Katharina Fussi (17)

Heute ist das Wetter rot

»Kannst du die Klimaanlage einschalten?«

»22 Grad?«

»Ja, danke.«

Das »Danke« nimmt er kaum mehr wahr. Er hört es zwar, doch er vergisst es so schnell, wie es im Schweigen versickert, das beinahe tot wäre, wäre da nicht das Geräusch der Lüftung. Angenehme Kühle strömt in den Wagen und vermischt sich mit der schwülen Hitze, die sich im Auto breit gemacht hat.

Mit dem Handrücken wischt er sich den Schweiß, der in seinen Augenbrauen zu verkleben droht, von der Stirn. Es ist wie jeden Tag, denkt er sich; Baustellen, Staus und rote Ampeln.

Zäh zieht sich die Luft draußen durch die Straßen und schlingt sich von Häuserblock zu Häuserblock, von Gehsteigrand zu Gehsteigrand. Mit müden Blicken beobachtet sie die Leute am Gehsteig, die in ihren Augen flimmern. Sie kommen von links und von rechts – aus allen Himmelsrichtungen, tragen Einkaufstüten, schleppen Aktenkoffer oder schieben Kinderwagen, einsam oder zweisam und mit den Gedanken meistens irgendwo anders.

Ein buntes Bild von Burschen in kurzen Hosen und Mädchen in Röcken brennt sich in ihre Wahrnehmung. Auch ihre Gesichter scheinen zu schlafen, als hätte sie die Sonne ausgetrocknet. Nur ihre Beine drängen sie vorwärts, vorbei an den dreckig-grauen Hauswänden, dorthin, wo sie sich nach kurzer Zeit wieder nach dem Weg entlang der Wänden sehnen werden.

Die Ampel wieder Grün. Er löst die Handbremse und fährt weiter. – Schade, jetzt wird sie nie erfahren, was mit dem Kind geschehen ist, das eben mit den Rollschuhen gestürzt ist.

Das Bild vor ihren Augen verschwimmt in eines aus Rockhosen und Hosenröcken; in eines aus Kinderwagentüten und Tütenkinderwagen. Fast schon ist es nicht mehr gegenwärtig. Entschwunden dorthin, wo die Augen nicht sehen, sondern nur mehr die Ohren das Schweigen wahrnehmen können, das sich wie eine Dunstglocke über die Stadt gelegt hat.

Schon wieder: Baustelle, die Ampel rot.

Er verlangsamt den Wagen und bringt ihn zum Stehen.

»Es ist wirklich heiß heute«, meint sie.

»Wir könnten wieder einmal baden gehen!«

»Ja, vielleicht.«

Er dreht einen Knopf an der Fahrertür, mit dem er den Rückspiegel verstellen will. Doch es gelingt ihm nicht. Der Spiegel lässt sich um keinen Zentimeter verdrehen. Das Bild in ihm bleibt dasselbe. Er sieht nur das dunkle Blech seines Autos. Und das, was er noch darin erkennen kann, beunruhigt ihn. Er sieht nicht, was geschieht und kann sich nicht mehr daran erinnern, was geschehen ist. Sein Rückspiegel – er zeigt ihm so wenig von dem, was schon gewesen ist. Wahrscheinlich ist es unwichtig – so unbedeutend wie belanglose Gespräche über das Wetter – trotzdem wird er weiterfahren können. Er wird auch ankommen. Aber er wird sich an die meisten Bilder des Rückspiegels nicht mehr erinnern können, wird vieles vergessen haben. Nur das Bild wird bleiben, das ihm sein Rückspiegel zuletzt zeigen wird.

Er wünschte, da wären mehrere Bilder, die er als bedeutend bezeichnen könnte. Aber er will sich selbst nicht belügen. Er weiß, dass auch das Bild, das er jetzt im Spiegel sieht, schon bald verblassen wird. Was soll er dagegen tun? Sich eine rote Ampel für sein Leben wünschen? Und dann Bilder über das Wetter sammeln? Nein, das kann es wohl nicht sein.

Die Ampel springt auf Grün. Die Fahrt geht weiter. Das Bild immer kleiner und kleiner, beginnt in einem dunklen Punkt zu verschmelzen, aus dem ein neues geboren wird. Auch das wird schweigen – bis zur nächsten roten Ampel, an der es sich in eines verwandeln wird, das vom Wetter erzählt.

»Kannst du dich an letzen Sommer erinnern?« fragt sie ihn.

»Ja, heiß war es.«

»Ja, aber so heiß wie heute war es nie!«

Sie wendet sich wieder dem Fenster zu. Neben ihnen in der Kolonne, ein weißer Pkw, dessen Fahrer sie mit glasigem Blick mustert. Unangenehm, denkt sie sich. Vielleicht hätte sie die neue Haarfarbe gestern doch nicht ausprobieren sollen. Ist vielleicht zu dunkel für ihren Teint. Egal.

»Pauls frische Pizza« steht in fetten, roten Buchstaben auf der Seitentür des Pizzawagens geschrieben.

Muss ja aufregend sein, jeden Tag Pizzen auszufahren, denkt sie sich. Und erst ein Abenteuer, in eine Pizza zu beißen, bei der man erst darauf hingewiesen werden muss, dass sie frisch ist.

Hinter dem Pizzawagen, ein dunkelroter Audi; gefällt ihr auch nicht der Wagen. Die meisten Autos gefallen ihr nicht. Blechkisten. Irgendwann landen sie ohnehin auf dem Schrottplatz. Sind sowieso nur Mittel zum Zweck, die die Menschen von einer Zukunft in die nächste bringen und mit deren Hilfe sie vor der Vergangenheit flüchten, obwohl sie die noch gar nicht bewusst durchlebt, sondern nur die Erinnerungen an das Wetter vor Augen haben.

Die Ampel ist wieder grün, und wieder geht es weiter. Er in Gedanken an den Rückspiegel und sie in Gedanken an den Schrottplatz. Und beide wissen sie, dass es heiß ist draußen.

Und dann eine Kreuzung. Er sieht die Ampel nicht. Sie ist rot. Er fährt weiter – draußen ist es noch immer heiß – und im Auto ist es plötzlich still.