Susanne Heinrich (15)

 

Apfelkerne

Sie und das offene, graue Haar, das noch immer nach Kirschblüten duftet.

Sie nimmt den Apfel in die hohle Hand, die schon schüsselförmig gewölbt war, geübt.

Dann wiegt sie ihn prüfend lächelnd ein paar Mal auf der Handfläche, sieht mit zusammengekniffenen, zärtlichen Augen aus dem faltigen Gesicht und setzt das Messer an. Noch einmal sieht sie sich um. Sie ist allein.

Sie hört das Knacken der frischen Schale und könnte sie weinen, würde sie weinen.

Wie sie das scharfe Messer durchs Fruchtfleisch zieht, sacht, doch bestimmt und gnadenlos, tropft der helle Saft auf das bunte, doch verblichene Sommerkleid, welches im Wind weht.

Wie Blut fließt es sacht und unaufhörlich, sie schneidet sanft.

Die zwei nackten Hälften liegen in ihren zitternden Händen, sie erinnert sich vieler Tage, Tausende wie der.

Gleich groß die Stücken, tot nun, das Messer von Saft getränkt, ihr Kleid beschmutzt.

Ein heller, feuchter Fleck, vergangenen Lebens zeugend.

Das schüttere Haar ergreift der fliehende Abendwind.

Ihr Blick ist jung geblieben, er fasst die Hälften und streicht sie zart, während sie nach den Kernen greift und langsam aufsteht. Die knochige, gebeugte Figur voll Leben und Leid, getränkt und genährt, aus allen Falten die Fülle der Zeit lesbar, gleich feiner und klarer Schönheit, geblieben.

Sie betrachtet die Kerne zwischen klammen Fingern, frühes Leben bergend.

Schützend und singend das helle Mondauge über schimmerndem Grau.

Letzte Tiere, ein Kauz ruft sehnsuchtsvoll.

Im spärlichen Licht durch zarte Zweige setzt sie sich, öffnet die Faust, schließt sie wieder – behutsam.

Die Kinderlieder fallen ihr ein – mit zitternder, brüchiger Stimme singt sie. Das Lied wie ein sanfter und reiner Faden zwischen den Spinnennetzen und Farnen.

Sie legt die Hände auf die modrige Erde, nach Herbst und Laub und Verfall, Vergänglichkeit, Wiedergeburt und schwerer, reifer Süße duftend.

Sie hebt die gräserne Decke vom Gesicht der Erde, schiebt die Halme langsam beiseite unter dem Schutz spendenden Singsang ferner Sterne.

Trüber Augen Tränen – das Mondlicht ist karg und klar die Nacht. Sie fürchtet nichts.

Sie hebt die Faust an die Wange, verharrt für einen Moment in zärtlichem Wunsch und legt die Kerne einzeln in die ausgehobene Kuhle. Sanft legt sie die Brocken zurück, streicht über den kleinen Erdhügel und bedeckt ihn liebevoll mit erstem raschelndem Laub, um bleiben zu können.

Für einige Minuten scheint der süße Mond beinahe greifbar in milchigem Dämmerlicht. Junge Bäume treiben unaufhörlich in die füllige Nacht.

Sie steht auf und streckt die Hände aus.

Was gewesen ist, ist alles, was sie besitzt, was sie mit sich trägt. Die Gegenwart ist für sie immer erst klar geworden, wenn sie Vergangenheit geworden war.

Greifbar war die Blüte nie, nie die Schönheit der Natur.

Die Schatten ihrer eigenen Figur drohen mit Erinnerungen.

»Morgen, wenn die Welt untergeht«,

weiß sie,

»keimen die Kerne. Ich werde wohl mit ihnen sterben.«

Zu Hause setzt sie sich vor ein Glas Wasser und zählt ihre Falten.