Thera Töglhofer (15) 5. Preis
Amor: The Story
Amor down
Amor, eigentlich unsterblich, langweilte sich mal wieder zu Tode auf seiner Wolke. Im Fernsehen liefen nur Wiederholungen, Herzblatt hatten sie sowieso abgesetzt. Seit Tagen hatte sich kein Pärchen auf Wolke 7 blicken lassen. Das war ja auch kein Wunder, Amor war schließlich ein miserabler Schütze und Julius, dem Lehrjungen, fehlte noch die Übung. Missmutig nahm Amor Pfeil und Bogen in die Hand und schoss ein paar Pfeile und zwischendurch auch mal einen Bogen ins Blaue.
»Hey Chef, Beschwerde von ganz oben!« Julius schlurfte mit seinen abgetretenen Lieblingsholzpantoffeln an den Füßen und einigen Pfeilen in der Hand zu Amor.
»Der Boss lässt ausrichten, du sollst die Schießübungen unverzüglich einstellen. Gabriel hat es schon von seiner Wolke gefegt. Mit der Munition ist es auch sehr schlecht bestellt.«
»Der Boss soll sich mal bei Luzi beschweren. Kein Wunder, dass mir die Form fehlt. Ich habe nächtelang kein Auge zugedrückt. Ich bin müde, ich bin depressiv, ich bin gelangweilt und ich bin ja soooo einsam. Schluchz!«
»Chef«, meinte Julius, »ich mache mir wirklich ernsthaft Sorgen um dich. Seit 200 Jahren ackerst du hier, ohne dir auch nur einmal ein wenig Erholung gegönnt zu haben. Es wird Zeit, dass du Urlaub machst.«
»Ja, Julius, vielleicht hast du wirklich recht. Ich würde gerne mal weg aus diesem Kaff, Erdlingsdasein pur genießen, aber das Geschäft geht zu schlecht. Wenn es so weitergeht, können wir bald stempeln gehen. Die da unten haben einfach keine Zeit, um sich zu verlieben. Es ist zum Heulen. Unter diesen Umständen lässt mich der Big Boss sicher nicht Urlaub machen.
»Kopf hoch, Amilein! Wir sagen einfach, es ist eine Geschäftsreise. Und wenn hier oben ohnehin nichts los ist, krieg ich das allein auch hin. Also, pack deine Sachen!«
Gesagt, getan! Einer dringenden Geschäftsreise konnte der Big Boss auch nicht im Wege stehen, und noch am selben Tag schwebte Amor zur Erde nieder. Schon beim Landeanflug bemerkte er, dass sich in den letzten 200 Jahren einiges verändert hatte. Die Pferdegespanne waren um einiges blecherner geworden. Das Feuer war in Glaskäfigen gefangen, es flackerte kaum mehr und erschien auf Knopfdruck. Und überall standen Gebäude herum, die alle gleich aussahen. MC DONALD’S, das war in großen Lettern darauf zu lesen. Amor wollte nicht in freier Wildbahn übernachten, und eine Nacht im Hotel hätte die Spesenrechnung zu sehr strapaziert. Die Alternative hieß Disco. Amor hatte schon einiges über diese neumodische Lärmeinrichtung gehört, aber er konnte sich nicht so recht vorstellen, was das eigentlich sein sollte.
Amor high
Direkt rein ins Geschehen. Er merkte gleich, dass er hier wohl einer der Ältesten war. Aber mit seinen paar Jahrhunderten war er ja auch nicht so leicht zu überbieten. Die heißen Rhythmen und der groovy Bass waren eine willkommene Abwechslung für ihn, der nur Glockenklingen und Harfentöne gewöhnt war.
Nach zwei Stunden war er bereits soweit, dass er verstand, was die anderen meinten, wenn sie »voll geil, echt groggy, total trendy, super movie« und andere Superlative verwendeten. Nach weiteren drei Stunden beherrschte er alle Tanzschritte und Discobewegungen, die zur Zeit »hip« waren. Jetzt begann Amor sich zu fadisieren. Die Nacht war lang, was sollte er bloß tun? Dann kam ein Typ auf ihn zu, sehr seriös und ganz nett, fand Amor jedenfalls.
»Brauchst du Stoff?« fragte dieser. Kein Wunder, dass der unwissende Amor freudig bejahte, schließlich hatte er schon gemerkt, dass er mit seinen Klamotten aus dem 18. Jahrhundert nicht ganz im Trend lag.
»Welchen Stoff hast du denn?«
»Koks!«
Von diesem Stoff hatte der Liebesgott noch nie was gehört. Er wollte sich jedoch keine Blöße geben. Vielleicht, so dachte er, war das etwas Neues wie Disco oder Mc Donald’s. Also nickte er nur.
»Folge mir unauffällig!« raunte der seriöse Typ ihm jetzt zu.
Amor folgte ihm unauffällig in ein düsteres Hinterzimmer.
»Jö, Schnee«, rief er überrascht. Auf Wolke sieben war solch ein Naturereignis äußerst selten.
»Bingo, Kumpel!«
Zwar war der gutgläubige Kerl schon etwas erstaunt über diesen Schnee, der so ganz anders als im siebten Himmel war, aber er hatte vollstes Vertrauen in diese Erdlinge und schnupfte bedenkenlos ein paar Züge. Es war super, es war Wahnsinn, einfach berauschend. Er war jetzt »high«, aber was das bedeutete, hatte er nicht mehr ganz mitgekriegt. Zum ersten Mal seit vielen Wochen machte ihm das Leben wieder Spaß. Nun lief er zur Höchstform auf, ein richtiger Amore-Motore wurde er. Tanzte auf den Tischen, stundenlang. Er war ein Gott und fühlte sich auch so. Die Lichter flimmerten vor seinen Augen. Rot, gelb, blau, rot, gelb, blau, rot gelb ... Immer schneller, schneller, schneller ... plötzich Totenstille ... DROGENRAZZIA rief jemand ... dann wurde ihm schwarz vor den Augen ... BLACKOUT!
Mit der ganzen Willenskraft, die so ein Liebesgott aufbringen kann, öffnete Amor die Augen. Blendende Sonnenstrahlen ließen sie ihn gleich darauf wieder schließen. Aber das, was er gesehen hatte, reichte ihm. Langsam schaffte er es wieder, seine Gehirnzellen zu aktivieren. Damit es etwas schneller geht, hier im Zeitraffer:
Hilfe, er saß ja hinter Gittern, er musste zurück sein, bevor der Big Boss eine Vermisstenmeldung erstattete und Julius seinen Job einnahm. Tja, der Wettbewerb war hart dort oben. Der Chef würde sowieso schon stinksauer sein, wenn er von der Sache erfuhr. Und das würde er: Gott sieht alles! Dieser Skandal würde ihm einen Imageverlust einbringen, das konnte er sich jetzt nicht leisten. Gestern noch war er Amor gewesen, der Gott aller Götter. Populär, bewundert, die Erdlinge hatten alle zu ihm aufgesehen. Und jetzt? Jetzt war er ein Verbrecher, ein Brecher des Gesetzes, ein Sühner des Erdlingstums. Wie weit konnte er denn noch sinken? Das war eindeutig der abgrundtiefste Tiefpunkt seiner Karriere ...
Amor in prison
»... und deshalb muss ich hier in tristen Stunden meine
Gutgläubigkeit büßen.
Und warum bist du hier,
Bruno?«
Amors neuer Zellenkumpane brummte ein paar unverständliche Wortbrocken und konzentrierte sich wieder darauf, sorgfältig den Dreck aus seinen Zehennägeln zu pullen. Bruno war nicht gerade sehr gesprächig, aber Amor hörte ohnehin lieber sich selbst reden.
»Also, wenn du mich fragst, Amor. Ich denke, du bist erstens viel zu blauäugig für diese Welt und zweitens: Du bist karrieregeil!«
Das war Amor etwas zu direkt. Beleidigt wandte er sich ab und widmete sich seinen Tagebucheintragungen:
»Ich denke, aber eigentlich denke ich nicht. Ich möchte begreifen, was geschehen ist, möchte es aufnehmen in meine Gedanken. Ich bin hier, in diesem kühlen weißen Raum. Erst für ein paar Sekunden oder schon für eine Ewigkeit. Ich weiß es nicht, ich weiß nichts. No risk, no fun! Oh, wie ich diesen Spruch hasse. Alles in dem Raum ist so weiß, die Laken, die Wände, ich. Regungslos und bleich existiere ich so vor mich hin! Wo sind nur die glorreichen Tage geblieben, in denen die Welt noch heil war, die Liebe allgegenwärtig und ich auf meiner guten, alten Wolke ...«
So philosophierte Amor vor sich hin. Seit Wochen, so schien es ihm. Tatsächlich waren aber erst zweieinhalb Stunden vergangen.
Dann wurde er zum Verhör geholt. Ich werde nichts sagen, ich werde felsenfest schweigen! nahm er sich noch vor. Er hatte sich einen verdunkelten Raum mit einem langgestreckten Tisch erwartet. An einem Ende er und hinter ihm ein 2.10 großer Gefängniswärter und am anderen Ende drei Verhörer mit Pokerface und Designeranzügen. Nur eine Lichtquelle im hintersten Eck des Raumes und gespenstische Schatten auf den Wänden tanzend.
Tatsächlich aber wurde er in einen hellen Raum geführt, ein kleiner, schlichter Büroraum, keine Anzeichen irgendeiner persönlichen Note. Aber etwas strahlte Herzlichkeit aus, eine Herzlichkeit, die Amor nur allzu vertraut war, die er nur auf seiner Wolke Nr. 7 verspüren zu vermochte.
Amor in love
Das Etwas saß auf einem Sessel hinter einem Computer. Das Etwas war so wie nichts auf der Welt. Das Etwas ließ Amor rot werden. Das Etwas forderte ihn auf, Platz zu nehmen. Das Etwas hatte eine wunderbare Stimme. Das Etwas war himmlisch.
Bei Amor begannen alle Glocken zu läuten. Das was, das wie, das wo, alles wurde so unbedeutend, so lächerlich. Amor verspürte einen dumpfen Schmerz am Hinterkopf. War es wirklich mit der Munition so schlecht bestellt, dass Julius schon mit Holzpantoffeln warf? Im selben Moment fasste sich das Etwas an den Kopf und ihre Augen begannen zu strahlen.
»Ich bin A... ähm Al... An...ähh?«
»Amor«, las das Etwas aus seiner Akte vor.
»Ja genau, ich bin Amor und ...«
»Ich heiße Amar.«
Es war wirklich bewundernswert, wie Amor die Situation, also die Konversation meisterte, wenn man bedenkt, dass er noch nie in irgendeiner Form mit einem weiblichen Wesen kommuniziert hatte und obendrein noch in dieser Lage, als straffällig gewordenes Nichts gegen das himmlische Etwas, enttarnt als Amar.
Alle Vorsätze waren nun dahin verschwunden, er brauchte nur in ihre Augen zu sehen und schon redete er wie ein Wasserfall während der Regenzeit. Nach knapp einer halben Stunde wusste sie alles und noch viel mehr.
»... das ist meine Geschichte. Aber jetzt reden wir über dich! Hast du Familie, wo wohnst du, was ißt du am liebsten, macht dir dein Job Spaß, willst du mich küssen?«
»Nein, ich fühle mich nirgends zu hause, Götterspeise, nein, ähm!«
Amor analysierte: Sie hatte also keine Familie, fühlte sich nirgends zu hause, mochte am liebsten Götterspeise, ihr Job machte ihr keinen Spaß ...
»Wieso magst du deinen Job nicht?«
»Ach, Amor, ich habe tagelang nichts anderes zu tun, als schweren Burschen ein Geständnis herauszulocken. Ich hasse den Job. Ich möchte etwas tun, was den Menschen Freude bereitet. Ich möchte mit netten Leuten zusammenkommen.«
Traurig senkte Amor den Blick.
»Und ich bin einer von diesen schweren Burschen. Ich bin Abschaum, das Letzte, ein fieser Hundling, eine Bedrohung für die Menschheit, ich bin ...«
»Nein, Amor! Das bist du nicht, du warst nur ein wenig zu blauäugig. Eigentlich liegt gegen dich auch nichts Konkretes vor. Du bist so gut wie unschuldig. Und außerdem finde ich blaue Augen wundervoll.«
Und dann beantwortete sie seine letzte Frage.
Amor, Amar, Amur
Ein paar Lenze später:
Amar zeigte Amur, dem kleinen Halbgott, wie er den Pfeil in den Bogen spannen musste.
»Zu Tisch meine Lieben«, rief Amor. »Die Götterspeise ist angerichtet!«
Amur: The Story
Alter schützt vor Kindern nicht
Fast alles, was nicht in ein Vakuum verpackt ist, fällt dem natürlichen Alterungsprozess zum Opfer. Und Kinder, die beschleunigen so einen Alterungsprozess ungemein. Amor war weder in einem Vakuum noch kinderlos.
Einige Lenze waren vorübergezogen. Amor war alt geworden, das war nicht zu übersehen. So alt, dass es gar nicht auffiel, wenn er wieder ein bisschen älter wurde. Wobei alt natürlich ein relativer Begriff ist, bedenkt man, dass so ein Liebesgott unsterblich ist und somit auch unbegrenzt alt wird. Aber trotzdem, er war nicht mehr der junge, übermütige Amor, der vor Geist und Esprit förmlich überquellte. Diese Rolle sollte Amur nun übernehmen, so hatte Amor sich das jedenfalls gedacht.
Aber dieser zeigte nicht das kleinste Anzeichen von Geist und Esprit. Lasch saß er vor dem Computer und spielte Batman 3, oder er ließ die Beine am Rand seiner Wolke baumeln mit dem Fernrohr in der Hand und sah zu, wie sich attraktive Erdenmädels an Massenstränden aalten. Er hatte das Fernrohr von seinem Vater geschenkt bekommen, als er sieben und noch ein prächtiger kleiner Halbgott war und sein Vater sein größtes Idol. Jetzt fühlte er sich eher wie ein Minderwertigkeitskomplex im falschen Film. Er war schlacksig, die Proportionen, die Hormone, nichts stimmte. Am liebsten hätte er sich aus seiner Haut geschält und wäre in die trainierten Körper der Strandboys geschlüpft, die da unten den attraktiven Erdenmädels den Rücken mit Sonnenschutzmittel eincremten. Oder, noch lieber, wäre er gleich das Sonnenschutzmittel selbst gewesen, das sich schützend an geschmeidige Samthaut legte und ...
An dieser Stelle unterbrach er jedesmal seine Gedanken, musste tief Luft holen, aufstehen und sich irgendwie anders beschäftigen. Stundenlang saß er vor seinem PC und versuchte, nicht an Sonnenschutzmittel zu denken. Einmal fand er einen neuen Bildschirmschoner, etwas Französisches.
»Il n’y a rien de plus beau qu’une clé, tant qu’on ne sait pas qu’elle ouvre!« stand da. Er hatte keine Ahnung, was das heißen sollte, aber es gefiel ihm. Alles, was französisch war, war gut. Baguettes zum Beispiel, oder Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, oder Paris, die Stadt der Liebe, oder französische Küsse ... Nein, er verbannte seine Gedanken in den hintersten Winkel seiner Gehirnwindungen, stand auf, nahm wiederum das Fernrohr und ging zum Rand seiner Wolke. Er liebte dieses Fernrohr, für ihn sicherte es den Fortbestand seiner Traumwelt, die wirklich existierte. Für ihn war das, was wir als halb-missratene und halb-gelungene, menschlich bewohnte Erdkugel ansahen, der Garten Eden, wie er im Buche stand. Für ihn war es ein Schlüssel, der ein prunkvolles Tor aufsperrte. Das Fernweh hatte ihn gepackt. Er wusste, was er wollte. Nur mussten das auch seine Eltern wollen, denn nur diese konnten die Klinke niederdrücken und das Tor öffnen.
Es war ein lauer Sommerabend. Amor und Amar saßen auf einer kleinen Ansammlung von Schäfchenwölkchen und redeten, wie an jedem lauen Sommerabend.
»Ich mache mir Sorgen um unseren Sohn.« sagte Amor. »Er ist so anders in letzter Zeit. Er war immer so ein fröhliches Kind, aber ...«
»Er wird erwachsen, Schätzchen. Das gehört wohl dazu!« entgegnete Amar.
»Aber er ist so zurückgezogen, sieht stundenlang hinunter auf die Erde und träumt vor sich hin.«
»Du warst auch einmal jung, Amor. Vergiss das nicht!«
»Nein, ich habe es nicht vergessen, aber es ist schon so lange her.«
»Amor, ich denke, es wird Zeit, dass wir Amur auf Erden senden. Er muss selbstständiger werden und seine eigenen Erfahrungen machen. Er will da runter, hier gibt es nichts, was ihn halten wird.«
»Nein, Amar, nicht dort runter. Du weißt doch, wie es mir ergangen ist. Die Erde ist gefährlich. Unser Sohn bleibt hier! Das ist ein Machtwort, basta.«
Das Paradies auf Erden
Eine Woche später packte Amur bereits seine Sachen. Die weibliche Sturheit ist eben doch nicht zu unterschätzen, und Amars Charme, Raffinesse und ihre Überredungskünste hatten das Übrige getan.
Amur down
Amur war voller Vorfreude, und seit er wusste, er durfte zur Erde, war er richtig aufgeblüht. Es war, als schwenkte ein Flügel des prunkvollen Tores auf, und eine Stimme sagte ihm: »Komm, tritt ein. Hier ist das Paradies, es liegt dir zu Füßen.«
Sein Vater ließ ihn nicht gerne gehen, wurden doch wieder alte Erinnerungen in ihm geweckt. Er ermahnte ihn, auf keinen Fall zu blauäugig sein, in keine Disco einen Fuß zu setzen, niemandem zu vertrauen, kein Interesse an Stoff, Schnee und dergleichen zu zeigen ...
»Sei vorsichtig, Amur! Da unten gibt es welche, die sind der Hölle näher als dem Himmel ...«
»Papa!« unterbrach ihn sein Stammhalter. »Aber wenn du nicht all den Blödsinn gemacht hättest, dann hättest du auch Mama nie kennen gelernt und dann wärt ihr nie in den siebten Himmel gekommen und dann hättet ihr mich nicht gemacht und dann ...!«
»Schon gut, ich habe verstanden. Es war das Beste, was mir passieren konnte, Amar zu treffen. Aber überlege, wie es mir ergangen wäre, wenn ich nicht solch ein Glück gehabt hätte. Mein Sohn, du hast die Fähigkeit, andere lieben zu lassen, aber du kannst niemals zu deinem Vorteil Liebe erzwingen. Außerdem bist du noch ein sehr unsicherer Schütze.«
Und dann war es endlich soweit. Kaum unten angekommen – auch Halbgötter haben Flügel – zückte er sein Notizbuch und einen Stift und trug ein:
Die Erde, ein grün-blauer
Juwel
Als kleiner Bruchteil dieser Welt
Sie zur
Perfektion ergänzet
Sie den Punkt des I erhält
Somit ist es wohl überflüssig, Amurs erste Eindrücke zu schildern.
Amur war fast genau dort gelandet, wo er hin wollte. Nämlich in einer Hotelanlage mit Privatstrand, an dem sich die Massen sonnten, noch dazu in Frankreich, dort, wo alles gut war ...
Obwohl es erst gegen neun Uhr vormittags war, hatte es vermutlich schon über 30 Grad, und es strömten Menschen wie Ameisen in Richtung Meer, dass es unmöglich gewesen wäre, gegen den Strom zu gehen. Amur ließ sich einfach von der Menge treiben. Die Hitze machte ihm überhaupt nichts aus, der siebte Himmel war ja schließlich gerade zu bekannt dafür, dass es dort heiß herging. Irgendwo ließ er sich in den Sand fallen und beobachtete in aller Ruhe das Geschehen um ihn herum. Schreiende Kinder, erschöpfte Eltern, schwitzende Touristen und hier und da ein Opfer der medialen Magersuchtspropaganda. OK, und wo waren jetzt die attraktiven Erdenmädels und die Strandboys mit den trainierten Körpern? Von oben hatte das alles ganz anders ausgesehen. Irgendwie war er enttäuscht, denn eigentlich hatte er sich mehr erwartet als nervige Kleinkinder, deutsche Touristen und halbe Skelette. Er nahm sein Notizbuch heraus und notierte:
»Es ist nicht so, dass ich mich um meine Vorstellung betrogen fühle. Es ist nur die Krönung der Perfektion, die auf sich warten läßt.«
Und zwar genau bis 10 Uhr 27 ließ sie auf sich warten. Dann kamen sie, so plötzlich, wie die Touristen in die Hotels verschwanden, um sich vor dem Mittagessen noch am Swimmingpool eine Überdosis UV-Licht zu genehmigen.
Der Strand war jetzt ziemlich leer, jedoch immer noch sehr voll. Der Generationswechsel hatte mehr Bewegung in das Strandgeschehen gebracht. Frisbees und Volleybälle flogen durch die Luft. Amur saß im Sand und genoss die Aussicht, oder besser gesagt die Ansicht. Auf den Wellen schaukelten Luftmatratzen, und auf den Luftmatratzen lagen Erdenmädels, und auf der Haut der Erdenmädels war ein glänzender Film von Sonnencreme.
Ein Volleyball flog in seine Richtung und schlug neben ihm auf. Amur fing den Ball und gab ihn einem dunkelhäutigen Jungen zurück. Dieser sagte irgendetwas, aber Amur konnte ihn nicht verstehen. Er sprach ja nur Italienisch, ein paar Brocken englisch und höchstens ein paar Bröckelchen französisch. Das war aber kein Hindernis für den Jungen. Er deutete auf den Ball, auf ihn, in die Luft und zu den anderen, und schließlich verstand Amur. Er sollte mitspielen.
Und das tat er dann auch. Anfangs stellte er sich ziemlich ungeschickt an. Er kam sich linkisch und unbeholfen vor, ließ den Ball fallen, schlug ihn ins Out oder ins Netz, aber die anderen lachten nur darüber, und das gab ihm Sicherheit, und es machte Spaß. Mit der Zeit wurde er immer besser, und als er es dann zum ersten Mal schaffte, den Ball übers Netz zu bringen, hörten sie auf zu spielen.
Amur wollte die anderen nicht weiter belästigen. Er drehte sich um und ging zurück zu seinem Handtuch. Kaum hatte er sich in den Sand gesetzt und die Augen geschlossen, kam ein Mädchen zu ihm hin. Es war die Dunkelhaarige, die von den anderen Tina genannt wurde. Wild gestikulierend zeigte sie auf das Wasser.
»Mein Gott, da wird doch niemand ertrinken!« dachte sich Amur und sprang auf.
Jetzt ruderte Tina mit den Armen und lief zum Wasser. Amur hinterher. Die anderen waren schon im Wasser. Ihnen war nicht das kleinste Anzeichen von Panik anzumerken. Als er schon bis zu den Knien im Wasser stand, dämmerte ihm, dass das vorhin wohl nur Schwimmbewegungen gewesen waren. Jetzt, wo er schon im Meer war, konnte er auch nicht mehr umdrehen, und ein guter Schwimmer war er ja. Außerdem schien die anderen seine Gegenwart überhaupt nicht zu stören. Sie lachten und spritzten ihn nass, er spritzte zurück und lachte.
Als sie aus dem Wasser kamen, war es schon über Mittag. Plötzlich packten alle ihre Sachen, und so schnell, wie sie gekommen waren, waren sie auch wieder verschwunden. Amur war wieder alleine unter hunderten Menschen. Der Strand war nun relativ leer geworden, aber doch immer noch sehr voll. Viele Urlauber ließen sich auch von der Mittagssonne nicht in die Hotels vertreiben. Er setzte sich in den Schatten einer kleinen Ziegelmauer und trug in sein Notizbuch ein:
»Lieber Gott, das mit der Erde hast du
ja ganz gut hingekriegt.
Aber die Suppe hast du gründlich
versalzen.«
Dann lehnte er sich zurück, schloss die Augen und ließ seine Gedanken kreisen. Plötzlich hielt er inne. Was war das? Seine Mundwinkel zogen sich nach oben, er konnte nichts dagegen tun – er wollte auch nichts dagegen tun, es war ein schönes Gefühl. Er fuhr mit den Fingern seine Lippen entlang, ohne Zweifel, er lächelte ...
L´Amour
Amur hatte beschlossen, von jetzt an öfter zu lächeln, das gefiel ihm. Am nächsten Tag wartete er wieder am selben Platz auf Tina und die anderen, jedoch besonders auf Tina. Tina war ... eben Tina, und er wusste nicht, warum sich in ihm etwas zusammenzog und dann als kleines Feuerwerk explodierte, wenn er an sie dachte. Er wartete den ganzen Vormittag, aber niemand kam, sofern hunderte Touristen, Kleinkinder und Magersuchtspropagandaopfer niemand sind.
Vor der Mittagshitze flüchtete er wieder in den Schatten der Mauer. Gerade, als er beschlossen hatte, das Warten aufzugeben und eine Runde schwimmen zu gehen, kamen Mona, Pierre und noch ein Dritter, dessen Namen Amur nicht kannte, auf ihn zu. Sie grüßten schon von weitem, und dann gingen sie gemeinsam ins Wasser. Als sie an den Strand zurückkehrten, waren auch die anderen da.
Sie hatten ihm ein kleines Wörterbuch mitgebracht, und er begann, darin zu blättern. Bald kannte er die wichtigsten Wörter und konnte einfache Sätze bilden.
»Comment tu t’appelles?« wollten sie wissen. »Wie heißt du?«
»Je m’appelle Amur!« – »Ich heiße Amur!«
»Ah bon, l’Amour«, rief Tina.
Von da an wurde er von allen l’Amour genannt ...
»Da sitzt Tina im Sand, und ihr dunkles Haar umrahmt ihr Gesicht, wie ein kostbarer Rahmen ein schönes Gemälde, und ihr Lachen klingt lange in meinen Ohren, tausendmal schöner, als je ein Serafin Harfenmelodien spielen könnte.
Wie unbeholfen kam ich mir doch vor, als ich dem Meer entstieg und sie wahrnahm, in voller Pracht. Als das Wasser an mir herunterflüchtete, zurück in die Fluten, und mich scheinbar bloßstellte, mich meiner Leichtigkeit beraubte und der Schwerfälligkeit preisgab.« schrieb Amur in sein Notizbuch.
Mona sah ihm über die Schulter. Er klappte das Buch zu, was eigentlich nicht notwendig war, weil ohnehin niemand außer ihm italienisch sprach. Aber Mona griff nach dem Buch und klappte es wieder auf. »Tina« stand da, und noch ein zweites Mal »Tina«. Sie zeigte auf den Namen und auf die kleinen Herzen als I-Pünktchen.
Amur kam in Verlegenheit. Schnell klappte er das Buch wieder zu. Mona sah ihn mit großen Augen an. Ihm wurde richtig unwohl in der Magengegend, als ihr Blick ihn traf. Aber dann durfte er ihr den Rücken mit Sonnenmilch eincremen und das komische Gefühl verflüchtigte sich wieder.
Einer von ihnen
Es waren schon zwei Wochen vergangen seit Amurs Ankunft auf Erden, so schien es ihm. Natürlich hatte er bemerken müssen, dass es auch kleine Unerfreulichkeiten gab, wie Glasscherben auf der Strandpromenade, Feigenbaumbesitzer, die wütend wurden, wenn man ihnen die Früchte vom Baum pflückte, und Touristen, die es nicht leiden konnten, wenn man ihnen die letzte Melone vor der Nase wegkaufte.
Jeden Tag wartete er auf die anderen, und jeden Tag kamen sie zum Strand. Sie gingen schwimmen, spielten Volleyball, redeten und hatten Spaß. Gottseidank war Amur im Lernen von Fremdsprachen begabter als beim Volleyball. Mittlerweile beherrschte er die fremde Sprache schon ganz gut und konnte sich fast problemlos mit den anderen verständigen.
Er konnte kaum glauben, wie schnell die Zeit verflogen war. Zum ersten Mal seit langem freute ihn das Leben wieder. Etwas hatte sich in ihm verändert. Er ging in sich, um eine Art Seelen-Inventur zu machen. Also da waren: die tiefe Überzeugung, dass er hier im Paradies sei, ein wirrer Haufen aus pubertärem Gefühlschaos, Unsicherheit, die Hoffnung, dass Tina seine Liebe erwiedern würde, ganz im letzten Winkel Gedanken an Sonnencreme auf samtiger Haut. Sofort wusste er, dass etwas fehlte. Wo waren die Minderwertigkeitskomplexe, die wie Urwaldriesen aus jeder Ecke wuchsen und den anderen Seelenmitbewohnern das Licht wegnahmen? Mitsamt dem Wurzelwerk aus dem Boden gerissen. Das war er, l’Amour. Ein braungebrannter Teenager auf dem besten Weg zum Halbgott beziehungsweise Halbmann. Einer, der die Mädchenherzen höher schlagen ließ, einer, dessen Blicke magnetisch anzogen. Er war einer von ihnen, ein Strandboy. Überdimensional, der alles schaffen konnte, wenn er es nur wollte.
Amur’s Selbstwertgefühl hatte also in den vergangenen Tagen einen ziemlichen Bergauftrend mitgemacht. Nur was Tina betraf, war er sich nicht ganz so sicher. Sie erschien ihm so überirdisch schön, aber nicht nur deswegen. Sie war so geheimnisvoll und anziehend. Sie lachte oft und lange. Tina war ... einfach Tina.
Warum sollte sie eigentlich nichts für ihn empfinden, fragte er sich. Ihm war aufgefallen, dass sie ihn oft ansah. Er spürte ihre Blicke, aber sobald er den Kopf drehte, sah sie wieder in eine andere Richtung. Und sie war doch oft in seiner Nähe, oder war er dort wo sie war? Je länger er darüber nachdachte, desto mehr kam er zu dem Schluss, dass Tina ihn wohl auch mögen musste. Ja musste, er war schließlich der Sohn von Amor, dem Liebesgott schlechthin. Er war geradezu bestimmt dafür, dass ihm die Mädchenherzen zuflogen.
Er war verliebt in Tina, Tina in ihn, das wusste er bereits. Jetzt musste er handeln. Er musste ihr sagen, was sie für ihn empfand. Eine Sache beunruhigte ihn noch ein wenig. Sollte er sie küssen? Wann und wo und vor allem wie? Er schob seine Unsicherheit einfach beiseite. Er war ein halber Liebesgott, da konnte er sich wohl auf seine Intuition verlassen.
Die Gelegenheit
Die Gelegenheit kam noch am selben Abend. Der Strand war, wie immer, voll, doch relativ leer, weil die Touristen sich alle beim All-inclusive-Abendessen im Hotel die Bäuche vollschlugen. Die Sonne war schon halb ins Meer getaucht, und am Horizont leuchtete es in allen Rot-, Violett- und Blautönen, die man sich nur vorstellen kann. Es war perfekt, fast schon kitschig.
Tina saß etwas abseits allein im Sand. Eine passendere Gelegenheit konnte es nicht geben, fand Amur. Er ließ sich neben sie in den Sand fallen. Verträumt starrte er Tina an, die wiederum verträumt auf das Meer hinaus sah. Schließlich konnte sie seine Blicke nicht mehr ignorieren und wandte sich vom Sonnenuntergang ab, ihm zu. Amur holte tief Luft, räusperte sich, verschluckte sich, musste husten, räusperte sich wieder. Jetzt oder nie!
»Tina, dir ist doch sicher schon aufgefallen, dass du mich oft ansiehst. Und dass du immer in meiner Nähe bist. Und dass du mir mehr Aufmerksamkeit schenkst, als den anderen. Tina, ich wollte es dir schon lange sagen: Du bist verliebt in mich!«
»L’Amour, hör zu! Ich ... ich ...«
»Sag jetzt nichts, Tina! Manchmal sagt ein Zeichen mehr als tausend Worte.«
»Aber...!«
Und dann küsste er sie. Er schloss die Augen und wartete auf die Schmetterlinge und auf dieses Wahnsinnsgefühl. Na endlich, da war es! Er spürte ein Gefühl der Leichtigkeit, als würde er schweben und fand sich dann in Bergen von rosa Wölkchen wieder. Na bitte, war ja alles plangemäß gelaufen. Er war im siebten Himmel ... doch wo war Tina?
High down
Wieso war sie nicht hier? Er hatte sie geküsst, sie musste doch auch hier sein. Amur nahm sein Fernrohr und lief zum Rand der Wolke. Da unten saß Tina noch immer im Sand und wunderte sich über sein plötzliches Verschwinden. Jetzt setzte sich Pierre neben sie. Sie sahen sich in die Augen und schwiegen. Da wusste Amur, was er zu tun hatte. Er tat es nicht gerne, aber es war seine Pflicht, und er war es Tina schuldig! Er nahm Pfeil und Bogen, zielte und schoss. Ein voller Treffer. Und auch der zweite Pfeil traf genau ins Herz.
Und dann machte er sich Vorwürfe und ärgerte sich über sich selbst und seine Überheblichkeit und überhaupt über alles. Er ging nach Hause und verstaute sein Fernrohr im dunkelsten Eck seines Schrankes.
»Es war eine schöne Zeit!« schrieb er in sein Notizbuch. »Aber ich werde erst wiederkommen, wenn dort unten braungebrannte Strandmädels attraktiven Strandjungen den Rücken eincremen.«
Il n’y a rien de plus beau qu’une clé, tant qu’on ne sait pas quelle ouvre, blinkte sein Bildschirmschoner noch immer. Und jetzt wusste er auch, was es bedeutete:
Es gibt nichts Schöneres als einen Schlüssel, solange man nicht weiß, was er öffnen wird.
Wahllos drückte er ein paar Tasten, dann starrte er auf einen schwarzen Bildschirm. Der Computer war abgestürzt.