Susanne Heinrich (15)

 

Wieder zwischen all den nackten Wänden.

Kein einziges Bild hängt da. Dabei habe ich immer alles festhalten wollen.

Noch hängt dein Duft zwischen Spinnweben. Doch du bist fern, doch du bist unerreichbar.

Die Fenster milchig, trüb und traurig –

unter mir der Park. Es dauert eine Weile, bis ich mich lösen kann und abwende. Vielleicht wäre es gut, aus dem Haus zu gehen, in den Park, und den Blumen beim Wachsen zuzusehen, aber er ist unendlich fern, wie du.

Seit Tagen sehe ich nur Dämmerung, eingefangen in engen Wänden, nur wirre Träume auf Papier –

 

Mittwoch nacht

Die Kaffeetasse lag neben den Scherben der Untertasse, die das Frühlingslicht mild und matt spiegelten. Sie hatte nur einen einzigen Riss, mittendurch, allerdings waagerecht. Der Henkel pendelte, löste sich und brach für eine Sekunde das nach dem Zerscherben blitzartig entstandene Schweigen.

Es folgte eine weitere Tasse, ein Glas, eine Eieruhr und eine Porzellanfigur, ein weinendes Mädchen, ehe ich mit einem kurzen, aber energischen Schrei die Szene zerriss.

Die Luft roch noch immer nach Spannung und schlafender, stehender und kondensierender Herbstluft, eingefangen in längst vergangenen Bildern früher Jahre.

Ich schrie wohl, und du antwortetest. Eine ganze Weile.

Nur deine Augen sprachen die Sprache, die ich verstand.

»Der Sommer ist beinahe vorbei«,

sagte ich.

»Die Liebe ist doch nicht der Sommer«,

entgegnetest du.

Ich: »Du hast mich verlassen.«

»Doch nur, weil für dich längst alles vorbei war.«

Diesmal ließest du die Tasse fallen, schleudertest sie nicht von dir. Sie rollte vor meine Füße.

»Du hast nicht den Mut, von mir verlassen zu werden«,

meinte ich.

»Mag sein.«

Es muss wohl Vollmond gewesen sein.

 

Donnerstag nacht

Es war eine Rose, rot, die zwischen uns stand. Die Vase chinesisch.

Dein Blick strich zum wiederholten Male über meine zitternden Lippen, die einen bevorstehenden Absturz, einem ständigen Kampf in beutelnder Zerrissenheit ahnen ließen.

Ich spuckte in den Aschenbecher vor mir.

»Das ist für deine Lügen.«

Dein Blick musternd, doch nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde verräterisch.

Ich bestellte zwei Gläser Champagner und zog unter deinen wirren und fragenden Blicken meine Jacke an. Ich warf das Haar zurück und blickte aus dem Fenster. Juliwetter.

Der Ober stellte beide Gläser auf den runden Tisch, wünschte vorbildlich einen vergnüglichen Abend zusammen und ging.

Ich stand auf, führte das Glas unter ratlosen Blicken deinerseits zum Mund, spuckte erneut und stellte auch das zweite Glas vor dir ab.

»Stoß mit ihr an«,

lächelte ich bitter, stieß die Tür auf und ging.

 

Freitag nacht

Ich hockte im Park, fütterte Enten. Als kleines Mädchen war dieser Platz ersatzweise Heimat geworden. Du saßest auf der Bank gegenüber, ich setzte mich ebenfalls.

Du machtest Notizen für eines deiner nächsten Bücher. Es stand im Terminkalender.

Ein Schmetterling ertrank im Wasser. Einer seiner Flügel hatte versagt. Ich sah hinüber. Wenn sich unsere Blicke zufällig trafen, sahst du zu Boden. Nur Kindern und alten Menschen ist er gegeben, der schamlose Blickkontakt.

Die gelben Flügel des Falters knickten ein, faltig und matt der vergängliche Glanz – alles Leben aus ihnen gewichen.

»Bist du es?«,

fragte ich hinüber. Zögernd.

»Wer sonst hat Angst vor deinen Blicken?«,

erreichte mich die ferne, fremde Stimme.

Du musst wohl verstanden haben, denn etwas gab mir Anlass, dich von oben herab zu mustern; gleichzeitig unheimlich mitleidig, wobei ich nicht mit Sicherheit sagen kann, ob dieses Mitleid mir oder dir galt.

Eine Weile hielt sich der Traum von Brücken und gemeinsamen Ufern, so lange, bis der Winter träge Schneeflocken brachte, die schwer und bitter sich auf Farben legten.

»Wenn ich Gesichter sehe«,

dachte ich.

»inspiriert es mich. In einem Gesicht ist die Welt erfasst, ganz eigen; es drängt mich, den Blüten einen Namen zu geben.«

»Ich muss schreiben«,

sagtest du,

»bis morgen der Text, du weißt…«

Jetzt aber war Winter.

Eingeschneit in seichten Tränen, die von Angst und Kälte und Sehnsucht sprachen – vielleicht – in erster Linie aber von gläserner Starre und Trennung, sei dies nun helfend oder zurückwerfend.

Die Wolken zogen schnell – oder war es, weil wir schwiegen?

Erst als die Sonne den Schnee zum Schmelzen gebracht hatte mit heller und neu erstandener Würde und Munterkeit, standen wir auf – zwei Spiegelbilder mit unverwandt maskenhaften Gesichtern und öden, gealterten Blicken – und gingen.

Dort, wo ich gesessen hatte, regnete es jetzt.

Nun, danach:

Das ist nicht der erste Tag, an dem ich meine Wunden lecke.

Ich sitze da, denselben Zettel und dieselbe Feder in die Hand, die Stunde um Stunde mein Leben schreiben und tragen, immer von neuem.

Ich schreibe immer. Ich schreibe im Leben. Und das Leben schreibt und zeichnet mich.

Ich habe mich immer gefragt, warum sie sitzen und schreiben, wenn es ihnen aufgetragen wurde. Das Leben schreibt sich selbst.

Es gibt wohl zu viele Sprüche über Dichter, als dass gelten würde, was mich schmerzt. Ich habe schon lange nicht mehr geglaubt, nur gezweifelt.

Warum ist man auf dem Papier ein anderer als im Gesicht?

Und überhaupt: Es kam nicht, wie es kommen musste.

Alle Träume sind Schäume geworden und geblieben.

Ich werde mich wohl vor dich stellen, dir den Weg nach draußen weisen und warten, bis du den Schlüssel in den Briefkasten legst.

Du wirst in Richtung Horizont gehen. Dabei wird die Sonne scheinen, wie an jedem anderen Tag.

Ich werde alt werden, sobald du dich umdrehst und mit denselben Augen blicken – unverstanden.

 

Ich klappe das zerfledderte Büchlein zu. Im Raum lauern Gedanken seit Tagen.

Ich werfe das Heft in den Kamin und sehe den lodernden, züngelnden Flammen zu, wie sie würgen und ranken.

Ich ziehe die Arme fester um mich.

Der Wunsch, in Blüten ersticken zu dürfen –

»Ich kann doch wohl nicht mehr fliegen«,

flüstere ich,

»alle Flügel sind mir abgeschlagen.«

Noch einmal das heisere Kinderlachen, welches mich in deiner Gegenwart immer ausgezeichnet hatte –

Die Fensterläden schlagen gegen alte, verwitterte Häuserwände.

Seit spätestens gestern sind die Blumen in der Vase auch verwelkt – es wird Zeit. Nun.

Ich steige auf das morsche Holz des Brettes, strecke die Arme zu beiden Seiten aus und hebe noch einmal den Blick:

Leben barg

Voller, blutender Himmel
Du
Und
Ich
Und
Farben
Glimmender Sonnenfunken
Streut Sehnsucht

Ich springe. Der Teppich hat Feuer gefangen.