Susanne Heinrich (15)

 

Wenn die Sonne ewig untergeht

Ich zog noch immer an der Tür, die mit Schieben zu öffnen war, was sogar ein Aufkleber verriet, den ich seit nunmehr vier Jahren regelmäßig übersah.

Im Treppenhaus hallte es und ich rief ein paar Mal meinen Namen gegen dumpfe Wände, um sicher zu sein, dass ich antworten würde.

Die Tür erinnerte jeden Tag an frühere Zeiten. Lange schon hatte ich sie streichen wollen, das Alte ist mir wohl lästig geworden.

Der Schlüssel passte nicht.

Ich dachte nichts.

Noch einmal: der Schlüssel passte nicht.

Ungedämpfte Stimmen irgendwo hinter der Tür –

Eine helle Kinderstimme –

Ich verwirrt –

Ich klopfte.

»Guten Tag?«

»Entschuldigen sie…«, begann ich. Das junge Mädchen wickelte schwarze Locken um die schlanken Finger, sah mich schamlos und herausfordernd an und wippte mit dem Fuß. Ihre flinken Augen musterten mich, während sie eine Hand gegen den Türrahmen stemmte. »…aber ich wohne hier.«

Sie zog die Augenbrauen nach oben und sagte: »Wissen sie…«, sah mir klar in die Augen, »neue Blumen verdrängen alte. Im Herbst, wenn die Blätter fallen, ist die Zeit der Wunder.«

Ich schlug die Augen nieder. Was sprach sie?

Still, Mädchen. Es tut mir weh. Ich kann nicht lesen aus deinen Worten, sie sind mir fremd. »Der Ursprung der Veränderung liegt in der Vergänglichkeit.«

Sie sah mir fest in die Augen, bestimmt und bestimmend, ließ kein Wort zu, zog die Tür leise ins Schloss und schwieg. Sekunden erwartungsvoller und demütiger Stille folgten, ehe Schritte sich langsam entfernten. Was bedeutete das alles?

Eine Träne brach sich Bahn und verlor sich im Staub.

Beinahe erschreckte mich die kränkelnd alte Stimme, als ich erneut meinen Namen rief. Ich sah mich still um.

Draußen stritten Vögel, ich konnte ihr Lied nicht hören hinter den Scheiben.

Ich fasste gegen die kühle Scheibe, strich über das Bild eines müden und faden Gesichtes, tröstend fast.

Klage um Klage schlug ich mit den Lidern nieder, zerdrückte mit ihnen keimende, liebende Hoffnungen.

Die nächste Tür war die eines Freundes. Ich würde ihn zu einem Rotwein einladen.

Auf mein Klopfen öffnete sich die Tür.

»Hallo.«

»Entschuldigen sie, kennen wir uns?«

»Hannes.«

Der Mann lächelte traurig, schüttelte den Kopf und flüsterte rauh und andächtig: »Der Ursprung der Veränderung liegt in der Vergänglichkeit.«

Mein Blick sprang zwischen seinen warmen Augen, die klar und fremd mir schienen. Seine Lider zitterten. Das braune Haar so flach und schüttern –

»Freund!«, wollte ich rufen, »nimm mich in die Arme und schweig…«

»Verzeihung, ich habe vergessen, ihnen die Hand zu geben.«

Er nahm meine Hand. Gleich einem selten berührenden Abschied fuhr er sacht mit den Fingern über meine Handfläche, studierte dabei unablässig meine Augen und öffnete den Mund wie zum Sprechen.

Das Denken wurde mir schwer.

Am Fenster saß ein Vogel. Schnee im Gefieder.

»Der Winter zieht Frühling nach sich. Dann stirbt das Alte mit ihm. Es wird zu Erde, wird zu Staub. Das Leben birgt Tod und der Tod neues Leben.«

Ehe ich mich traurig an die Brust des Freundes legen konnte, zog er dir Tür zu. Der Blick schwieg.

Ich setzte mich auf den Fenstersims und sah ins Spiegelglas. Ein wunderlich bleiches, knochiges Gesicht mit alten, wehen Augen blickte mir hilflos entgegen und nahm mir jegliche Wärme.

Ich fasste gegen die Scheibe und fuhr Narben und Wunden nach.

Ich konnte nicht weinen, was mich erschreckte.

Was in mir blutete…

Das Treppenhaus hallte fremd und fürchterlich, ich lief wie ein Flüchtiger und berührte dabei kühle Wände.

Ich versuchte zu singen. Es gelang mir nicht.

»Guten Tag.«

»Guten Abend, mein Herr.«

Julika, eine zierliche Dame aus dem Erdgeschoss, gab mir die blasse Hand und sah mich stumm an. Ich hatte verlernt, ihr aus den Augen zu lesen. Regungslos stand sie, blass und schön und zerbrechlich, voll schämender Liebe, voll Glasblüten und Glastränen, voll düster tiefer, feiner und lieblicher Gedanken.

Draußen ging Frühlingsgewitter. Der Sturm riss an Fensterläden. Das Kreischen der Vögel erfüllte die Luft, gedämpft durch milchige Scheiben, erfüllte mit Aufbruchsstimmung und klagender Angst mein stilles Herz.

Ich sah sie voll demütiger Hoffnung an; was ich wusste, war nichts, nur dass der Wind alles forttrug, was mein Leben zusammenhielt. Worte hatte es nie gegeben, das zu halten, was »Leben« hieß.

»Ich bin Herr Leiser.«

»Ich kenne keinen Leiser mehr. Vor vielen Jahren, … wissen sie, er ist längst gestorben…«

Ich nickte leicht, sah ihr ein letztes Mal flehend in die warmen Rehaugen und wandte mich mit gesenktem Kopf ab.

»Ach…«

Das Mädchen berührte zart meine fröstelnde Schulter und sah mich still an.

»… das Leben birgt Tod und der Tod neues Leben.«

Sie stellte Blumen aufs Fensterbrett.

Im Spiegel ein altes, vernarbtes Gesicht, faltig und verwittert, gezeichnet und stumm. Die Tränen hatten mich wiedergefunden.

Knochige, zitternde Finger in der dünnen Luft. Ich ballte eine müde, trostlose Faust, wie überhaupt alles an mir trostlos und verfallen wirkte, und schlug schweigend gegen das Glas.

Die Scherben im dünnen Haar, an den Händen und auf staubigem Boden –

Überall darin greise Gesichter.

Ein Vogel flog herein und setzte sich auf den Sims.

»Sprich nicht mit mir«, flüsterte ich mit heiserer, müder Stimme, »ich bin doch längst tot.«

Draußen Frühling –

Knospen trieben und brachen, Blüten wehten und lockten, Vögel sangen und tanzten, ein junger Wind raufte und spielte.

Ich schlich, gleich einem Schatten, vorüber, ohne genießen zu können den feinen Duft der Auferstehung, den frischen neuer, unschuldiger Triebe, wusste ich doch, dass ich zu altem Laub gehörte.

Meine Schritte wurde von hellgrünen Halmen unter erster Sonne geschluckt.

Ich streckte die weiße, dürre Hand aus, um noch einmal zu wagen, was unmöglich schien:

Zu halten und zu verweilen, ein Teil des Frühlings zu werden, ein Teil des Anfangs.

Rauh kräuselten sich sanfte Wellen auf dem Wasser, der See spiegelte bunten Frühling. Licht.

Der gekrümmte Rücken einer schlanken, alten Frau, auf dem Lichtfunken tanzten – Ihr graues Haar lag auf den Schwingen des Abendwindes, der Tag spuckte eine knittrige, kühle und junge Nacht vor unsere Füße, faltig und dürr und unbeholfen.

»Dunkel und dunkel. Asche zu Asche und schwarz zu schwarz.«

Ihr Gesicht war jung und klar geblieben, tiefe Furchen zogen nur vergangene Wunden, die Sterne nun aus ihm wuschen. Sie hockte, die Arme um angezogene Knie weich geschwungener Beine gelegt, auch das ganz und gar eine Geste eines Mädchens.

Aufrichtig legte die sanfte Schöne ihre Hand auf junges Gras und bedeutete mir, mich zu setzen.

»Was meinst du damit?«

»Es ist nun dunkel, und auch in mir ist Nacht längst eingekehrt.«

»Warum?«

»Der Lebensabend streckt seine Arme nach mir aus. Sie haben mich abgelegt.«

»Sie?«

»Sie kennen mich nicht mehr – die Falten… Ich bin wohl zu alt geworden. Der Sturm bringt neues. Viele haben hier schon gesessen. Viele neue, junge Federn sind gekommen.«

»Sollten wir springen?«

»Ich finde den Mut nicht dazu.«

»Ich wohl auch nicht. Das Leben ist mir lieb. Auch wenn es nicht immer sanft war.«

Sie nickte. »Der Tod wird uns schon holen, das Wasser, wenn der Regen kommt. Wenn es soweit ist.«

»Es ist nun wohl alles vorbei.«

»Es ist wohl vorbei, ja.«

Ich schlug die Augen nieder.

Sie lehnte sich an meinen Rücken, nahm meine Hand und legte sie auf ihren Bauch. Ich sah sie an. Ein zärtlicher Windhauch erfasste ihr Haar und legte es um mein Gesicht.

»Still«,

flüsterte sie und schloss die Augen,

»das Wasser spricht gerade.«