Malte Borsdorf (19)

Schwimmer

Bis zu dem Vorfall im städtischen Hallenbad, wirkte Michael relativ nichtssagend. Er aß artig Joghurt, trank Fanta, und wenn er allein war, war er ruhig.

Wenn die Eltern ihn Gästen vorzeigten, stellte er sich gerade hin und guckte stumpf. Die Gäste sagten dann, sie fänden ihn brav und wohlerzogen.

Michael arbeitete in einer Textilfabrik an einer Bügelmaschine. Er schien gar nicht zu bemerken, was er da bügelte und zusammenlegte. Er tat es automatisch, pausenlos. Wenn es zu den Pausen klingelte, schaute er nur leer in die Fabrikshalle und bügelte weiter.

Abends bemerkte er, daß er mit der Bügel- und Zusammenlegetätigkeit aufhören durfte, weil seine Hände die Stoffe nicht mehr halten konnten und taub geworden waren. Außerdem rannten alle zu den Umkleideräumen, als hätten sie Angst, allein zurückzubleiben, vor den anderen schläfrig zu erscheinen.

So bestand schließlich auch die Kunst darin, bereits während des Laufs den Arbeitsmantel auszuziehen. Die Schnellsten konnten sogar vor Öffnen des Spindes, den Mantel ausgezogen und zudem noch zusammengelegt haben. Andere legten ihn gar nicht erst zusammen, sondern warfen den Mantel zusammengeknüllt in den Spind und nahmen dabei in Kauf, daß er knittrig wurde.

Doch das alles konnte Michael nicht. In den Umkleideraum, in dem sein Spind stand, trudelte er immer viel später ein, als seine Kollegen, die größtenteils Frauen waren. Wenn er dann umgezogen war, trottete er den anderen hinterher.

Zu Hause tat er dann nicht viel: Er war ruhig und dumpf.

Jeden Dienstag ging er mit Onkel Rudi schwimmen.

Unter Rudis Aufsicht schwamm er einige Runden. Er mochte, wie die anderen Schwimmer gleichmäßig ihre Bahnen zogen, weil er sich so leicht in diese Stille Gemeinschaft einfand. Rudi, den es immer wunderte, das Michael schwamm, ohne etwas zu sagen, das von Belang war, rief nach jeder Runde: AACH-TUNG! Rudi wußte auch nicht, wie er sonst mit der Leere umgehen sollte, die in Michael zu sein schien. Er kannte nur eine Person, an der es nichts besonderes zu geben schien, und so grau, so normal war Michael.

Nach einiger Zeit bat Michael darum, aus dem Wasser zu steigen. Rudi willigte dann ein und sie gingen zum Umkleideraum. Michael ging immer ruhig, und Rudi hatte längst damit aufgehört, Späße zu machen, da sein Neffe niemals reagierte. Rudi ging auch nie mit ins Wasser. In den Jahren, in denen er mit Michael schwimmen gegangen war, war seine Badehose niemals naß geworden.

Doch ein Vorfall brachte schließlich alles zum Kippen. Als Michael an einem Dienstag seine Bahnen zog, trug sich am Beckenrand eine Szene zu, die er niemals zuvor gesehen hatte. Eine Gruppe Zwölfjähriger befand sich am Beckenrand. Sie lachten, schubsten sich und rutschten dabei auf dem glitschigen Boden herum. Als einer von ihnen in seiner Nähe hart auf den Boden prallte, wurde Michael darauf aufmerksam. Er blieb am Beckenrand. Verwirrt beobachtete er, durch die glatten Körper hindurch, den gefallenen Jungen.

Die restliche Gruppe ging fort, da ihr, was nun geschah, nicht geheuer zu sein schien. Sie legte somit für Michael den Blick auf den Jungen vollends frei. Michael beobachtete nun, wie der Junge zu zucken begann. Aus seinem Mund kam schaumiger Speichel, er drückte das Rückgrat immer wieder durch und seine Augen zuckten wild.

Michael blieb im Becken angespannt stehen. Er hatte den Mund geöffnet und sah sich die Szene aufmerksam an. Die Wellen, die die anderen Schwimmer erzeugten, drückten ihn hin und her.

Rudi verstand das nicht. Er versuchte es mit: AACH-TUNG!, aber Michael war zu vertieft, bis der Anfall des Zwölfjährigen verebbte. Dann blieb er ein paar Sekunden schüchtern im Wasser, stieg schließlich aus dem Becken und trat auf den Kranken zu.

Michael hockte sich vor ihn hin, versuchte ihm zu helfen. Er wischte ihm den Schaum aus den Mundwinkeln, strich seine Haare glatt, ehe er von Rudi fortgezogen wurde. Er gab Rudi Anfangs nach. Dann entwand er sich aus seiner Umklammerung und stieß ihn über den Beckenrand. Rudi war ein wenig verdutzt. Seine Badehose war naß geworden.

Die anderen Schwimmer wurden von der Druckwelle zur Seite gedrückt, die Rudis mächtiger Körper erzeugt hatte. Anfangs waren sie ein wenig durcheinander, fanden sich aber bald wieder ein in ihren Trott.

Als Michael zu Fuß nach Hause ging, sah er den Menschen ins Gesicht. Er begann, sie zu beobachten. Die Art, wie sie sich nervös umsahen, wenn sie alleine waren, wie sie mit ihren Hunden spielten.

Michael schielte nun in der Fabrik immer auf die Uhr. Die Arbeit machte ihn müde, und er wirkte ein wenig fahrig.

Wenn er an der Bügelmaschine stand, beobachtete er eine Frau, die an dem ihm gegenüberliegenden Arbeitsplatz bügelte. Ihre Finger rutschten von den Stoffen, sie waren in Moltoplast eingewickelt. Die Brille der Frau war beschlagen.

Am nächsten Dienstag war es anders. Michael stieg ins Wasser, aber dieses blinde Zusammenwirken der Schwimmer, der immerwährende Trott, war ihm fremd geworden.

Er paßte einfach nicht mehr hinein. Er war kein Schwimmer mehr.