Evelyn Weinfurter (14)

Sie sah die Sonne hinter den Bergen untergehen. Zugleich war es der Untergang einer Liebe. Ihrer Liebe. Hattn sie sich nicht beide ewige Liebe geschworen? Es war lange her, zu lange. Die Worte, das Versprechen der beiden war in Vergessenheit geraten. Einfach so. "Im Guten" hatten sie sich getrennt. Wieso tat er ihr im Herz dann trotzdem so weh? Es drohte zu zerspringen, als sie die Worte, die aus ihrem eigenen Mund kamen, hörte. Er war fast nie für sie da gewesen, und trotzdem war er alles, für das es sich zu leben gelohnt hatte. Ohne ihn war sie docg nichts und mit ihm? Mit ihm auch nicht.

Sie spürte, wie eine dicke Träne über ihr Gesicht glitt. Salzig schmeckte sie, salzig wie damals. Dennoch gab es einen Unterschied. Genau konnte sie sich noch daran erinnern, es war ein Dienstag. Der erste Dienstag im Monat November. Er hatte gesagt, sie gefiele ihm. Ihre Augen blitzten bei diesen Worten. Heute blickte sie nur noch nichtssagend zu Boden. Am Dienstag hatte er sie auch gefragt, ob sie mit ihm "gehen" wolle. "Ja", hatte sie damals gesagt. Dasselbe Wort hatte sie auch einen Monat später auf die Frage, ob sie ihn liebe, wahrheitsgetreu geflüstert. Heute sagte sie es auch noch immer, aber es klang irgendwie anders. War sie ehrlich zu sich selber, wusste sie nicht, was sie fühlte. Es ging alles an ihr vorbei.

Ein kühler Wind kam auf. Sie zog ihre Jacke enger, fester an sich. Niemals war sie von ihm fest zu ihm gezogen worden. Sie weinte nicht mehr, konnte es nicht, hatte er verlernt. Zu viele Tränen hatten ihren Kopfpolster in diesen zwei Jahren genässt. Ihr ganzes Loben strich nochmals an ihrem geistigen Auge vorbei. Oft war sie gekränkt worder, viel zu oft. Heute sollte sich alles ändern, einen Abschiedsbrief an ihn zog sie aus ihrer dünnen Sommerjacke hervor. Nochmals las sie ihn auf eventuelle Rechtschreibfehler durch.

Er war in jeder Hinsicht ein Perfektionist, es sei denn, es ging darum, ihr Liebe und Geborgenheit zu vermitteln. Es schien, als ob er ein Herz aus Stein besaß, kalt und lieblos. Nie hatte sie ihn weinen gesehen. Nicht mal, als sein Bruder schuldlos durch einene Autounfall seinen schweren, inneren Verletzungen erlag.

Sie spürte ihre Finger nicht mehr. Erbarmungslos peitschte der eisige Wind um die zierliche Gestalt. Bald fühlte sie nur noch ihr pochendes Herz. Bis auch dieses von dem inneren Sturm erfasst wurde, und sich nicht mehr regte…

Wann wurde es mit einem Mal. Warm wie im Sommer, und hell. Wie auf einer Bühne kam sie sich vor, das helle Licht umschloss sie. Kurz kniff sie die Augen zu. Als sie die Augen wieder öffnete, stand er vor ihr und streckte ihr lächelnd die Hand entgegen.

Hand in Hand verschwanden beide im Licht.

Ganz in Schwarz stand er, den Abschiedsbrief in der rechten Hand, mit gebeugtem Kopf am Grab der Verstorbenen.

Vor drei Tagen hatte man sie in der Früh gefunden. Den Brief in der rechten Hand, die linke zum Himmel empor gestreckt, so lag sie da. Sie strahlte, und eine Träne glitzerte auf ihrer Backe in der aufgebenden Sonne. Es war der Aufgang einer neuen Liebe. Ihrer Liebe.

Eine Träne kullerte seine Wange entlang. Es war der Untergang einer Liebe. Seiner Liebe…

Ich sehe dich, sehe durch deine Augen hindurch, schaue deine Seele, sehe dich jetzt erst richtig. Du bist nicht so gut, wie ich dich mir vorgestellt hatte, du bist besser. Du bist du, lebst dein Leben. Ich mag dich, du bist einzigartig, und doch wie jeder andere…

Dir rollen Tränen über dein Gesicht. Ich weiß nicht, wieso, will dich trösten, doch mein Versuch schlägt fehl.

Deine Augen schließen sich für einen Augenblick. Ich habe dich verloren, sehe deine Seele nicht mehr. Aus den Augen, aus dem Sinn sozusagen. War das alles, nicht mehr? Nicht mehr und nicht weniger. Du bist mir fremd. Fremd geworden. Deine Gesichtszüge verändern sich seltsam. Keine einzige Träne ist mehr auf deinem Antlitz ausfindig zu machen. Deine Mundwinkel zucken, streben nach oben. Dir gelingt kein Lächeln, deine Augen starren mich an, als ob sie mich am liebsten töten wollten. Dein Blick ist so hart, so starr. Ich bekomme es mit der Angst zu tun. Fange an, gegen die Tränen anzukämpfen. Du scheinst es irgendwie bemerkt zu haben, lockerst deinen Blick und lächelst mich an, als ob du dadurch alles wieder gut machen möchtest. Jetzt starre ich dich dumpf an, völlig emotionslos. Du machst eine traurige Miene. Es interessiert mich nicht. Wieder weinst du. Ich weine mit dir.

"Es ist 23 Uhr", ertönt es aus dem Radio. Ich muss gehen. Wir beide weinen immer noch. Ich werde dich nicht vergessen! Wir sehen uns in die Augen. Für einen Moment schaue ich auf die Uhr. Als ich wieder zu dir aufsehen will, bist du nicht mehr da. Ich sehe nur noch mich, wische mir die Tränen aus dem Gesicht. Ich werde schlafen gehen.

"Tschüss", flüstere ich. Dann drehe ich mich vom Spiegel weg und gehe aus dem Raum…