Gabriele Drab (17)

Glasscherben

Der Stein lag immer noch schwer in ihrer Hand. Er war erdig-braun, weiß und grau durchbrochen. Als wäre er einmal hinuntergefallen und mit Zement wieder zusammengesetzt worden.

Max‘ Geschenk, an der Wohnungstür. Vorgestern, bevor er nach Prag aufbrach. Nun schien das erdige Braun schon etwas an Farbe verloren zu haben, kaum merklich. Sie sah auf. Seit gestern lagen diese scharfen Splitter in ihrem Wohnzimmer verstreut, seit plötzlich sein gerahmtes Foto von der Wand gefallen war.

30 km von Prag entfernt, war ein Lastwagen auf der Autobahn auf die Gegenfahrbahn geraten.

Sekundenschlaf.

Max‘ Auto wurde wie eine Nußschale zerdrückt. Er war aber nicht sofort tot. Er sagte angeblich noch etwas, bevor er innerlich verblutete: »Ursula« oder so ähnlich.

Die Ärzte sagten, er hätte große Schmerzen gehabt.

Der LKW-Lenker erlitt einen Schock, und eine Platzwunde über der rechten Augenbraue mußte genäht werden.

Es würde nicht einmal eine Narbe zurückbleiben, erklärte der Arzt, der Max‘ Totenschein ausgestellt hatte.

Am Mittwoch Morgen hatte Max versuchte sie nicht zu wecken, als er aufstand. Aber sie hatte ohnehin nicht wirklich geschlafen die Nacht über. Mit halb geschlossenen Augen beobachtete sie ihn, wie er zum Kleiderschrank ging, ein riesiges, antikes Ding aus Eichenholz. Als er die Tür öffnete , ertönte ein lautes Geräusch, das wie ein Schmerzensschrei, die Stille des Morgens zerriß.

Er zuckte zusammen und drehte sich zu ihr um. Sie öffnete die Augen vollständig, um seinen Gesichtsausdruck besser sehen zu können, aber er wandte sich gleich wieder weg und nahm einige Kleidungsstücke aus dem Schrank.

»Warum schleichst du dich so aus dem Bett?« fragte sie ihn. Es klang vorwurfsvoll, aber sie war sich nicht sicher, ob sie das auch beabsichtigt hatte.

»Ich wollte dich nicht aufwecken.«

»Du weißt doch, dass ich nicht geschlafen habe.«

Max sagte nichts, sondern suchte in der untersten Schublade nach irgendwelchen Socken.

»Du fährst jetzt nach Prag.«

Er stand auf, schob die Schublade mit dem Fuß zu und seufzte. »Darüber haben doch schon gestern geredet.«

Gestritten wäre das richtige Wort gewesen. Er hatte sie angeschrien, sie hatte ihn angeschrien. Sonst versöhnten sie sich nach jedem Streit wieder schnell, aber diesmal…

»Was wirst du in Prag machen?«

»Das habe ich dir doch schon gestern erklärt.«

»Dann erklär es mir doch noch mal.« Schon wieder ein Seufzer.

»In der Prager Universitätsbibliothek gibt es mittelalterliche Dokumente, die einzigartige Abschriften von Minnedichtung enthalten, die ich für meine Dissertation benötige.«

Er sprach mit ihr, als wäre sie ein debiles, 5-jähriges Kind.

»Wird sie dabei sein?«

Er nahm das Gewand und ging ins Bad.

»Wird Ursula dabei sein?« schrie sie ihm nach.

Er antwortete nicht.

Als nächstes hörte sie die Dusche rauschen. Sie stand auf und ging zum Fenster. 20 Meter entfernt, ein weiterer grauer Wohnblock wie dieser. 11 Stockwerke unter ihr, die graue Straße. Es waren noch keine Autos unterwegs, nur eine einzelne Gestalt wartete an der Bushaltestelle. Über ihr, grauer Himmel.

Sie wandte sich ab und ging in die Küche. Auf dem Tisch stand noch alter, abgestandener Kaffee vom Vortag. Sie leerte ihn in den Ausguß und stellte neuen zu. Kalte Morgenluft strömte herein, als sie das große Küchenfenster öffnete. Der Kaffeeduft wurde hinaus geweht. Max kam in die Küche.

»Wird Ursula dabei sein?«

»Ursula spielt hier keine Rolle.« Er nahm sich eine Tasse und leerte halb Kaffee hinein.

»Sieh mich an.«

Er sah sie müde an.

»Ja oder nein?«

Er trank den Kaffee in einem Zug aus, sagte dann, unbestimmt, zu niemanden: »Ich muß jetzt fahren.«

Seine Reisetasche stand schon fertig im Vorzimmer. Anstatt eines Abschiedskusses drückte er ihr einen Stein in die Hand und ging dann ohne ein weiteres Wort.

Der Himmel war noch genauso grau wie am Mittwoch morgen. Sie legte den Stein aufs Fensterbrett, und ging zum Telefon hinüber. Unter ihren Füßen knirschte das Glas.

Sie nahm den Hörer ab und wählte Ursulas Nummer.

»Es ist aus.« sagte sie der anderen.