Clara Trischler (14)

Was ich jetzt bin

Ich wohne in einer geschlossenen Anstalt. Ich bin ein sehr kontaktfreudiger Mensch und habe hier viele Freunde. Da ist Harald, mein bester Freund, der alle Menschen für seinen Sohn Johannes hält. Er ist schon alt und lebt lange hier, vielleicht ist er auch dadurch ein bißchen verrückter geworden.

Eine andere Freundin heißt Esther, sie ist schizophren. Sie tut mir wirklich leid, ihre Krankheit ist wohl die leidvollste. Sie hat Stimmen in sich drinnen, die ihr sagen, was sie tun soll, und deshalb benimmt sie sich immer anders. Es sind viele Stimmen, die ihr zu Verschiedenem raten oder sie mit ihrer Vergangenheit quälen. Sie kann in der einen Minute sehr nett sein, und in der nächsten wieder verschmitzt lächeln und anfangen zu kreischen und uns zu beschimpfen. Es ist, als wäre sie besessen, als würde sie gesteuert werden von irgendwem. Es ist nicht leicht, mit ihr befreundet zu sein, aber ich denke, dass das für sie noch schwerer sein muß.

»Versteht ihr denn nicht? Seit Jahren betet ihr zu Gott, und hat er euch schon einmal geholfen? Schaut euch doch an, wo seid ihr gelandet? Ihr redet mit Menschen, die es nicht gibt! Ihr seid krank und habt keine Familien mehr! Das ist also euer Gott, frage ich euch, ist er das wirklich? Ihr fühlt euch jeden Tag besser, weil ihr dem Tod ein Stückchen näher seid, das ist erbärmlich! Eines Tages wird sich alles umdrehen, und ihr werdet alle verrecken, ihr ungläubigen Hunde! Denn solange wir Satan auf unserer Seite haben, werden wir leben wie Könige, geschützt gegen das Böse, weil wir der Inbegriff des Bösen sind, und es etwas Böseres nicht gibt. Glaubt ihr denn noch immer an Versprechungen, leere Versprechungen von Menschen, die auferstehen werden, Menschen, die durch euren Gott glücklich werden? Seid ihr glücklich? Ist irgendein Mensch hier glücklich, möchte ich wissen? Gibt es glückliche Gottgläubige? Und seht mich an, wie geht es mir? Ich lache, seht ihr das denn nicht, wollt ihr nicht auch lachen?« Und das ist Sebastian. Er war einmal bei einer satanistischen Sekte und versucht immer wieder, uns zu bekehren.

Im allgemeinen führen wir ein ganz normales Leben, glaube ich jedenfalls. Ich habe vergessen, wie ein geordnetes Leben aussieht, aber ich habe wohl einmal eines gelebt. Es gibt nur jeden Tag Überwindungen, Dinge, die man nicht tun darf und gerade deshalb tun möchte. Das ist nicht so leicht. Es gibt hier auch viele suizidgefährdete Personen, und deshalb essen wir mit Plastikbesteck. Es scheint überall für uns gesorgt zu sein, aber das stimmt nicht. Wenn ich lange genug ritze, kann ich mich auch mit allem aufschneiden, sogar mit einem Plastikmesser. Ich habe es schon probiert. Deshalb hält man auch mich für selbstmordgefährdet. Es war ein Tag wie jeder andere auch, und vielleicht war es gerade das, was mich störte. Es war Langeweile und Verspieltheit, ich ritzte einfach mit einem Messer an mir herum. Ich dachte nicht an die Konsequenzen, und selbst wenn, ich glaube, damals hätte mich das wenig beeindruckt. Na und, was ist das Leben schon wert?

Ich war Tochter einer alleinerziehenden Mutter. Ich wußte nichts über meinen Vater und wollte auch nichts wissen; wenn er meine Mutter in eine solche Lage brachte, mußte er ein ziemliches Dreckschwein sein.

»Johannes, Johannes! Komm, binde dir die Schuhe zusammen, du fällst ja hin. Du wirst dir weh tun und dir wünschen, du hättest auf deinen Vater gehört.«

Das ist Harald. Sein Sohn starb, als er noch klein war, sieben oder acht. Es war ein Schiunfall, und seit damals ist Harald ein anderer Mensch.

Wenn ich jetzt sterben würde, würde mein Vater nie davon erfahren, oder es würde ihn einfach nicht interessieren. Er könnte meinetwegen auch sterben, es wäre mir egal.

Meine Mutter ist geschlagen worden, von ihrem Vater. Ihre Mutter auch. Eines Tages packte sie ihre Sachen und verschwand mit ihrer Tochter in eine andere Stadt. Meine Großmutter war also auch Alleinerzieherin. Ich wollte diese Tradition immer brechen, am besten gar keine Kinder haben. Niemand, der sich an einen erinnert.

Meine Mutter hat mich nicht wirklich geschlagen, geprügelt. Sie hat mir ab und zu ein paar Ohrfeigen gegeben, aber ich hielt das immer für eine normale Erziehungsmethode. Ich weiß eigentlich gar nicht, wie sie das schaffte, ein Kind, Haushalt, Beruf. Ich glaube, ich hätte es verstanden, wenn sie mich geschlagen hätte. Hätte mich schlagen lassen, wenn es ihr geholfen hätte. Aber sie tat etwas Schlimmeres, etwas, was ich niemals freiwillig mit mir machen lassen würde, um ihr Leben zu erleichtern.

Esther hat gerade einen Anfall. Sie schreit, schlägt um sich und strampelt mit den Beinen. Sie wird wohl wieder in eine Zelle gesteckt mit einer Zwangsjacke und sich solange gegen die Tür werfen, bis sie zusammensackt und einschläft, nachdem sie ein paar Tabletten bekommen hat.

Harald geht wieder am Gang an meiner offenen Tür vorbei. »Johannes, Johannes, pass auf! Du mußt langsam fahren, Bogerln machen. Du mußt Pflug fahren. Paß auf, hier ist Eis, du wirst noch ausrutschen!« Er fängt an zu weinen. Vielleicht werden sie ihm auch Tabletten geben.

»Streck deinen Finger aus«, hatte meine Mutter immer zu mir gesagt. Dann zog sie sich die Unterhose aus und steckte meinen Finger zwischen ihre Beine. Neben dem Gefühl des Ekels und der Unrichtigkeit dessen, was hier mit mir geschah, fühlte ich auch so etwas wie Geborgenheit. Es war feucht und warm, und es war ein Gefühl der mütterlichen Sicherheit und Wärme. Dieselbe Wärme, die ich verspüre, wenn ich mit meinen Fingern sanft über meinen Unterarm streiche, meine Blut über den, teils verkrusteten und aufgekratzten, Narben verwische, die Narben der Schnitte, die ich mir selbst zugefügt hatte.

Ich höre Esther noch schreien und weinen, während sie wohl gerade den Gang entlang geschleppt wird.

Ich habe schon seit Tagen nichts mehr gegessen. Ich verspüre gar kein Hungergefühl mehr. Es ist, als würde ich überhaupt nichts mehr fühlen. Jedesmal wenn ich bis jetzt gefühlt habe, waren es Hass, Enttäuschung, Leere oder Traurigkeit. Außer einmal. Da habe ich mich verliebt. Es war noch in der Schulzeit, aber er wollte nichts von mir. Ich bin nicht besonders hübsch und vielleicht hat man mich schon damals für verrückt gehalten. Nun ja, und dieses Gefühl hat dann auch wieder zu einem schlimmen Gefühl geführt, es war Enttäuschung. Und da – ritzte ich ein wenig mit einem Messer in meine Haut, wie mit einem Violinenbogen, sanft hin und her. Vielleicht war das eine Art Glücksgefühl; auf jeden Fall fühlte ich mich davon freier. Unabhängiger, obwohl ich fast abhängig davon war, mich zu schneiden. Am ganzen Unterarm hatte ich Narben. Und einmal ritzte ich zu tief und fiel in Ohnmacht, und als man mich fand, wurde ich zu dem, was ich jetzt bin: suizidgefährdet. Obwohl mir der Gedanke, seit ich hier bin, immer besser gefällt. Aber das hebe ich mir auf, für irgendwann. Ich muß nur irgendwie in die Küche kommen. Ich nehme kaum an, dass sie dort auch mit Plastikmessern schneiden.

Auf einmal steht Harald in meinem Zimmer. »Hast du Johannes gesehen?« Ich schüttle den Kopf. »Hast du ihn heute überhaupt schon einmal gesehen?« Ich überlege kurz und schüttle erneut den Kopf. »Weißt du denn, wo er sein könnte?« – »Vielleicht im Garten?« frage ich. »Würdest du ihn mit mir suchen?« Ich willige ein. Ein wenig Frischluft kann ich brauchen.

Wir haben vor der Anstalt einen Park, einen sehr großen, mit vielen Bäumen, Bänken und einer Allee. Wir gehen spazieren, ab und zu schreit er »Johannes!«, aber ansonsten ist es recht still. Aber das stört uns beide nicht, wir verstehen uns besser, wenn wir schweigen. Es gibt mir manchmal auch ein Gefühl von Geborgenheit, Vertrauen. Er hat früher mehr geredet, mir von seiner Frau erzählt, und manchmal, wenn er sich sehr hineinsteigerte, nannte er sie »Mama« und mich Johannes. Es fiel ihm nicht auf, er nannte mich öfters so, wenn er vergaß. Wenn er die Realität um sich herum vergaß. Aber es machte mir nichts aus, in diese Rolle zu schlüpfen. Er liebte seinen Sohn, und so hatte auch ich das Gefühl, einen Vater zu haben.

Die Baumkronen über uns sind richtig zusammengewachsen und bilden ein Blätterdach. Nur wenige Sonnenstrahlen dringen hindurch bis zum Boden, besiegen den Schatten, die Dunkelheit und Kälte. Wie ein riesiges Zelt sind die Blätter über uns, die uns Schutz bieten können, vor Regen, aber auch die Sonne verdrängen, das Licht.

Als Van Gogh in einer Anstalt war, malte er einige seiner schönsten Bilder. Er hatte Schizophrenie und schnitt sich während eines Anfalls ein Ohr ab. Er starb durch eigene Hand.

Er wurde davor vielleicht auch als suizidgefährdet abgestempelt, hat vielleicht auch mit Plastikgeschirr gegessen, in einem Raum mit vergitterten Fenstern, auf einem Stuhl mit abgerundeten Kanten. Sie zwingen einen regelrecht zur Qual, die einen verrückt macht. Dem Leben.

Ich würde es vollkommen verstehen, dass wenn ein gesunder, »unverrückter« Mensch hier eingesperrt werden würde, er irgendwann von den Menschen hier nicht zu unterscheiden wäre. Dann wäre er einer von uns, vielleicht wie Harald oder Esther, Sebastian oder ich. Vielleicht war ich auch noch gesund, als ich herkam.

Ganz in meinen Gedanken versunken habe ich gar nicht gemerkt, dass Harald in den Teich gesprungen ist, um nach Johannes zu tauchen. Er selbst tauchte aber nie wieder auf.

Als alles vorbei war, ging ich hinauf in mein Zimmer. Und da bin ich jetzt und ärgere mich, dass ich nicht weinen kann. Um meinen besten Freund, der mir an meinen schlechten Tagen beistand und geholfen hat, und ich dasselbe für ihn tat. Er hat mich oft aufgemuntert und gesagt, dass ich mit Johannes spielen sollte, der sei immer so lustig. Er hat mir auch oft gesagt, dass ich seinem Sohn ähnle, von der Art her. Ich habe vielleicht nie richtig verstanden, was in ihm vorgegangen ist, aber er ist wohl daran zerbrochen, dass er den letzten Menschen, der ihm etwas bedeutete, verloren hat.

Esther wird gerade in ihr Zimmer zurückgebracht. Vielleicht sollten sie sie in der Zelle lassen. Sie hat morgen vielleicht wieder einen guten Tag, möglicherweise auch noch übermorgen. Aber spätestens überübermorgen ist es vorbei und alles kommt wieder hoch. An den anfallfreien Tagen nennt sie die Stimmen oft Dämonen, aber sie kann nie lange über sie reden, weil sie Angst hat, sie zu verärgern. Ich glaube nicht, dass das irgendwann vorbeigeht, sie irgendwann gesund entlassen wird. Aber wahrscheinlich geht es den meisten hier so. Entweder wird sie früher oder später daran sterben, dass ein »Dämon« ihr das befiehlt, oder sie bleibt so lange hier, bis sie an Alters- oder Herzschwäche stirbt.

Wie es mit Sebastian weitergehen wird, ist schwer zu sagen. Vermutlich wird er irgendwann entlassen werden und der Sekte wieder beitreten. Seine Freunde haben ihn hierher gebracht, zum »Heilen«; sie hielten seine Predigten nicht mehr aus und nicht für normal. Vielleicht werden ihn dann seine Freunde wieder aus der Sekte herauskriegen, und er wird wieder hier landen oder er stirbt bei einer Massenopferung am Tag des Armaggedon.

Jetzt bleibe nur noch ich. Und was mache ich jetzt? Wann werde ich sterben? Wann endlich? Was sind meine Möglichkeiten? Ewig hier zu sitzen, in dieser Anstalt, ein- und auszuatmen. Und irgendwann einmal werde ich mich nicht mehr daran erinnern müssen ein- und auszuatmen, hier zu sitzen, mich zu erinnern. Und mit der Zeit werde auch ich vergessen sein.

Ich erscheine nur selten zum Essen. Diesmal bin ich da. Es sind nicht viele Leute hier, nicht mehr, ich bin zu spät. Es ist niemand da, der mich beachtet, ich bin nur eine von vielen. Ich nehme meine Tabletten. Ich wende mich von den Menschen ab, schaue mich um. Ich sehe Messer, meine Schwäche. Lange Küchenmesser, die im Licht des aus dem Fenster einfallenden Lichts glänzen, spiegeln, reflektieren. Lange, schwarze Plastikgriffe, stromlinienförmig. Ich nähere mich ihnen, schaue mich um ob mich jemand beobachtet, wiege die in der Luft hängende Spitze eines Messers zwischen meinen Fingern hin und her. Niemand beobachtet mich. Offiziell sitze ich an meinem Tisch und esse oder in meinem Zimmer und lese. In Wirklichkeit stehe ich da, unbeachtet. Die Betreuer sind überall im Haus verstreut, gebraucht, und auch die zwei Essenssaalaufseher sind mit den Patienten beschäftigt. Langsam berühre ich den Griff, nehme ihn vom Haken herunter, halte ihn mit einem Gefühl der Sicherheit in den Händen und stecke es schnell in meinen Hosenbund. Konzentriert und mit bedachten Schritten gehe ich hinauf, setze mich auf mein Bett. Jetzt weiß ich, wann ich sterben werde. Ich nehme das Messer aus meiner Hose und betrachte dessen Glanz. Ich sehe mich darin, werde gespiegelt von meinem Mörder. Sehe mich an, das bin ich. Dann setze ich das Messer an, lasse es langsam hin und her gleiten. Ein Gefühl der Befreiung, der Absolution steigt in mir auf. Ich sehe, wie die rote Flüssigkeit sich durch das weiße Bettlaken frißt, sich vermehrt und vergrößert. Das ist das Letzte was ich sehe, liege da. Jetzt bin ich nicht mehr allein. Vielleicht werde ich wie Van Gogh eingereiht. Suizidgefährdet – Bestätigt. Also haben sie recht gehabt. Ich habe ihnen das letzte Wort gelassen. Ich. Tot.

Clara Trischler, 1./2. September 2000

Schreibwerkstatt Brixen