Stefanie Brottrager (16)

 

Eigentlich, nicht

Sie blickte lange auf das Foto, welches sie letzten Sommer voneinander gemacht hatten. Sie und ihr bester Freund. Sie, die Biene Maja und er, ihr bester Freund Willie. Sie waren wirklich wie zwei Bienen gewesen, früher noch, als sie noch ihren festen Freund David hatte und Martin Spaß dabei hatte, sie zu umschwärmen. Damals, als sie mit David zusammen war, war es reizvoll gewesen, an mehr als nur eine Freundschaft zwischen ihr und Martin zu denken. Vielleicht, weil sie beide wussten, dass sie David niemals betrogen hätte.

Seit vier Monaten war sie wieder Single. Sie hatte sich von David getrennt – aus vielen Gründen. Martin hatte nichts damit zu tun. Genaugenommen hatten sich die beiden seit dem letzten Sommer, von dem auch das Foto stammte, fast überhaupt nicht gesehen. Einmal einen Tag zum Ski fahren, und einmal hatte Martin Marlene besucht. Oft haben sie sich ohnehin nie gesehen; aber Briefe, Briefe haben sie viele geschrieben. Wahrscheinlich haben sie sich damals auch deshalb noch vermisst, weil sie sich nie sahen …

»Die Freundschaft hält fast allem stand, nur der Liebe Dienst und der Werbung nicht.«

Das hatte Marlene in ihrem großen Buch der Zitate gelesen. Über diesen Spruch hatte sie nie lange nachgedacht, höchstens mal kurz darüber geschmunzelt. Jetzt fiel er ihr wieder ein. Und sie ärgerte sich darüber, dass sich einer dieser altklugen Sprüche wieder einmal bewahrheitete. – Das Telefon klingelte. Es war Martin. Schnell fragte Marlene: »Vermisst du mich?« »Eigentlich nicht.« – Wie eine stumpfe Ohrfeige traf sie dieser Satz. Sie fühlte sich leer und grau. »OK, bis dann.« Sie legte auf und ärgerte sich über den missglückten Versuch der Kontaktaufnahme.

Sie nahm das Foto aus dem Rahmen, sah es noch einmal kurz an und legte es in den übervollen Schuhkarton mit seinen Briefen. Einmal hatte Martin so einen Scherz gemacht, als er meinte, ihre Freundschaft sei ein Bild von zwei Booten, die auseinandertreiben auf der offenen See. Sie grinsten über diese absurde Vorstellung, und nun war sie wahr geworden. Das war nun Absurd.

 

Es war ein schwüler Gewittertag, als Martin Marlene besuchte. Er fuhr vor mit seinem neuen Wagen, und Marlene hatte schon den ganzen Frühling auf diesen Augenblick gewartet. Sie hatten sich ewig nicht gesehen, und auch die Briefe waren rar geworden. Sie hoffte, ihr Wiedersehen würde sie wieder etwas näher zusammenbringen.

Ihre Gespräche waren distanziert. Die zwei jungen Bienen von damals haben wohl ihren Stock verlassen … Der Eisberg, welcher sich zwischen den beiden aufgetürmt hatte, war größer, als sie geahnt hatten. Marlene versuchte, sich mit Erzählungen vom letzten Sommer an Martin heranzutasten. Dieser wollte ihr wahrscheinlich entgegenkommen, doch sie fanden einander nicht mehr. Sie hatten sich in der letzten Zeit zu sehr verloren.

Später am Abend gingen sie aus. Martin und Marlene verband in dieser Nacht höchstens die Aufmerksamkeit der Menschen, welche die beiden auf sich zogen. Sie konnten gut miteinander angeben. Sie tranken einiges und als sie endlich aus dem Taxi vor Marlenes Haus ausstiegen, waren sie beide betrunken und lachten und – waren sich plötzlich wieder nahe. Sie schlichen die Stiegen hinauf, alberten im Bad beim Zähne putzen, und schließlich schaltete Marlene in ihrem Zimmer das Licht ab und legte sich auf die noch freie Seite ihres Doppelbettes. Sie waren es gewohnt, in einem Bett zu schlafen. Sie kuschelten sich aneinander und der Alkohol ließ sie lächeln. Dann liebten sie sich.

Am nächsten Morgen war nichts wie zuvor – und nichts anders.

Martin fuhr schon gegen Mittag. Das Boot … war weg. Die kalte Liebe konnte sie nicht retten – und. obwohl sie die beiden nicht in den Himmel hob, zog es ihnen den Boden unter den Füßen weg.

 

Marlene stellte den Schuhkarton sorgfältig zurück in den Kasten. Eine kühle Träne formte sich in ihrem Augenwinkel; sie wischte sie schnell weg, setzte sich an ihren Schreibtisch … doch sie konnte nichts tun. Das Telefon läutete. »Ich bin‘s, Martin.«