Stefanie Brottrager (16)

Alles anders

Als sie in die Klasse kam, waren noch alle Stühle leer. Auf einigen Sesseln hingen Jacken, ein paar Schultaschen standen daneben. Einer hockte in der Ecke und hörte Musik mit seinem Discman; er hatte gar nicht bemerkt, dass sie hereingekommen war. Sie setzte sich auch hin und holte ihre Discman heraus. Es deprimierte sie, so allein in der Klasse herumzusitzen. Er war auch noch nicht da; er, ihr Sitznachbar. Doch, sein Mantel hing auf einem der Stühle. Wahrscheinlich war er am Raucherhof.

Er war immer einer der ersten in der Klasse. In der letzten Reihe, wo sie und er saßen, war immer ein Platz frei. Deshalb wurde die Sitzordnung auch nie so genau eingehalten. In der Zeit vor den Ferien sind sie immer nebeneinander gesessen. Am Anfang nur so, weil der Platz neben ihr frei war, weil ihre eigentliche Sitznachbarin die Schule gewechselt hatte. Die anderen hatten schon blöde Bemerkungen gemacht, dass er nun immer neben ihr sitzen würde, aber niemand nahm das wirklich ernst. Jetzt, in dem Moment, wo sie alleine in der Klasse war, fiel ihr erst auf, dass sie nie vorher bemerkt hatte, dass sie mit ihm eine enge Freundschaft verband.

Er war immer da, saß neben ihr, und sie redeten über alles und nichts, vor allem während der Stunden. Eigentlich war es nur Blödsinn, den sie immer redeten, oberflächliches Zeug, wie sie alle dachten. Nie hatte sie sich gedacht, dass man dadurch einen Menschen so gut kennen lernen konnte. Irgendwann fingen sie an, ab und zu auch über ernste Themen zu reden. Naja, ernst – über eher persönliche Dinge.

Wenn man bedenkt, dass sie früher über die Comics die aufs Klopapier aufgedruckt sind geredet hatten, erscheint bald ein anderes Thema ernst. Und so sind sie zusammengewachsen. Jetzt jedoch verbindet sie auch noch etwas. Jetzt noch viel mehr, und doch hat sich Distanz zwischen sie gedrängt.

Es war dieser sonnige Nachmittag in den Ferien, ihr war langweilig, und sie radelte in die Stadt. Die Sonne brannte auf den Asphalt, die Straßen fast menschenleer, in der Eisbude ein paar Leute. Sie schaute ein wenig durch die Auslagen, wollte zuerst etwas anprobieren, doch die Hitze ermüdete sie so sehr, dass sie das Hemd wieder zurücklegte und weiterging. Sie kaufte sich eine Flasche mit Mineralwasser, im Supermarkt war es viel billiger als in einem der Cafés.

Da rief sie ihn an. Einfach so, in einer Telefonzelle, ob er nicht vorbeikommen wolle, es sei so heiß, und sie könnten ja ein Eis essen.

Und er kam. Er erzählte schnell das neueste Klopapier-Comic, und im Schnelldurchlauf die letzten freien Tage.

Es war ein eigenartiges Gefühl. Sie kannten sich so gut, und nun war es plötzlich ein eigenartiges Gefühl, sich flüchtig an der Hand zu streifen, wenn man schnell nach einem Taschentuch griff. Sie setzen sich auf die Lehne von einer der vielen knallrot gestrichenen Bänke hinter dem Schulgebäude.

»Du«, sagte er plötzlich in diesem immer gleichbleibenden Tonfall, »mein Plan sentimental ist total durcheinander. Geht’s dir gleich, oder… hab ich nur was Falsches gegessen, oder so… Scheiße, es kribbelt so in mir, was soll das?" Er blickte fragend und etwas verunsichert in ihr Gesicht.

Sie wurde nie rot, egal, wie peinlich ihr etwas war oder wie unsicher sie auch war. Doch nun spürte sie, wie Blut in ihrem Kopf rauschte, auch wenn die Haut bleich blieb. »Moi aussi«, flüsterte sie schnell und blickte zu Boden, es war so ungewohnt, in solchem Tonfall mit ihm zu reden. Sie ahnte schon, dass sie nun beide gleich aufstehen würden, und von Internetpornos oder davon, dass in 30 Jahren das Erdöl ausgeht, reden würden, um schnell die peinliche Situation zu vertreiben. Der Kies unter seinen schwarzen Schuhen, die er im Winter und im Sommer trug, knirschte, als er seinen Fuß in ihre Richtung drehte. Sie wollte gerade zum Aufstehen ansetzen, als sie seine Hand durch ihr Haar fahren spürte. Sie wusste genau, wie seine Finger aussahen, so dünn, und sie wusste auch wie jeder einzelne Fingernagel aussah, so oft hat seine Hand neben ihrer auf dem Tisch geruht… in der Schule, als sie nur so nebeneinander gesessen hatten, weil der Platz halt grad frei war. Doch bewusst berührt hatten sie sich noch nie. Vielleicht ein schnelles Busserl, zum Schulschluss, das ja, vielleicht.

Sie wagte sich fast nicht, ihn anzusehen, dann tat sie es doch. »Ich dachte mir, wir kennen uns zu lange, als dass aus uns noch mal was wird«, sagte er ganz leise und dicht an ihrem Gesicht. Sie nickte nur und ließ die Augen zufallen, um geküsst zu werden. Oder um ihn zu küssen. Beides.

Da läutete ein Handy. Ihres. Sie schnappte es aus dem Säckel und quasselte drauflos. Er schaute auf den Fluss, ganz wie immer, sein ruhiger, starrer Blick. Sie wimmelte den Anrufer ab, legte auf, setzte sich wieder auf die Lehne und sah auch auf das Wasser.

Da saßen sie. Zehn Minuten, eine halbe Stunde, ohne zu reden.

»Ich hab jetzt dann noch Gesangprobe«, stammelte sie, stand auf und hob das Fahrrad aus der Wiese.

Er sah ihr in die Augen, ganz genau, sie sahen sich an, sie lächelten. "Wir sehn uns in der Schule, ok?" Sie drückte ihm ein schnelles Küsschen auf die Wange, so schnell, dass er gar nicht zurückküssen konnte.

Er warf ihr ein Küsschen nach, sie drehte sich nochmal um und lächelte. Dann war sie weg, er blieb sitzen und blickte aufs Wasser.

Sie hörte nichts von ihm für den Rest der Ferien, und ihr fehlten auch die Worte, um sich bei ihm zu melden. So vergingen die Tage der Ferien, sie wusste nicht, was er dachte, er wusste nicht, was sie dachte, alles war anders. Plötzlich. Vorher redeten sie über alles, alles war normal, jetzt kam er sich blöd vor, sie anzurufen, um Klopapier-Comics auszulachen.

Und jetzt, wo sie in der Klasse saß, sein Mantel neben ihr, musste sie an die warmen Sonnenstrahlen dieses Nachmittags denken. An den Abdruck vom Fahrrad im Gras, an das Wasser vom Fluss, das nun immer noch gleich fließt, gleich wie an diesem Nachmittag.

Die laute Schulglocke läutete. Langsam füllte sich die Klasse.

Sie nickte jedem zu, sie wollte nicht reden, so lange sie die Ohrstöpsel vom Discman in den Ohren hatte.

Da kam er. Ihre Blicke trafen sich. Sie wollte lächeln, er vielleicht auch, doch sie taten es nicht. Er setzte sich weiter drüben in der letzten Reihe hin. Schweigen.

Es tat weh, was war passiert?

Da kam der Lehrer, sie standen auf, setzten sich wieder. Da sah sie nochmal hinter den Sesseln zu ihm rüber, und er muss ihren Blick gespürt haben, denn er blickte zurück. Sie sahen sich an, so wie am Nachmittag, als sie ging.

Ein Ansatz eines Lächelns zeigte sich auf seinem Gesicht und eine Erleichterung machte sich breit. Sie sahen wieder auf ihre Tische, und es war komisch. Sie waren sich so nah, und nun, wo alles anders war, waren sie sich plötzlich fremd.