Thera Töglhofer (15)

Selbstbegegnungen

Kürzlich traf ich völlig unverhofft meinen Verstand im Wartezimmer meines Psychiaters. Hätte er mich nicht angesprochen, ich hätte ihn nicht wiedererkannt, er hatte sich gewaltig verändert. Wir begannen uns zu unterhalten, anscheinend betrachtete mein Verstand diese Konversation als Aufwärmrunde vor der wirklichen Sitzung, denn binnen fünf Minuten wusste ich, dass er gerade mit einer schwierigen Identitätskrise zu kämpfen hatte. Er hege starke Selbstzweifel und müsse nun den Glauben an sich wiederfinden. Mein Verstand musste lernen, sich selbst wieder zu verstehen, so hatte ich das jedenfalls verstanden.

Mit allen guten Wünschen und der insgeheimen Hoffnung im Hinterkopf, mein Verstand würde nicht Selbstmord begehen, da ein Leben ohne ihn für mich nur schwer vorstellbar wäre, verabschiedete ich mich.

Auch mit meinem Herzen ergab sich vor ein paar Tagen ein zufälliges Treffen in einer Single-Bar. Jemand hatte von meinem Herzen Besitz ergriffen, dann wurde es gebrochen. Es hatte sich die Sache sehr zu Herzen genommen, aber mittlerweile hatte es sich von seinem Herzschmerz erholt und war fröhlich, lebendig und naiv wie zuvor. Übermütig hüpfte es so vor sich hin, unschlüssig, für welchen Herzschrittmacher sie ihr Herz höher schlagen lassen sollte.

Ich wünschte ihm noch von ganzem Herzen einen schönen Abend und ging nach Hause. Single-Bars sind zugegeben nicht der Ort, wo ich mich oft und gerne aufhalte, im Gegensatz zu meinem Herzen. Lieber gehe ich ins Café oder besuche ein gutes Konzert.

So war ich auch neulich auf einem Jazzfestival, bei dem zufällig auch meine innere Ruhe dabei war. Meine innere Ruhe war eine hervorragende Saxophonistin, und die besondere Phrasierung der punktierten Achtelnoten ließen das Publikum begeistert eine Zugabe um die andere fordern.

Mit Jazzgesang wurde sie von meiner Seele begleitet, mit dieser wunderbar rauen, geheimnisvollen Stimme. Meine Seele sang tief, abgrundtief.

Letzte Woche lernte ich auf dem Bauernmarkt mein Gewissen kennen. Es hatte einen kleinen Marktstand mit Freilandeiern und Schafswolle aufgebaut. Mein Gewissen empfahl mir ein paar Knäuel dieser reinweißen Wolle, vom Unschuldslamm geschoren, zu erwerben. Ich könne mir damit eine weiße Weste stricken. Das unterließ ich aber, weil ich erstens einen Blick auf das Preisschild gewagt hatte, zweitens eine völlig unbegabte Handarbeiterin war und drittens eine weiße Weste sehr schnell Flecken bekommt.

Stattdessen kaufte ich zwei Packungen Freilandeier, um mein Gewissen zu beruhigen, und ging.

Beim Überqueren der Straße sah ich die Spontanität, die dort auf einer Parkbank saß. Gerne hätte ich mich dazugesetzt und mich ein bisschen mit ihr unterhalten, schließlich waren wir ganz gut befreundet. Auf den Knien hatte die Spontanität einen dicken Terminplaner, in den sie eifrig die Pläne für ihre Spontanaktionen eintrug. Sie war so in ihre Arbeit vertieft, dass ich beschloss, sie lieber nicht zu stören.

Heute traf ich die Höflichkeit im Fansektor des Fußballstadions. Ich war ein wenig beunruhigt wegen den seltsamen Begegnungen, die ich in vergangener Zeit mit einigen Vertretern meines Innenlebens hatte, und erzählte ihr von meinen Sorgen.

»Was hältst du davon?« wollte ich schließlich wissen.

»Scheiß drauf!« sagte die Höflichkeit, warf einen halbvollen Bierbecher nach dem Schiedsrichter und blies mir den Rauch ihrer Zigarette ins Gesicht.