muttersprache, die mir immer geholfen hat meine Meinung zu sagen, mich zu verständigen, mich zu rechtfertigen, wird hier nicht gesprochen oder verstanden. Selbst wenn ich mit meiner Familie in unserer Sprache rede, treffen uns die Blicke der Einheimischen. Sie denken: »Was wollen diese Menschen hier? Wenn sie schon unbedingt hier sein müssen, sollen sie doch gefälligst unsere Sprache sprechen und sich anpassen oder sofort wieder verschwinden!« Ich habe oft das Gefühl, dass mich hier niemand braucht und haben will.

Zu Hause in Österreich hatte ich dieses Gefühl nie. Wir waren immer ein geschätztes, angesehenes Land in Europa, mit guter Wirtschaftslage und internationalen Beziehungen. Wenn ich so nachdenke, kommt mir manchmal der Gedanke, es ist uns zu gut gegangen. Denn niemand hat sich mehr wirklich für Politik interessiert, alle wollten nur mehr so viel Geld wie möglich scheffeln und die Anliegen der anderen Menschen und Völker waren ihnen ziemlich egal. Sicher, sie spendeten Geld, zum Beispiel zu Weihnachten, vor allem, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Aber richtig helfen wollten sie nicht. Die ganzen Berichte in den Zeitungen über Überschwemmungen, Erdbeben und Kriege sind an uns vorübergegangen, weil wir es uns nicht vorstellen konnten. Wir haben nur in den Tag hinein gelebt und die Gefahr übersehen, die uns drohte. Diese Partei, die NÖRP (Neuösterreichische Reformpartei), war auf einmal da. Mit unserer alten Regierung waren viele ja nicht zufrieden, sie meinten, die verschwendet das Geld nur und ist zu sozial ausgerichtet. Außerdem hatten viele das Gefühl, dass es zu viele Ausländer in Österreich gäbe, dass unser ganzer Staat umstrukturiert und vieles geändert werden sollte.

Die Menschen wählten diese Partei in erstaunlichem Ausmaß. Damals, als alles begann, vor zehn Jahren ungefähr, hatte sie ungefähr zehn Prozent der Stimmen. Bei den letzten freien Wahlen in Österreich vor vier Jahren waren es jedoch schon 55 Prozent, also die absolute Mehrheit. Wir haben es zuerst nicht gemerkt, aber die NÖRP hat nach und nach alle wichtigen Ämter nur mit ihren Parteifunktionären besetzt und nach und nach den ganzen Staat unter ihre Kontrolle gebracht. Für die Ausländer ist auch alles immer schwieriger geworden. Zuerst gab es ein Verbot für Verleihungen neuer Staatsbürgerschaften, dann eine strenge Arbeitsbeschränkung auf Niedrigstlohnarbeiter und schließlich wurde der Großteil von ihnen des Landes verwiesen.

Ich verstehe noch immer nicht, warum sich damals niemand aufgeregt hat. Aber ich kann schwer die Anderen beschuldigen, da ich es selbst versäumt habe, etwas zu tun. Sicher, ich war damals erst zwölf Jahre alt, aber trotzdem: Ich war kein kleines Kind mehr, ich hatte nachdenken und vor allem meinen ausländischen Klassenkollegen mehr beistehen können. Jetzt, wo ich selbst in der Fremde bin, kann ich ihre Gefühle von damals sehr nachvollziehen, aber nun ist es zu spät ich kann nichts mehr ändern.

Als die NÖRP dann zu radikal geworden war, hat sich das Ausland aufgeregt, aber da sind wir kurzerhand aus der EU ausgetreten. Die meisten Leute in Österreich hat das nicht einmal gestört, die waren sowieso nicht zufrieden mit der EU und meinten, es ginge uns besser ohne sie. Und dann, ja, dann ist auf einmal alles so schnell gegangen, hat sich nicht mehr aufhalten lassen. Wir waren total isoliert, und auf einmal hat unser Bundeskanzler Hermann Krüger endgültig die Macht an sich gerissen. Er hat alle Anhänger seiner Partei zur Revolution aufgefordert, sie sind in Wien aufmarschiert und haben alle anderen Parteien gewaltsam aus dem Parlament vertrieben. Jetzt haben sie die Macht in Österreich. Jeder, der etwas gegen sie gesagt hat, ist verhaftet worden und verschwunden. Ich habe keine Ahnung, was mit diesen Menschen passiert ist.

Mein Vater war aktives Mitglied der Oppositionspartei. Ich kann mich noch gut an diesen einen Abend damals erinnern, es war ein Mittwoch, der 10. April, sein Geburtstag. Da die Partei, der mein Vater angehörte, schon seit längerem verboten worden war, konnten sie sich nur heimlich treffen. Und an diesem Abend hatten sie wieder so ein Treffen, sie wollten planen, wie sie die Diktatur der NÖRP stürzen könnten. Ich hatte so ein komisches Gefühl dabei, ich hatte Angst, dass etwas passiert und flehte meinen Vater an, nicht zu gehen. Es war sein Geburtstag, wir wollten alle gemeinsam feiern. Aber er sagte, er müsste dorthin, es sei unbedingt notwendig. Ich konnte es einfach nicht verstehen, ich hatte solche Angst, und ich saß zu Hause und sah auf die Uhr. Dabei hoffte ich, dass er bald heimkommen würde und nichts passiert sei.

Die Stunden vergingen so langsam an diesem Abend, und es wurde immer später. Meine Mutter und ich waren unruhig, da mein Vater noch nicht heimgekommen war. Normalerweise blieb er nie so lange aus. Dann, plötzlich, klopfte es an der Tür, meine Mutter machte auf, Polizisten der Sondereinheit stießen sie gewaltsam beiseite und stürmten unser Haus. Sie durchsuchten und verwüsteten unser ganzes Haus und drohten uns an, uns zu erschießen, falls sie irgendeinen Beweis finden würden, dass auch wir dieser Partei angehört hatten.

Gott sei Dank fanden sie nichts, mein Vater hatte alle seine Unterlagen im Parteitreffpunkt gelassen. Ich hielt diese Ungewissheit nicht mehr aus, und mir rutschte die Frage raus: »Wo ist mein Vater?« Einer der Männer, scheinbar der Anführer, sah mich kalt an und fragte: »Meinst du den Staatsverräter Helmut Haberl? Er und seine Partei haben das Ziel, die Wirtschaft unseres Landes zu zerstören und es mit Ausländern zu überschwemmen. Sie sind Feinde des österreichischen Volkes und werden ihre gerechte Strafe bekommen!«

Also hatten sie Vater erwischt und mitgenommen. Ich brach in Tränen aus, ich war so verzweifelt. Ich kann mich nicht erinnern, was ich damals alles gesagt habe, aber ich tobte, ich schrie diese Leute an, in diesem Moment war mir einfach alles egal, in meinem Kopf war nur noch der Gedanke, dass diese Menschen mir meinen Vater weggenommen hatten. Meinen Vater, meinen geliebten Vater! Sie hatten nicht das Recht dazu, er hatte nie etwas Böses getan, er war immer so nett und tolerant gewesen, hatte nie Vorurteile gegenüber anderen Menschen gehabt. Diese Menschen von der NÖRP konnten mir doch nicht einreden, dass alles, was mein Vater gesagt, getan und gedacht hatte, falsch gewesen sei! Ich wusste doch, dass das anders war! Nur weil sie stärker waren, weil sie die Macht hatten und bewaffnet waren, hieß das doch noch lange nicht, dass sie Recht hatten…

Ich konnte nicht mehr klar denken. Meine Mutter verpasste mir eine Ohrfeige, zerrte mich in ein anderes Zimmer und verriegelte die Tür. Jetzt, im Nachhinein, weiß ich, dass das gut so war. Diese Menschen hatten bestimmt nicht davor zurückgeschreckt, mich auch mitzunehmen, wenn ich weiterhin so geschrien hatte. Ich weiß nicht, was an diesem Abend weiter passierte, aber am nächsten Morgen weckte mich meine Mutter früh auf und sagte: »Kathi, es tut mir so leid, aber wir müssen fort von hier. Wenn wir nicht fliehen, werden sie uns verhaften!« Ich sah sie an, ihre Augen waren gerötet und man sah ihr an, dass sie die ganze Nacht lang kein Auge zugetan und nur geweint hatte.

»Aber… wir können Papa doch nicht einfach hier lassen, wir wissen ja nicht einmal, wo er ist.« Sie sagte, ich solle jetzt ganz tapfer sein. Wir könnten ihm im Moment nicht helfen, und er würde es ganz bestimmt auch so wollen, damit wenigstens wir in Sicherheit waren.

Noch an diesem Tag früh am Morgen verließen wir unsere Heimatstadt und fuhren zu meinem Onkel und meiner Tante. Sie hatten uns die nötigen gefälschten Papiere besorgt und wir fuhren gemeinsam in Richtung Grenze. Ich saß hinten im Auto und versuchte mich möglichst klein zu machen, ich wollte mich verstecken, wollte sicher und geborgen sein und nicht erwischt werden. Ich hatte Angst! Die ganze Zeit ging mir nur ein einziger Gedanke durch meinen Kopf: Warum das alles? Ich bin doch nur ein ganz normales, unschuldiges 15-jähriges Mädchen, was habe ich verbrechen, dass mir das alles passiert? Ich will meinen Vater zurück, ich will mein Leben zurück!

Ich erinnerte mich, früher oft selbst meinen ausländischen Klassenkameraden mit Unverständnis begegnet zu sein. Schließlich hatte ich mir das alles doch nicht vorstellen können. Sicher, ich hörte ihnen zu, wenn sie erzählten, aber für mich hörte sich das alles so unwirklich an, es berührte mich kaum mehr als irgendein Buch oder Film, weil es einfach so gar nicht zu meiner Vorstellung vom Leben passte. Unsere Familie war immer gut situiert gewesen, ich war sozusagen eine »Tochter aus gutem Hause« gewesen. Meine Eltern waren immer auf meine guten Noten bedacht gewesen, wir hatten nur Freunde aus den oberen Schichten der Gesellschaft gehabt und auch meine Zukunft wäre so geplant gewesen.

Manchmal besuchte ich eine ausländische Freundin bei ihr zu Hause, sah die Unterschiede, hatte sogar oft ein schlechtes Gewissen, dass ich so viel hatte und sie so wenig, aber richtig vorstellen konnte ich mir das alles erst in diesem Moment, als ich in diesem Auto saß, dahin fuhr, mich ganz alleine und verlassen fühlte und keine Ahnung hatte, was mich erwarten würde. Schlagartig verstand ich auf einmal die Probleme, Sorgen und Ängste unserer ausländischen Mitmenschen, die in unser Land gekommen waren. Ich wusste, dass wir nach Slowenien fuhren. Aber dieses Land, Slowenien, ich wusste nicht wirklich viel darüber.

Sicher, ich kannte den Namen der Landeshauptstadt Ljubljana, ich hatte gelernt, dass es früher zu Jugoslawien gehört hatte, aber was ich nicht kannte, waren die Menschen. Ich hatte absolut keine Ahnung, wie die Mentalität in diesem Land war, wie diese Menschen fühlten, lebten und dachten und natürlich konnte ich auch kein Wort ihrer Sprache sprechen. Ausserdem machte ich mir Gedanken darüber, wie sie uns aufnehmen würden. Vor zehn Jahren waren doch genau diese Menschen als Flüchtlinge zu uns gekommen und leider nicht von allen Österreichern freundlich empfangen worden. Wie würde es uns jetzt bei ihnen gehen? Ich hatte nie gedacht, dass sich das Blatt so wenden könnte. Immer waren wir die »reiche« Nation gewesen, jetzt waren wir selbst Flüchtlinge. Ich konnte mir das noch immer kaum vorstellen, es war so schwer, einzusehen, dass sich mein Bild meiner Heimat so schnell komplett geändert hatte.

Nach ungefähr drei oder vier Stunden Fahrt – ich weiß nicht mehr genau, wie lange es war, da ich zu diesem Zeitpunkt kaum einen Begriff für Zeitdauer hatte, weil meine Gedanken zu sehr abgelenkt waren – kamen wir zur Grenze. Ich bemerkte, dass meine Mutter, meine Tante und mein Onkel zunehmend unruhiger wurden. Würden wir es schaffen, ungehindert über die Grenze zu kommen? Oder würden sie uns aufhalten und nicht ausreisen lassen oder am Ende sogar festnehmen? Und was würde dann mit uns geschehen? Ich hatte schreckliche Dinge darüber gehört, was mit Menschen passiert war, die in den Gefängnissen der NÖRP verschwunden waren… Hoffentlich waren das alles bloß Gerüchte…

Wir waren an der Grenze. Der Zollbeamte kontrollierte unsere Papiere. Wurde er bemerken, dass sie gefälscht waren? Würde der Schwindel nun auffliegen? Er sah jeden unserer Pässe sorgfältig an. Zum Glück hatten wir darauf geachtet, als Parteizugehörigkeit natürlich Mitgliedschaft bei der NÖRP einzutragen, andernfalls waren wir nicht durchgelassen worden. Aber vielleicht würde er unsere Daten in den Computer eintippen und dann würde er alles bemerken…

Aber nein, er gab uns die Pässe zurück und winkte uns durch. Wir hatten noch einmal Glück gehabt. Jetzt noch die slowenische Grenze passieren. Wieder hatte ich Angst, es könnte Komplikationen geben, und sie würden uns nicht einreisen lassen. Schließlich war ja bekannt, dass in Österreich nun der Krieg beginnen würde und Slowenien konnte sicher nicht alle Flüchtlinge aufnehmen, das hatten wir in Friedenszeiten ja auch nicht gemacht. Aber der Zollbeamte war nett. Er ließ uns einreisen. Er sagte, wir sollten zum Flüchtlingslager in einer kleinen Stadt in der Nahe der Grenze fahren, dort würden wir Näheres erfahren. Flüchtlingslager! Wenn ich schon das Wort hörte, bekam ich Angst! Ich hatte früher schon oft über die Zustande in Flüchtlingslagern in anderen Ländern gehört über die komplizierten Asylverfahren, über die Probleme und all diese anderen Dinge. Aber es ging noch immer nicht in meinen Kopf hinein, dass ich, eine Österreicherin, die ich doch immer auf der besseren Seite, als Wohlhabende gestanden hatte, plötzlich Asylwerberin sein sollte. Kurz kam mir die Idee, dass das alles wohl ein Alptraum sei und ich bald erwachen und alles okay sein werde. Ich wartete und wartete, aber ich erwachte nicht. Es war Realität, leider!

Über das Lager selbst kann ich nicht mehr viel erzählen. Ich weiss nur noch, dass ich total verwirrt und durcheinander war, weil alles so schnell ging und dass dort lauter fremde Menschen waren, die ich nicht verstand. Deshalb werde ich diesen Teil der Geschichte einfach überspringen, ich blieb sowieso nicht lange dort. Zum Glück hatte meine Mutter einen Teil unseres Geldes noch verstecken und später mitnehmen können, bevor unser Haus gestürmt worden war. Allerdings waren die meisten unserer Sparbücher bei dem »Hausbesuch« verschwunden. Trotzdem hatten wir genug Geld, um uns zusammen mit meiner Tante und meinem Onkel eine kleine Wohnung in Ljubljana leisten zu können.

Leider war das bisschen Geld aber bald zu Ende, und so musste meine Mutter eine Arbeit suchen. Slowenisch ist aber eine sehr schwierige Sprache, die mit dem Deutschen wenig gemeinsam hat, und da es auch keine Möglichkeit gab, einen Sprachkurs zu besuchen, konnten wir diese fremde Sprache noch kaum sprechen. Zum Glück fand sie aber trotzdem einen Job als Haushälterin, wo sie ein bisschen Geld verdiente. Zu Hause in Österreich hatte meine Mutter einen gut bezahlten Job als Architektin gehabt, hier konnte sie diese Fähigkeiten aber wegen der Sprachbarriere nicht anwenden und musste sich mit diesem Job begnügen, den bei uns zu Hause immer die ausländischen Gastarbeiterinnen gemacht hatten, auf die meine Mutter manchmal deswegen herabgeschaut hatte. Nun konnte sie selbst sehen, wie diese Menschen sich gefühlt hatten. Unsere Haushälterin hatte schlecht Deutsch gesprochen, trotzdem hatte sie sich immer große Mühe gegeben, auch wenn es sehr schwierig für sie war. Erst jetzt konnten wir ihre Situation richtig verstehen.

Ich sollte auch wieder zur Schule gehen, also schickte mich meine Mutter auf eine slowenische Hauptschule. Ich war schon 15, deshalb war ich in Österreich schon in die Handelsakademie gegangen, hier konnte ich das aber nicht, da natürlich auch ich zuerst die Sprache lernen musste. Auch jetzt kann ich mich noch ganz genau erinnern, wie das war, damals, an meinem ersten Schultag in diesem neuen Land. Meine Mutter ging mit mir hin, zeigte mir meine Lehrerin und verschwand. Diese sagte zu mir einige Worte in dieser für mich unverständlichen Sprache, nahm meine Hand und führte mich ins Klassenzimmer, wo sie mich auf den Platz neben einem Mädchen mit langen blonden Zöpfen setzte. Sie deutete auf mich und sagte noch ein paar Worte zur Klasse hin gerichtet, wahrscheinlich stellte sie mich vor. Dann begann der Unterricht. Ich saß da und kam mir total fehl am Platz vor. Dort vorne stand diese Frau und redete und schrieb irgendwelche Worte an die Tafel und ich hatte keine Ahnung, was das sollte und verstand kein Wort. Welches Fach war das jetzt? Slowenisch? Jetzt musste eine der Schülerinnen einige Worte aus einem Buch vorlesen, meine Sitznachbarin war zum Glück so freundlich und zeigte mir, auf welcher Seite wir waren. Ich versuchte mitzulesen, was aber schwierig war, da ich diese Worte und Buchstabenkombinationen zum ersten Mal in meinem Leben sah. Ich dachte mir nur: »Hilfe, diese Worte schreibt man ja auch noch ganz anders, als man sie ausspricht!«

Dann war Pause. Ich dachte, dass irgendjemand zu mir herkommen würde, versuchen würde, mit mir zu reden, aber da hatte ich mich geirrt. Sie hatten anscheinend mitbekommen, dass ich ihre Sprache sowieso nicht verstand und ignorierten mich deshalb. Noch nie hatte ich mich so alleine und verlassen gefühlt wie an diesem ersten Schultag. Manchmal trafen mich die Blicke meiner neuen Mitschüler, aber sie waren nicht alle freundlich. Ich hatte das Gefühl, sie fragten sich, was ich hier machte. Aber von nun an musste ich jeden Tag in die Schule gehen – und ich hasste es, ich hasste es so sehr, von allen ignoriert zu werden!

In Österreich, da hatte ich meine Freunde gehabt, da hatte ich mich akzeptiert und geborgen gefühlt und war fast immer gerne zur Schule gegangen – aber hier! Ich zählte nur noch die Stunden, bis ich endlich nach Hause, also dorthin, wo jetzt mein Zuhause war, gehen konnte. Am Nachmittag war mir immer langweilig, ich wusste nicht, was ich machen sollte, schließlich hatte ich hier ja Oberhaupt keine Freunde und meine Mutter war den ganzen Tag unterwegs.

Außerdem machte es mich traurig, dass ich kaum etwas über die Zustande in Österreich erfuhr, und wenn, dann nur schlechte Nachrichten. Es wurde immer schlimmer, schließlich war der Krieg endgültig ausgebrochen. Unser Land, unser schönes Land, hatte Frankreich und Italien den Krieg erklärt und hatte versucht, dort einzumarschieren. Die hatten sich das natürlich nicht gefallen lassen und zurückgeschlagen und nun sah man im slowenischen Fernsehen Bilder von zerstörten Städten und flüchtenden Menschen.

Mich machte das alles so unendlich traurig, ich fühlte mich innerlich total leer. Unser Land hatte einmal eine gute Wirtschaft, eine geringe Arbeitslosenrate, wohlhabende Menschen gehabt, das alles war nun vorbei und wurde zerstört. Und warum? Was war der Sinn darin? Warum machten Menschen so etwas, zerstörten Dinge, die schön waren und sie glücklich gemacht hatten? Ich konnte das zu diesem Zeitpunkt einfach nicht verstehen, ich verstehe es auch jetzt nicht und bezweifle, dass ich es jemals verstehen werde – es ist so sinnlos!

Aber am meisten traurig machte mich, dass ich keine Nachricht von meinem geliebten Vater hatte. Ich wusste nicht einmal, ob er überhaupt noch am Leben war, was mit ihm passiert war. Meine Mutter hatte alles versucht, um etwas herauszufinden, aber ohne Erfolg! Ich merkte ihr an, dass sie selbst ebenso ratlos, ebenso verzweifelt war. Sie war immer eine heitere, lebensfrohe, unternehmungslustige Person gewesen, die gerne gelacht hatte. Jetzt saß sie nach der Arbeit nur noch still in unserer Wohnung und starrte vor sich hin, redete ein paar Worte mit mir, weinte, war verzweifelt…

Irgendwann machten wir einmal einen Ausflug ins Zentrum von Ljubljana und ich kaufte ein Lehrbuch der slowenischen Sprache. Ab diesem Zeitpunkt saß ich jeden Nachmittag zu Hause und lernte. Da ich zum Glück schon Erfahrung mit dem Erlernen von Fremdsprachen hatte, konnte ich bald die grundlegendsten Wörter und Grammatikregeln, ausserdem hörte ich die Sprache ja täglich beim Einkaufen und in der Schule und so kannte ich mich bald, also nach ein paar Monaten, halbwegs verständigen. Allerdings machte ich viele Fehler bei den Fallen, bei der Wortstellung und natürlich besonders bei der Aussprache, sodass man sofort merkte, dass ich Ausländerin war.

In meiner Klasse versuchte ich nun, Freunde zu finden. Allerdings war das sehr schwierig, weil ich mich mit der fremden Sprache sehr schwer tat und das anscheinend meine Klassenkameraden störte. Die einzige, die von Anfang an wirklich nett zu mir war, war Marija, meine Sitznachbarin. Sie versuchte geduldig, mit mir zu reden, sich mit mir zu beschäftigen und mehr von mir zu erfahren. Ich hatte das Gefühl, dass sie wirklich interessiert an mir war. Zum Glück schienen sie auch meine Sprachprobleme überhaupt nicht zu stören und so wurden wir bald ziemlich gute Freunde. Auch am Nachmittag unternahmen wir manchmal etwas zusammen, und so hatte ich nach und nach das Gefühl, dass das Leben doch wieder Spaß machen konnte.

Es gab nur ein Problem. Wenn sie mit mir zusammen etwas unternahm, weigerten sich ihre anderen Freunde, mitzugehen. Ich fragte Marija, wieso und was sie denn gegen mich hatten. Ich erinnere mich noch gut an ihren Gesichtsausdruck damals. Sie wurde total verlegen und sah mich zögernd an.

»Naja«, begann sie, »Weißt du, Kathi, meine Freunde haben einige schlechte Dinge über Österreich gehört. Sie glauben… dass ihr alle Nazis seid und wollen deshalb nichts mit euch zu tun haben. Natürlich weiss ich, dass das nicht stimmt, aber ich kann meine Freunde nicht ändern, sie haben diese Meinung nun einmal. Und sie sind meine Freunde und deshalb möchte ich auch Zeit mit ihnen verbringen, das heisst, dass wir uns leider in nächster Zeit nicht so oft treffen können werden. Vielleicht wird es irgendwann besser…«

Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Was konnte ich denn dafür, dass in unserem Land die NÖRP an der Macht war und eine Militärdiktatur errichtet hatte? So viele Menschen in unserem Land hassten diese Partei und litten darunter und Marijas Freunde wollten uns alle in einen Topf werfen. Das war nicht fair!

Aber leider waren es nicht nur Marijas Freunde, die so dachten, es waren fast alle Leute hier in Slowenien. Oft trafen mich misstrauische Blicke der Leute auf der Straße. Auch die meisten meiner Klassenkameraden gingen mir aus dem Weg. Aber ich erinnerte mich, dass die meisten von uns Österreichern in dieser Hinsicht auch nicht besser gewesen waren. Auch wir hatten ganze Völker verteufelt, weil sie unserer Meinung nach einen Krieg angefangen hatten, und hatten den Kontakt mit Menschen dieser Bevölkerungsgruppen gemieden. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie mir damals eine ausländische Klasssenkameradin erzählt hatte, wie sehr sie darunter litt. Und jetzt ging es mir genauso! Ach, die Menschen waren doch überall gleich dumm, nie lernten sie aus ihren Fehlern, warum denn nicht? Warum war diese Welt so falsch, warum konnten nicht alle Menschen einfach friedlich zusammenleben und sich verstehen oder sich einfach aus dem Weg gehen, wenn sie sich schon so absolut überhaupt nicht ausstehen konnten? Das waren die Fragen, die ich mir in dieser Zeit oft stellte, aber ich habe noch immer keine Antwort darauf gefunden.

Jetzt bin immer noch mit Marija befreundet, allerdings ist unsere Freundschaft leider ein bisschen abgekühlt. Ich weiß, dass sie sich bemüht, keine Vorurteile gegen uns zu haben, aber sie kriegt doch jeden Tag von ihrer Familie und ihren Freunden schlechte Sachen über uns zu hören. Ihrer Familie ist es überhaupt nicht recht, dass wir befreundet sind, weil sie findet, dass ich kein guter Umgang für ihre Tochter sei. Und das alles beeinflusst Marija. Ich weiß, sie kann nichts dafür, aber ganz kann sie sich doch nicht dagegen wehren. Manchmal sieht auch sie mich mit diesem Blick an, diesem Blick, den ich genau kenne, der bedeutet:

»Bist du wirklich eine von denen, die da gerade Krieg führen? Bist du vielleicht auch so kriegerisch und gewalttätig veranlagt?«

Dann würde ich ihr immer am liebsten sagen, dass ich in dieser Situation genau weiß, was sie denkt und dass das totaler Blödsinn ist. Aber ich kann es nicht! Ich habe hier noch keine Freunde außer Marija gefunden und deshalb habe ich Angst, mich mit ihr zu streiten und sie vielleicht auch noch zu verlieren. Ich habe schon zu viel verloren in meinem Leben: meine Heimat, meine Freunde, meinen Vater.

Auch meine Mutter ist nicht mehr so, wie sie einmal war. Sie ist sehr gealtert in den letzten paar Monaten, weil sie den Umzug, die ganze Umstellung und vor allem die Ungewissheit wegen meinem Vater nicht gut verkraftet hat. Auch ich werde nie mehr so unbeschwert sein wie früher, werde nie mehr so in den Tag hinein leben und glücklich sein können. Ich hoffe, dass es meinem Vater gut geht, wo immer er jetzt ist und dass wir ihn irgendwann einmal glücklich wiedersehen und wieder eine vollkommene, normale Familie sein werden, aber ich zweifle daran, dass es jemals wieder so sein kann wie früher, hier, jetzt, wo wir in diesem fremden Land leben müssen. Ausserdem hoffe ich, dass der Krieg bald vorbei sein wird und wir in unser Land zu unserem Volk zurückkehren können, wo wir uns geborgen fühlen und unsere Sprache gesprochen wird. Leider schaut es im Moment aber nicht gut aus.

Obwohl ich so viel verloren habe, das mir viel bedeutet hat, kann ich immer noch von Glück reden. Ich sehe regelmäßig Reportagen über die Zustände in Österreich im Fernsehen. Knapp nach unserer Flucht sind die Grenzen verriegelt worden und niemand konnte mehr ein- oder ausreisen. Viele Menschen saßen in Österreich fest, mussten in den Krieg ziehen, verloren ihre Wohnungen oder »verschwanden« einfach, weil sie irgendwann einmal etwas gegen die NÖRP geäußert hatten. Niemand weiß, was mit diesen Menschen passiert ist ob sie tot sind oder in irgendwelchen Gefängnissen oder Lagern sitzen. Deshalb bin ich froh und dankbar, dass zumindest meine Mutter und ich fliehen konnten, obwohl uns mein Vater so sehr fehlt.

Das Schwerwiegendste, was sich in meinem Leben verändert hat, bin aber ich selbst und mein Denken. Ich denke jetzt viel gründlicher über die Dinge nach, sehe sie von mehreren Standpunkten aus, nicht nur vom Blickpunkt des wohlhabenden, verwöhnten österreichischen Mädchens, das keine Ahnung von der Welt hat. Ich kann mir jetzt genau vorstellen, wie damals die Situation für die Ausländer in Österreich war und bedauere zutiefst, nicht mehr Verständnis für sie gezeigt zu haben. Ich hatte meine lächerlichen Sorgen wie Taschengeld, Ausgehzeiten und Schulnoten. Die Ängste, Sorgen und Probleme dieser Menschen waren mir ziemlich egal, weil ich sie mir kaum vorstellen konnte.

Jetzt ist das anders. Ich weiß genau, wie man sich fühlt, wenn man in einem Land fremd ist, die Sprache nicht kann und sich nicht akzeptiert und verstanden fühlt, weil ich es am eigenen Leib erfahren habe. Es ist traurig, aber ohne so etwas erlebt zu haben, kann man es kaum in diesem Ausmaß nachvollziehen und Verständnis dafür aufbringen. Ich weiß noch genau, wie unsere ausländischen Klassenkameraden uns früher immer vorgeworfen haben, wir würden sie nicht verstehen und wir hätten nur unsere kleinen, banalen Alltagsprobleme und wüssten nichts von der Welt. Jetzt kann ich genau nachvollziehen, was sie damals damit gemeint haben. Wie gern würde ich jetzt noch einmal mit ihnen darüber reden, ihnen alles erklären, versuchen, die Differenzen, die immer zwischen Österreichern und Ausländern bestanden haben, ein bisschen zu verringern. Aber jetzt geht das nicht mehr.

Ich lebe nicht mehr in Österreich, in unserem Land ist Krieg und außerdem gibt es keine Ausländer mehr, sie wurden alle vertrieben oder sind irgendwohin verschwunden. Die NÖRP hat das erreicht, was sie wollte: ein ethnisch reines Österreich. Selbst, wenn es einmal wieder friedlich ist und wir Flüchtlinge alle zurückkehren können, werden wir doch kaum wieder diese interessante kulturelle Vielfalt in Österreich haben, die doch einen Teil unserer Kultur ausgemacht hat und die ich nie als störend, sondern eher als bereichernd empfunden habe. Die Kluften zwischen den verschiedenen Völkern sind immer größer, das Misstrauen stärker geworden und traurig frage ich mich: Werden wir die Unterschiede jemals überwinden können und wird einmal der Tag kommen, an dem auf der ganzen Welt nur noch dein Charakter zahlt, und nicht mehr deine Rasse, Religion oder Hautfarbe? Ich glaube es nicht mehr, leider habe ich diese Illusion verloren.