Susanne Heinrich (15)

Nachtzug

»Es wäre schön zu springen«,

lachte sie.

Sie standen nebeneinander, und das zitternde Geländer kündigte den anrollenden Zug an.

»Manchmal«,

antwortete er und sah schaudernd hinab auf die Gleise.

»Muss etwas kaputt gehen, wenn es gerade erblüht?«

fragte sie leise und schaute nach unten.

Er zuckte die Schultern.

»Wir können bleiben, bis es Winter wird«,

flüsterte er.

Sie lehnte sich weit über das Gitter, und das Zittern des Eisens übertrug sich auf ihren schmalen Leib.

Ein rollender, ratternder Zug zerriss das Warten und Schweigen, und spiegelte sich für einen Moment in ihren glasigen Augen.

Sie beugte sich tiefer und genoss die plötzliche, helle Stille.

Sie spuckte.

»Ich erinnere mich gern«,

lachte sie unvermittelt,

»an die Zeit, als ich oft lachte. Wir haben Züge bespuckt.«

Als bliebe das Lachen ihr im Hals stecken und würge sie, hielt sie inne und schwieg befangen.

Abrupt drehte sie sich um und sah ihm in die Augen.

Er blieb stumm.

»Still!«

sagte er laut, als sie den Mund zum Sprechen öffnete, und lehnte sich ans gegenüberliegende Gitter.

Müde ruhten seine Augen.

Der von Sternen bespickte Himmel drückte.

»Weißt du, wach sein bedeutet nicht, mit offenen Augen dazuliegen und die Uhr ticken zu hören. Es bedeutet nicht, zu reden und zu singen und aufzustehen aus den Traumschalen der Nacht. Es bedeutet, zu erkennen…«

Er drehte sich kurz um und presste die Lippen aufeinander.

Sie senkte die Lider und ballte ihre Hände zu Fäusten.

Vorsichtig stieg sie auf das schmale Gitter und balancierte ein Stück.

Die Wolken hingen tief und bleiern –

Er sah nicht auf.

Sie schien zu schlendern, die Arme ruhig und das Haar im Wind.

Ein hübsches, seliges Kinderlachen entfuhr ihr frei, und sie erschrak.

Als das Zittern des Geländers wieder einsetzte, spürte er, dass seine Hand eingeschlafen war, und öffnete die Augen.

In der Mitte der Brücke tänzelte sie schwankend auf dem Geländer.

Er schloss die Augen wieder, und riss sie auf und kniff sie zusammen, blinzelte im beißenden Licht der Straßenlaterne und ging ein paar Schritte.

»Lena!«

Sie drehte sich nicht um und lächelte doch.

Das Zittern wurde stärker, und sie taumelte, die Augen bald offen, bald geschlossen.

Jetzt rannte er.

Sie ging schneller und spürte ihn kommen, spürte seinen ängstlichen, dummen Blick auf ihrem Rücken und wankte lachend.

Am Horizont schlängelte sich ein Zug aus der Ferne heran. In der Sonne glänzte er silbrig. Die hellen, blitzenden Augen zerrissen das Gewand der Dunkelheit.

Er stürzte weiter und rief ununterbrochen.

Streckte die Hand aus.

Lena war nicht weit entfernt, sie schwankte heftig und drehte sich nun um, sah ihn mit fordernder Traurigkeit in den wasserfarbenen Augen an und wendete wieder. Die Brücke unter seinen Füßen bebte, der Zug, knarrend und kreischend, übertönte sein Rufen.

Sie kippte ein wenig und hob sich mit einer lieblichen Statur vom zerfetzten Nachthimmel mit der letzten rötlichen Sonnenglut ab.

Er sprang, riss sie herunter, im Moment, da der Zug heranbrauste und die Brücke erbebte.

Heftig atmend lag sie auf seinem Bauch und schwieg.

Nur das zittrige Schluchzen wollte nicht verstummen.

Beide ruhig –

»Schade«,

flüsterte sie und schloss die Augen. Sie spürte die Träne in den Augenwinkeln und an der Schläfe, fing sie mit dem Finger auf und legte den Tropfen auf seine Lippen.

Jetzt zitterte sie nur noch, und er erinnerte sich an die ersten Wochen, an ihr kindliches, heiteres Lachen und das stille, demütige Weinen.

Sie war nie gewachsen.

So, die Augen geschlossen, wirkte das Gesicht noch blasser und jünger, und bald schämte er sich, kaum Mitleid empfunden zu haben. Sie hatten versäumt –

»Komm«,

sagte er leise und strich ihr eine Strähne von der Stirn.

»Gehen wir… nach Hause.«