Susanne Heinrich (15)

Ihr rotes Blut

Sie lehnte mit dem Rücken an der Wand und hatte die Hände schützend vor das Gesicht gelegt. Ihre Arme bebten bis zu dem Schulteransatz. Ihre schmalen Schultern waren dicht an den Hals gezogen, als friere sie.

Er lief den Raum ab. Von rechts nach links, dann umgekehrt. Er fluchte und biss sich auf die Unterlippe, biss sie geschwollen war. Schon zum wiederholten Male strich er sich die Haare aus dem Gesicht. Er brauchte etwas zu tun. »Es ist aus, du weißt das!« Es klang nicht wie eine Feststellung. Es klang wie eine Bitte.

…Bitte, du weißt doch, dass ich nicht anders kann. Du hast es doch erwartet, oder? Du hast es kommen sehen. Du hast es kommen sehen müssen….

Es klang wie ein Hilfeschrei nach Selbstbestätigung.

Er beschleunigte den Schritt. »Du musst es doch gewusst haben, dass es so kommt! Ich kann es nicht ändern. Ich…Ich…« Die Stimme brach ab.

…Nein. Nichts sagen. Ein Löwe verliert nicht seine stolze Mähne…

Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare.

Ich…Ich…« – flehend.

…Sag doch was, oh sag doch was! Sag doch, dass es nicht meine Schuld war! Sag irgendwas, bitte. Sag was, um Himmels Willen!…

Seine Augen klebten an ihren Händen. Ihre Schultern bebten. Sie sah ihn nicht an.

Er kam sich vor wie ein Mörder. Dreckschwein. Betrüger.

Seine Füße gruben sich in den Teppich. Ein fetter, roter Orientteppich. Treibsand. Der zog an seinen Füßen, immer mehr. Er blieb stehen, hielt sich an der Tischkante fest. Der Treibsand zog. Er sackte ein. Langsam.

Er steckte bis zu den Knöcheln darin. Er klammerte sich an die Tischkante. Er hob ein Bein. Es ging ganz leicht. Er lachte kurz laut auf, obwohl er schreien wollte. Es war ein Lachen, welches ihm zeigte, dass er noch da war. Vollständig.

Er stand vor dem Tisch. Er drehte sich zu ihr. Sie lehnte an der Wand. Ihre Haare fielen ihr auf die Schultern. Ihm fiel auf, dass sie weinte. Er drehte sich weg.

Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, umklammerte wieder die Tischkante.

»Vergiss mich!« Es klang so einfach. So dahergesagt. So hohl. Wie: »Steh auf!«

Sie hatte aufgehört zu wimmern.

Er wiederholte den Satz: »Vergiss mich!« Energisch. Kompromisslos. Die Zeit stand still. Gefror. Er schaffte es nicht, sie anzusehen. Sein Blick traf den Boden. Treibsand. Unsinn!

Sie stand still an der Wand. Er sah auf.

Sie hatte die Hände vom Gesicht genommen. Rote Flecken um die Augen, die Wangenknochen abgemagert. Sie sah nicht aus wie das Mädchen, dass er geliebt hatte. Geliebt.

Ihre Augen waren glanzlos, aber voller Würde. Stolz.

…Sieh mich an, du Elender! Sieh mich an! Sag es mir ins Gesicht, los! Du hasst mich, nicht? Du hasst mich! Schau in mein Gesicht! Siehst du mich? Siehst du, wie ich leide? Und, reicht es dir? Du Betrüger, elender! Schänder!…

Er wandte den Blick ab. Schmerzvoll.

…Es tut weh! Bitte lass mich gehen! Lass mich gehen!…

Er war gefangen. »Vergiss mich!« Es kam kaum über seine Lippen. Es war geflüstert, kaum ein Laut, den man vernahm. Er hatte lange gebraucht, die zwei Worte auszusprechen. Gerade so, als sei es eine Qual, davon zu reden. Flehen. Hilferuf. Er hatte Angst.

Angst vor ihren Tränen. Angst vor ihren Augen. Angst vor sich selbst, seiner Schwäche. Und diese Angst machte ihn gefährlich.

Er fuhr herum, stieß mit dem Fuß den Stuhl um, der vor ihm stand. Polternd fiel er auf den Boden.

Sie zuckte zusammen, duckte sich, zog sich enger an die Wand.

Er genoss ihre Furcht.

…Nicht immer, nein. Jetzt bist du es, der Angst hat! Du, du, du!…

Er schaffte es nicht, ihr in die Augen zu sehen. Er war wütend. Wütend auf sie, auf sich selbst, auf seine Angst.

Er wartete, witterte. Wie ein Raubtier, bevor es zum tötenden Sprung ansetzte. Er starrte auf den Boden, spuckte auf den Teppich. Treibsand. Unsinn! Er spuckte noch mal.

…Sag was, du Schlampe, wehr dich! Komm her! Los, komm schon, Luder! Komm!…

Sie sah ihm in die Augen. Sie hatte keine Angst. Das machte ihn wehrlos.

Er ging auf sie zu. Unsicher. Ihre Blicke machten ihn verrückt. Er blieb stehen.

Sie wandte sich nicht von ihm ab.

»Vergiss mich, verdammt nochmal!« Er schrie. Hoch, laut, unerwartet. Das Zimmer bebte. Dann war für Sekunden Stille. Nur der Atem Zweier. Doch dann fing sie an zu schluchzen. Leise, hemmungslos, lauter.

»Bitte!« Sein einziges Wort. Es klang wie eine Entschuldigung. Er sank zusammen.

…Was habe ich nur getan, was habe ich getan?…

Er suchte Halt an der Tischkante. Seine Stirn glänzte vor Schweiß. Er sank zusammen unter der Last seiner Schuld. Sie öffnete den Mund. Langsam. Schmerzhaft.

»Wenn…« Sie weinte. »Wenn ich es könnte, würde ich es für dich tun.«

…Sie liebt dich noch, du Schwein. Was tust du ihr! Verdammt! Jetzt heult sie wegen dir! Tu was, los, tu was!…

Er biss sich auf die Lippe. Er stand auf, sah sie an. Er ging zu ihr, legte ihr die Hand auf die Schulter.

»Nein, bitte!« Sie schob ihn weg. Sie schob ihn weg. Zitterte. Wieder seine Wut. Mehr und mehr. Sie brannte durch seinen Körper, durchzog jeden seiner Finger, erfüllte ihn mit Flammen.

Er packte ihren Kopf. Brüllte: »Du sollst mich vergessen!…« Er warf sie gegen die Wand. Immer wieder. Er schleuderte ihren Körper gegen die Wand. Schleuderte ihn hin und her. Ihre Haare flogen durch die Luft. Er bebte vor Wut, ließ sich gehen. Er starrte ihr Haar an, nur ihr Haar.

Hin und her, immer wieder. Ein dumpfer Aufprall ihres Körpers an der Wand. Sie verlor kein Wort, keinen Laut. Er schlug fester zu. Immer und immer wieder.

Er brüllte. Schweiß tropfte ihm in die Augen. Seine Hand zitterte.

…Sch…, was machst du hier…

Er ließ sie los. Zog seine Hand zurück. Starrte ihre Stirn an. Angewidert.

Die Augen waren geschlossen, der Mund halb geöffnet. Die Nase blutete und ihre Wangen brannten rot. Der Kopf kippte nach einer Seite. Der Hals trug ihn nicht mehr.

Blut lief über ihr Gesicht. Warmes, rotes Blut. Viel warmes, rotes Blut. Sie knickte ein. Ihr Körper fiel in sich zusammen.

Erst fiel sie zur Seite, schlug an den Tisch. Der Körper drehte sich, ihre Arme knallten auf die Tischkante. Ein Stuhl fing ihren Bauch ab, und sie fiel rückwärts. Die Beine gaben nach.

Mit dem Rücken stieß sie an die Wand, und dann knickte sie vollends ein, mit dem Kopf zuerst auf dem Boden.

Ihre Hände zuckten. Bebten. Sie ballte eine Faust. Eine schwache Faust.

Ihr Arm hielt still. Sie lag da.

Das Blut lief auf den Teppich. Roter Orientteppich, rotes Blut.

Er verlor keine Träne. Er starrte sie an.