Katharina Fussi (17)

D-Dur

Sie ist oft allein in ihrem Zimmer; verbringt gern ihre Zeit dort. Denn sie hört und sieht viel in ihrem kleinen Raum – vor allem die Musik. Laute und leise, schnelle und ruhige, schwermütige und lustige. Haydn, Beethoven, Mozart und zwischendurch einmal ein bisschen Vivaldi und Bach.

Sie liebt ihre Musik. Hört sie so, wie sie sie hören will. Streicht hier ein paar Takte weg und fügt dort ein paar ein. Spielt ihr eigenes Forte, ihr eigenes Pianissimo. Hört in dem einen Moment so aufmerksam hin, als würde sie nichts anderes um sich herum wahrnehmen und ist im anderen so teilnahmslos – so dermaßen ehrfurchtslos, als wolle sie ein paar Takte nicht zulassen; als verschließe sie ihre Ohren gegen etwas, das nicht in ihre Welt passt.

Sie sieht sich in einem Wechselspiel zwischen Hören und Nicht-hören-Wollen; zwischen Annehmen und Nichtzulassen. Es ist ihr eigenes Stück, das sie sich bastelt. Nur mit ihren Ohren, ganz ohne Hände. Denn die gibt es nicht mehr. Die hat sie im Krieg verloren. Nicht so, wie man einen Ring verliert, den man irgendwo verlegt hat. Das ist schnell gegangen. Ihre Hände waren plötzlich weg. So schnell, dass sie im ersten Moment gar nichts gespürt hat. Erst später, als sie das Blut gesehen hat, hat sie die Schmerzen gefühlt.

Sie ist froh, dass sie überhaupt noch etwas gesehen hat. Hätte ihr genauso ergehen können, wie ihrem Bruder. Der hat gar nichts mehr gesehen. War von einer Sekunde auf die andere blind. Holzsplitter im Auge. Aber wer hat schon wissen können, das sie genau über ihrer Stadt eine Bombe abwerfen? Und dass die Bombe genau ihr Haus trifft? Mit einem Schlag ist alles eingestürzt. Der Dachboden ist heruntergekommen, so schnell hat sie gar nicht schauen können. Und dann war alles voller Staub. Überall Ziegel und Bretter; irgendwo darunter ihre Mutter.

Und jetzt – nein bitte nicht Tschaikowsky. Sie muss weghören; darf sie nicht zulassen, diese grauenvolle Musik. Sie möchte Mozart weiterhören; seinem C-Dur Konzert lauschen. Wie kann Tschaikowsky sich einfach so in ihre Gedanken drängen? Wo ist Mozart? Wo seine Flöte? Seine Harfe? Sie hat beide doch eben noch gehört. Sind sie da noch irgendwo? Ja, sie hört sie noch. Doch nur ganz leise. Ganz weit weg. Irgendwo im Hintergrund verzerrt. Und im Vordergrund, immer lauter, immer bedrohlicher, dieses schreckliche Tschaikowsky Konzert. Sie kann ihn nicht hören, wenn auch nur seines D-Dur Konzerts wegen. Es erinnert sie an so vieles; an so vieles von zu Hause. An ihre Schule, ihre Klassenkameraden und an ihre Lehrerin, die eins Tages plötzlich weg musste. Niemand hat gewusst wieso und wohin. Es erinnert sie an ihr Haus, an den Garten mit dem großen Apfelbaum auf den sie immer geklettert ist, an den netten Nachbarn und seine Katze, die sich nur von ihr streicheln lassen hat. Und es erinnert sie an diesen verdammten Krieg, der alles zerstört hat, an die Panzer, an die Soldaten in ihren braun-grünen Uniformen und an ihre Eltern.

Diese verdammten, leidenden Geigen im zweiten Satz. Sie malen ihr die schrecklichsten Bilder vor Augen. Und dann, mit einem Knall, wie ein Feuerschuss: Allegro vivacissimo. Immer schneller, immer lauter, immer weiter fort bis es plötzlich leise wird – ganz sanft, ganz ruhig. Doch nur Schein, in Wahrheit nichts als Verwüstung und weiter Krieg; immer, immer, immer weiter.

Sie möchte nichts mehr hören; möchte nicht mehr nachdenken müssen, an nichts mehr erinnert werden. Möchte sich ihre Ohren zuhalten. Doch manchmal hat sie es schwer ohne Hände.