Clarissa Breu (15)

Fluchtweg

Driinng! … Krach! … Au!

Gertrude war so erschrocken als der Wecker läutete, dass sie aus dem Bett fiel. Nachdem sie sich mühsam aufgerappelt hatte, torkelte sie ins Badezimmer. Sie warf einen Blick in den Spiegel. Als Gertrude ihr verschlafenes Gesicht mit den blau umränderten Augen sah, wankte sie einige Schritte rückwärts und fiel in die Badewanne. Doch das Schlimmste hatte sie noch nicht überstanden.

Ihre täglichen zwei Scheiben Toast verbrannten, das Marmeladenglas fiel hinunter, sie stieg auf eine Scherbe, und als sie das Haus verlassen wollte, konnte sie den Schlüssel nicht finden, den sie, erst nachdem sie eine Viertelstunde gesucht hatte, in ihrer Hosentasche entdeckte.

Auf dem Weg zu ihrer Firma läutete ihr Handy: »Hallo?« »Guten Morgen, ich bin Ihre Nachbarin. Bitte schnäuzen Sie sich nicht immer so laut. Ich finde das ekelerregend.«

Gertrude war dabei ihre Nerven zu verlieren, als sie die Eingangshalle ihrer Arbeitsstätte betrat. Dort stand zu ihrem großen Leidwesen ihre Schwiegermutter. »Mein liebes Kind,« begann diese ihre Predigt über irgendwelche Fehler, die Gertrude begangen hatte oder über das Verhalten einer richtigen Hausfrau. Sie hörte gar nicht mehr zu. Der guten Schwiegermutter war immer langweilig, weil sie alleine wohnte, aber musste sie deshalb Gertrude mit einem Regen von Worten überschütten?

Gertrude eilte in den ersten Stock – sie war zu spät zur Besprechung – und die Schwiegermutter lief, ohne ihren Redeschwall zu unterbrechen, hinter ihr her.

Am Ende eines langen Ganges befand sich das Besprechungszimmer. Gertrude sah von Weitem den dicken Produktionsleiter auf sich zukommen, der sich bestimmt wie jeden Tag über die schlechten Bedingungen beschweren wollte. Hinter sich hörte sie die Stimme der Schwiegermutter: »Wer ist denn das? Würdest du mir bitte antworten?«

Gertrude war dem Wahnsinn nahe. Sie wollte weg von hier. Sie wollte sich aus dieser Situation hinausdenken. Panisch suchte sie nach einem Ausweg. Da sah sie das hellgrüne Schild mit dem laufenden weißen Männchen, das ihr den Fluchtweg anzeigte. In diesem Moment war ihr alles gleichgültig. Sie lief los. Der Fluchtweg führte durch lange Gänge., durch Tore und Türen. Sie rannte so schnell sie konnte. Ihre hohen Stöckelschuhe nahm sie in die Hand, um schneller laufen zu können.

Irgendwann merkte Gertrude, dass sie wieder auf der Straße stand. Einige Passanten drehten sich nach ihr um. Viele Augenpaare sahen sie verwirrt an. Die Frau ließ sich davon nicht in Geringsten stören. In Ruhe brachte sie wieder Ordnung in ihre zerzauste Frisur, zog die Stöckelschuhe wieder an, atmete tief durch, lächelte zufrieden und begann den Tag von neuem.