Cornelia Travnicek (13)

Tagebuch

Sonntag, der 12.Dezember 2005

Draußen ist es eiskalt. Selbst die Eisblumen, die sonst so schön sind, wirken tot, erfroren. Es ist Advent, aber davon merkt man nicht sehr viel. In den letzten fünf Jahren hat sich vieles verändert. Die Menschen sind hart geworden, so hart wie Marmor, nicht fähig, weich zu werden und Gefühl zu zeigen. Ein einsamer Stein, der am Wegrand liegt, strahlt mehr Mitgefühl aus als diese strengen, glatten Gesichter. Und kalt ist es in ihnen. Bei der Kälte wundere ich mich oft, dass noch keiner von innen heraus vereist ist. Vielleicht liegt es zum Teil am Krieg. Die ganze Zeit schwebt er wie ein Falke über unseren Köpfen, und alle bangen, auf welches Land er als Nächstes herabstößt. Gegenüber früher hat der Krieg sein Gesicht geändert. Man hatte eine Chance, konnte sich aus eigener Kraft wehren. Heute sitzt irgendwo einer und drückt auf den Knopf, mit dem er fähig ist, Massen von Menschen zu töten. Unschuldige müssen zu Tausenden sterben, obwohl sie vielleicht nicht einmal etwas mit dem Krieg zu tun hatten. Wer kann schon eine Wolke atomarer Strahlung dirigieren? Wer den Menschen jemals das ersetzen, was sie verloren haben? Keiner! Es ist doch so! Jeder weiß es, aber alle verdrängen es. Menschen sind keine Menschen mehr. Mensch sein heißt, Gefühle zu haben, zu wissen, dass jeder ein Recht hat zu leben und vor allem heißt es, das Leben anderer nicht leichtfertig zu behandeln. Keiner ist ein Engel und keiner kann verlangen, dass man nie Fehler machen darf, aber Mensch sein heißt, das Recht, über Leben und Tod so vieler zu entscheiden, nicht an sich reißen zu dürfen. Das ganze Gerede vom Jüngsten Gericht, das irgendwann sein wird, ist nicht wahr. Das Gericht ist längst da, und die Richter sind wir selbst. Unser ganzes Leben ist das Sammeln von Beweisen, dass die Menschheit es auch verdient hat zu existieren. Aber das Urteil ist gegen uns ausgefallen. Und nun sind wir dabei, es selbst zu vollstrecken. Nicht mehr lange, und all diese seelenlosen und gewissenlosen Wesen werden für immer vom Angesicht der Erde verschwinden. Die Natur wird sich erholen, und das Paradies wird wieder auferstehen. Aber ohne uns.

Montag, der 13. Dezember 2005

Unsere Zukunft wird grauenhaft aussehen. Schwarz, so schwarz wie die gestorbenen, einst weißen Seelen der Menschen, die diese Welt bevölkern. Vor ein paar Jahren wäre noch viel zu ändern gewesen. Jetzt ist es zu spät. Wie gesagt, das Urteil ist gefallen. Heute am Vormittag hat es einen großen Wettstreit gegeben. Zwei Staaten haben sich ein Duell geliefert, wer mehr Raketen auf einmal abschießen kann. Ich weiß nicht genau, wie viele Menschen ums Leben gekommen sind, aber schätzungsweise ein paar Millionen. Ich merke, dass ich immer kaltblütiger werde. Was soll‘s, ist doch auch schon egal. Es war sowieso grauenhaft, der Einzige zu sein, der wirklich das ganze Ausmaß der Katastrophen erkennt. Am schlimmsten war aber, die Einzige zu sein, die das Wort Gefühl noch kennt und sogar schreiben kann. Somit hat wohl auch der letzte Mensch auf dieser Welt aufgehört, zu fühlen und Mitleid zu haben mit sich und dieser ganzen Erde.

Donnerstag, der 16. Dezember 2005

Am Dienstag und am Mittwoch bin ich in einem Bunker gesessen und habe gehofft, dass der Mann neben mir aufhört zu schnarchen. Schließlich wollte ich doch auch schlafen. Nur dazusitzen und zu hoffen, dass das Haus, in dem du wohnst, nicht von einer Bombe getroffen wird, hat auch sehr wenig Sinn … Nein, so geht das nicht weiter. Wenn ich so etwas schreibe, belüge ich mich selbst … in mir ist doch noch etwas vorhanden, das Angst hat. Und das trauert. Es trauert um dieses Fleckchen auf einer Landkarte, das einem so vertraut ist. Heimat nennt man so etwas. Wenn sie zerstört wird, wird auch ein Stück von mir zerstört. Wie oft sind meine Freundin und ich unter diesem Baum im Garten gesessen und haben darüber geredet, was wir an der Politik ändern, wenn wir mal alt genug dazu sind. Meine Freundin … die Einzige, die gedacht hat wie ich … Wie lange ist es her, dass ich sie das letzte Mal gesehen habe ? Es haben so viele Leute gesagt, dass der Krieg nicht richtig ist. Aber um ihn wirklich zu verhindern, hat keiner etwas getan.

Freitag, der 17. Dezember 2005

Heute ist ein ruhiger Tag. Ich sehe aus dem Fenster und freue mich über die Sonne. Sie lässt den Schnee glitzern, wie wenn abertausende kleine Kristalle vom Himmel gefallen wären. Eine große, schier endlose Fläche, reine Unschuld, die vor meinem Fenster liegt. Leise klingen die Geigen durch mein Zimmer. Vorsichtig plätschert die Musik dahin, schwingt sich immer höher, hinaus aus meinem Fenster, und bringt ein bisschen Ruhe und Frieden in diese grausame Welt da draußen. Hier in meinem Zimmer, geschützt durch die sanften Schwingungen, bin ich geborgen. Versteck hinter der Illusion, dass niemand es wagt, die Unschuld des Schnees zu zerstören, niemand es wagt, ihn zu betreten. Ich schwebe auf den Tönen mit hinaus und immer höher. Das ist wirklich das Gefühl von Weihnachten. Die Musik verklingt, es keimt ein Gefühl in mir und formt sich zu einem Gedicht:

Adventmelodie

Stille
breitet sich aus.

Ein Gefühl
der Wärme steigt
in mir hoch.

Langsam, leise und doch beschwingt,
ertönt
tief in mir
die Melodie des Advents.

Es ist kaum zu fassen, wie erleichternd es ist, so etwas aus sich hinaus zu lassen. So viele Emotionen liegen in solchen Zeilen, aber nicht viele können den wahren Text lesen, können loslassen von der Realität und einfach hinaustreiben in die Welt der Gefühle, wo man naiv ist wie ein Neugeborenes. Wo man glaubt, unverwundbar zu sein. Diese andere Welt ist klingend und fröhlich oder einfach ein Ort der Stille. Glücklich der, der aus eigener Kraft dorthin flüchten kann.

Sonntag, der 19. Dezember

Ja, ja, wer vor der Realität flüchtet, den holt sie ein und trifft ihn um so härter. Meine Freundin ist tot. Sollte ich jetzt Hass verspüren gegen den, der daran schuld ist? Nein, Hass gibt es schon genug auf dieser Welt. Ich bemitleide höchstens den Menschen, der auf den Startknopf der Rakete gedrückt hat. Er hat seine Last zu tragen. Nicht ihn, sondern die ganze Welt klage ich an! Alle, die so etwas zulassen! Und den Gott, der keine Rücksicht nimmt darauf, dass sie nie schuld war an diesem Krieg! Er kann kein gütiger Gott sein wie der alte Priester das immer mit zittriger Stimme den alten Frauen und Männern auf den Kirchenbänken gepredigt hat. Wie gerne würde ich den Priester dafür verantwortlich machen, dass ich geglaubt habe und enttäuscht wurde. Das geht leider nicht, denn auch er ist tot.

Montag, der 20. Dezember 2005

Es ist grausam. Statt uns alle auf einmal auszulöschen, sind es immer nur einige, die gehen müssen. Ich habe mich getäuscht. So etwas wie das Jüngste Gericht gibt es nicht, was wir erleben, ist schon die Hölle. Ohne ein gerechter Richter zu sein, hat Gott, der sogenannte "Hirte", alle seine Schäfchen dem Verderben geweiht. Aber wenn ich so aus dem Fenster sehe, nützt es jetzt auch nichts mehr, wenn ich mich aufrege. Es regnet und meine Schutzmauer, der Schnee, ist geschmolzen. Überall Bombenkrater, die die Straßen zerstört haben. Häuser, denen die Hälfte fehlt, und verlassene Ruinen, unkenntlich. Obdachlose Menschen, die in Fetzen gehüllt auf die Erlösung warten. Wie die Regentropfen am Fenster laufen mir die Tränen über die Wangen. Ich spüre, wie sie sich ihren Weg bahnen, und sehe, wie sie auf meinem Papier gelandet die Tinte zu Wolken verrinnen lassen. Die Trauer in mir über alles ist in einem normalen Satz nicht zu beschreiben. Also tue ich es in einem Gedicht:

Tränen

Die salzigen Tropfen
sind Helfer in der Not.
Sie nehmen weg
einen Teil des großen Schmerzes.
Darum weine,
denn deine Tränen können den
Stein erweichen,
aus dem die Herzen sind.
Aber tue es zur rechten Zeit…
…nicht zu spät…

Dienstag, der 21. Dezember 2005

Ich weiß nicht, wie stark ich sein kann, aber lange stehe ich das nicht mehr durch. Den ganzen Tag habe ich im Bett verbracht und gehofft, einschlafen zu können. Hinüber zu wandern in meine Träume, dort wo ich Kraft genug besitze und es geschafft habe, diese Katastrophe zu verhindern. Einer allein schafft es nicht. Wenn nicht genug Menschen den Mut aufbringen zu sagen, dass Krieg keine Lösung ist, ist diese Welt verloren. Aber das hätte man vor Jahren tun sollen. Krieg aus der Welt zu verbannen ist sowieso nicht möglich. Denn erst das Gegenteil rundet ein Ding zum Ganzen. Zum Frieden gehört Krieg genau wie zu Licht Dunkelheit gehört. Diese Erkenntnis ist äußerst deprimierend. Sie führt mir wieder einmal die aussichtslose Lage dieser Welt vor Augen. Frieden kann es nur geben, wenn der menschliche Eigennutz aus der Welt verschwindet. Das ist aber eher unwahrscheinlich. Vor ein paar Jahren hat jeder zu mir gesagt, ich solle nicht so pessimistisch sein. Manche waren sogar regelrecht entsetzt über die Nüchternheit meiner Ansichten. Das kommt davon, dass sie immer alle vor der Realität flüchten. Es heißt immer, an so etwas dürfe man nicht denken, sonst könne man nicht leben. Ja, was glauben die denn, warum es so viele Selbstmorde gibt? Weil diese Menschen erkannt haben, dass es keinen Ausweg mehr gibt für sie. Oh ja, und in derselben Situation ist jetzt unsere Welt…

Mittwoch, der 22. Dezember 2005

Es ist spät am Abend, und ich beobachte das Schattenspiel der Gegenstände an der Wand. Eine Kerze wirft flackerndes Licht, das über die Dinge tanzt. Gespenstisch, zauberhaft, es nimmt mich gefangen. Eine Kerze bedeutet Feuer und Feuer bedeutet Wärme. Diese Wärme ist klein gegen die große Kälte der gesamten Welt. Die Flamme hält mich in ihrem Bann und lässt nicht aus. Magisch zieht sie mich an. Langsam nähert sich ihr meine Hand. Fest packe ich zu, ersticke das Feuer mit meiner Kraft. Das Wachs spritzt zur Seite und macht Flecken auf dem abgenützten Teppichboden und rinnt über meine Hand. Der Schmerz bringt mich wieder zur Besinnung. Ich lasse die Kerze los und betrachte meine Hand. Rote Streifen ziehen sich wie Adern über sie, das heiße Wachs hat seinen Weg gezeichnet. Innen auf der Handfläche laufen die Linien zusammen in einen blutroten Kreis. Ein Mahnmal des Feuers. Die Flamme der zweiten Kerze kämpft gegen den Tod. Das Wachs ist nahezu verbraucht. Dann erlischt sie. Dunkelheit umgibt mich und lässt mich den Schmerz vergessen. Mit ihr kommen Unsicherheit und Angst. Ich verstecke mich unter der Bettdecke wie ein kleines Kind. Die Dunkelheit nimmt mir die Kraft, denn ich kann die Zeilen, die ich schreibe, nicht mehr sehen…

Donnerstag, der 23. Dezember

Ein Gedicht:

"Für eine Kultur des Friedens"

Diese Zeilen sollen erhalten bleiben,
in der Hoffnung, dass die Überlebenden der Hölle
und deren Nachkommen
sowie deren Kinder
sie lesen können und nicht fähig sind zu
flüchten.
Damit sie nie die Realität
vergessen und ewig erinnert sind an
das Leid des Krieges.
So also hinterlasse ich meine Gedanken
als Grundlage
für eine neue Kultur,
eine Kultur des Friedens.
Mensch, wisse, auf ewig dein sei
das Paradies, die Erde.

Freitag, der 24. Dezember 2005

Heute schenke ich mir selbst etwas zu Weihnachten, nämlich die Erlösung. Nachdem ich das hier fertig geschrieben habe, werde ich es in Sicherheit bringen. Dann werde ich ein letztes Mal meine Kerze anzünden und mit ihr die Welt um mich. Mit meinem Opfer wird die Flamme der Leidenschaft hell auflodern für den Frieden. Sie wird groß genug sein, um diese Welt zu erwärmen. Ich werde den Eigennutz besiegt haben, und die Tränen meiner Freunde und Verwandten werden fähig sein, einen Teil des Steins der Herzen zu erweichen …
Somit trage ich aufs Neue die Botschaft in die Welt: NIE WIEDER KRIEG!