Evelyn Weinfurter (14)

Onkel Moritz auf Abwegen

Onkel Moritz, ein staatlicher Mann im besten Alter, saß brütend hinter seinem Schreibtisch und ließ seinen trüben Gedanken freien Lauf. Fünfzig Jahre alt war er nun geworden, sozusagen ein halbes Jahrhundert. Nahezu unglaublich, wie schnell die Jahre vergangen sind, dachte er wehmütig und schob den Stapel unerledigter Akten, der vor ihm lag, mit einer energischen Handbewegung beiseite.

Onkel Moritz hatte die ganzen Jahre über nur gerackert und geschuftet, von morgens bis spätabends und meist auch an den Wochenenden. Urlaub war für ihn ein Fremdwort geworden, sein Terminkalender war stets randvoll.

»Eigentlich bin ich am Leben vorbeigegangen«, murmelte er nachdenklich und starrte durchs offene Fenster hinaus in den angrenzenden Park. Der aufkommende Herbstwind strich sanft über die hohen Baumkronen und fegte die letzten Blätter von den Bäumen. Mittlerweile war die Sonne hinter den Wolken verschwunden, und dichte Nebelschwaden zogen auf. Mit einem Mal schien alles nur mehr grau in grau, trostlos und deprimierend.

»Die letzten Blätter fallen«, brummte Onkel Moritz und fuhr sich verstohlen über seine Gebeirntatsecken. »Fünfzig Jahre«, sinnierte er, »das ist weit mehr als die Hälfte meines Lebens.«

Von heut auf morgen ging mit Onkel Moritz eine erstaunliche Veränderung vor. Statt Maßanzügen trug er nur noch Markenjeans, schmierte sich jede Menge Haargel ins schüttere Haar und war ganz und gar auf jugendlich getrimmt.

Tante Jolande kam aus dem Staunen nicht mehr heraus und beobachtete ihren Moritz mit Argusaugen. »Er steckt wohl in der Midlife-crisis«, tröstete sie sich immer wieder aufs Neue, »das geht schon wieder vorbei.«

Doch Onkel Moritz war nun erst so richtig in Fahrt gekommen und war einfach nicht zu bremsen. Abend für Abend stürzte er sich ins Nachtleben, zog unermüdlich durch sämtliche Lokale, flirtete auf Teufel komm raus und hopste wie ein junger Spund über die Tanzfläche. Vergessen waren seine desolaten Bandscheiben und vergessen auch die Fünfzig Jährchen, die er auf dem Buckel hatte.

Tante Jolande verstand die Welt nicht mehr. Sie war zutiefst verletzt und schämte sich obendrein in Grund und Boden, wenn ihr die Nachbarn immer wieder haarklein erzählten, was ihr Göttergatte so alles trieb.

Als sie eines Tages am Hemdkragen Lippenstiftspuren entdeckte, da platzte der sonst so gutmütigen Jolande endgültig der Kragen. Sie setzte ihren Moritz mitsamt seinen Markenjeans kurzerhand vor die Tür – und hinterdrein folgten in schöner Reihenfolge seine schmutzigen Socken und die Unterwäsche aus der Wäschetruhe. »Was zuviel ist, ist zuviel«, schnaubte Jolande, aufs tiefste empört, und schlug ihrem völlig verdattert dreinblickenden Moritz mit lautem Knall die Haustür vor der Nase zu.

Wie ein begossener Pudel stand Onkel Moritz nun auf der abgetretenen Fußmatte und starrte ratlos auf die versperrte Haustür.

»Jolande«, knurrte er mit heiserer Stimme durchs Schlüsselloch, »das kannst du doch nicht machen.«

Doch Jolande konnte, und wie sie konnte! Und als Beweis dafür schob sie demonstrativ auch noch den schweren Sicherheitsriegel vor.

»Da werden Weiber zu Hyänen ...«, zischte Onkel Moritz mit einer unbändiger Wut im Bauch und war auf seine Frau Jolande gar nicht gut zusprechen.

Doch so sehr er auch fluchte und vor sich bin schimpfte, letztendlich blieb ihm gar nichts anderes übrig, als sich vorübergehend im nächstbesten Hotel einzuquartieren. Zähneknirschend zog er von dannen, in einer Hand den Koffer mit den Markenjeans, in der anderen die Schmutzwäsche.

Tante Jolande hatte seinen Abgang vom Küchenfenster aus beobachtet. »Er hat es nicht anders verdient«, flüsterte sie leise und wischte sich energisch die Tränenspuren aus dem Gesicht.

Die letzten Herbsttage zogen ins Land, und es wurde zunehmend kälter. Die Temperaturen lagen bereits weit unter dem Gefrierpunkt. Wie immer um diese Jahreszeit wurde Onkel Moritz gar heftig vom Zipperlein geplagt, und seine müden Knochen machten ihm arg zu schaffen. Zu allem Überdruss hatte er sich neulich bei heißen Tangorhythmen das Kreuz derartig verrissen, dass er sich kaum rühren konnte. So hockte er einsam und verlassen im ungemütlichen Hotelzimmer und haderte mit seinem Schicksal. Er vermisste seine Wärmeflasche und die wohltuenden heißen Wickel, die ihm Jolande stets verpasst hatte, wenn sein Rücken schmerzte. »Jolande, altes Mädchen«, murmelte er gequält, »du weißt gar nicht, wie sehr du mir fehlst!«

Kurze Zeit später stand Onkel Moritz reumütig vor der Haustür, im eleganten Nadelstreif und mit einem riesigen Blumenstrauß bewaffnet.

»Du alter Vorstadt-Casanova«, wetterte Tante Jolande, und rümpfte verächtlich ihre etwas zu breit geratene Nase. Als sie jedoch die Rheumasalbe in seiner Hosentasche entdeckte, da wusste sie sogleich Bescheid. Sie cremte, salbte und massierte wie eine diplomierte Krankenschwester, und Onkel Moritz schnurrte wohlig und zufrieden wie ein kleines Kätzchen.

Und die Moral von der Geschicht: Alter schützt vor Torheit nicht!