Elisabeth Klar (15)

Aquarell

Der Blick nach vorn sieht nur Menschen.

Der Blick hinauf in den hellblauen Himmel, fast weiß und Glas und Stahl.

Die Hitze, gebündelt zwischen Wolkenkratzern,

Und die Menge, die große, unpersöhnliche Menge der Menschen (Menschen?) fließt einer schwarzen Lava gleich durch das Skelett der Stadt.

Sie unter ihnen, ein unpersöhnliches Individuum, eine Mutter, nur ein einzigartiger Sägespan in einer großen Maschinerie.

Und völlig unmotiviert denkt sie sich fort aus dem Leben und denkt an ein Aquarell, gemalt, mit längst vergessenen Farben.

Du spürst die Meeresküste an einem nasskaltem Tag, ein Strand, eine einsame Gestalt, sie?

Ja.

Nein, natürlich nicht, niemals!

Dennoch

der Sand unter ihren Füßen und auf und zwischen ihren Zehen, der nasse, eisige Sand, in den ihr bloßer Fuß tief einsank, zu tief, schwer herauszuziehen, verdreckt wieder zum Vorschein kam, der Sand auf ihren Beinen und in ihrem Kleid und im Gesicht und im Haar und überall, auf den Lippen, zwischen den Fingernägeln, auf den feinen Spitzen ihrer Wimpern

gesellte er sich zum Salz, Salz des Meeres auf ihrer Haut,

Sand und Salz und Sonne haben sie gegerbt.

Und der Nordwind nahm ihre aschblonden Haare in die Hand.

Das hohe Gebäude vor ihr, das Glas, das sie blendet, ihre Arbeit? Sie hofft nicht.

Glastüren, schwere Glastüren fallen ihr entgegen, sie stemmt sie auf,

ein Schritt in den Strand

und sie sieht den Himmel, mit regenschweren Wolken, Zeugen des Sturms und mehr, doch jetzt nur dunkelblau und schwarz und weiß dazwischen und schön.

Sei sanft zu mir, sagt sie, zu wem? Sie ist allein, allein? Niemals!

Nicht in diesem Aufzug voller Bankiers. Sie an die Wand gedrückt, die Wange an den kalten Stahl gepresst, das schwarze Kostüm zieht und sie weiß, in ihren Stöckelschuhen bilden sich Blasen.

Mühsam erstemmt sie sich ein bisschen Platz, wendet den Kopf und betrachtet den Horizont, weit, verschwunden, die Berührung zwischen Himmel und Meer, kaum sichtbar jetzt, und die weiße Gischt, die heranrollt wie Schaum und ihre Zehen küsst und sich zurückzieht, die weiße Gischt; das Meer selbst ist schwarz und unter ihren Füßen

öffnet sich unerwartet die Aufzugstür, und unerwartet das Bersten der Masse, stoßt, flieht in eine Richtung. Sie, vorwärtsgerissen, stolpert, ihre Stöckelschuhe knicken um und verlieren sich, die Aktentasche entgleitet ihren schweißigen Fingern und sie fällt in den

Sand,

gräbt ihre Finger tief ein in die nasse Masse, bleibt erstaunt liegen, als die sehnende Gischt sich nach ihr streckt, ihre Haare, ihr Kleid umfließt, ihre Lippen benetzt, sich zurückzieht und erst im letzten Moment wehmütig loslässt.

Jetzt schmeckt sie das Salz und die Ferne.

Sie richtet sich auf, auf den Fließen liegen verstreut ihre Tasche, ihre Stöckelschuhe, ihre Hand tastet die Netzstrumpfhose entlang zu ihren wunden Füßen. Sie sieht verwundert, wie man achtlos über sie hinwegschreitet und

ein Schwarm schwarzer Möwen in den Himmel aufsteigt, feine Bänder in das blaugrau flicht, steigt, fällt und sich wellt und Welle nach Welle ihre Beine liebkost und an ihrem Kleid zieht,

und Spuren in den Sand zeichnet, verschwindende, vergängliche Zeichen,

und liegt noch immer auf dem Gang.