Katharina Fussi (17)

Sie lügen

Sie lügen, indem sie ihn mit lächelnden Augen anblicken und so tun, als gäbe es da noch etwas, worüber man lächeln kann. Doch er weiß, dass sie nicht recht haben; kennt ihnen an, dass ihre glücklichen Gesichter nur vergebliche Versuche sind, um ihn aufzumuntern; um ihn vielleicht ein bisschen von seiner Krankheit abzulenken.

Doch diese lächelnden Gesichter verraten ihm, dass er bald sterben wird. Sie verraten es ihm mehr, als irgendwelche Worte es jemals könnten.

Es sind diese mitleidsvollen Blicke, mit denen sie ihm sein Schicksal immer wieder bewusst machen. Blicke, die doch nichts anderes sind, als die Widerspiegelung ihrer Hilflosigkeit. Blicke, die erkennen lassen, dass sie nicht wissen, was sie tun, wie sie ihm begegnen sollen. Und dann gibt es noch jene Blicke, die sich von Angst nähren; von der Angst davor, dass sie es sein werden, die ihm die Wahrheit sagen müssen; von der Angst davor, dass er ihnen ihre Lügen nicht verzeiht.

Sie wissen, dass er zu schwach ist, um an seinem Leben festzuhalten. Noch hat er ein Seil, das ihn mit seinem Leben verstrickt. Doch es verliert bereits an Stärke, beginnt dünner zu werden. Bald wird es nur mehr ein Faden sein; ein hauchdünner. Aber er wird den Faden nicht durchreißen; wird sich nicht an sein Leben klammern. Er wird spüren, wenn es Zeit ist, loszulassen; und es wird bald sein.

Vielleicht glauben sie, er weiß nicht, dass er sterben wird. Vielleicht denken sie, sie helfen ihm, wenn sie ihm verschweigen, dass seine Krankheit ihn besiegen wird. Oder vielleicht glauben sie tatsächlich, dass die Medikamente ihm helfen werden.

Das werden sie nicht. Es ist zu spät. Er möchte keine Gedanken daran verschwenden, wie es wäre, wenn die Medikamente doch nicht bloße Verschwendung wären. Im Grunde wollen sie doch nur über ihre Hilflosigkeit hinwegtäuschen und sich selbst einreden, dass noch Hoffnung besteht. Das ist auch alles, was sie noch tun können. Aber, müssen sie es ihm so schwer machen? Er hat sich damit abgefunden, dass nur mehr wenige Körnchen seine Sanduhr durchlaufen – und das immer schneller. Aber er hält es nicht aus, angelogen zu werden.

»Das wird schon wieder!« »Wirst sehen, die Tabletten werden dir helfen!« »Nur nicht unterkriegen lassen. Im Nu bist du wieder gesund.« Er kann sie nicht mehr hören – immer dieselben Sätze, immer dieselben Lügen, dieselben Blicke.

Es schmerzt, angelogen zu werden; schmerzt noch viel mehr als die Krankheit selbst. Es tut weh, wie ein Kind behandelt zu werden, dem man etwas auszureden versucht, obwohl man genau weiß, dass es recht hat. Es ist kein schönes Gefühl, als einziger die Wahrheit nicht verändern zu wollen; als einziger die Wahrheit zu schätzen. Irgendwie fühlt er sich nicht verstanden hier auf dieser Welt. Aber vielleicht – vielleicht gibt es ja noch irgendwo eine andere.