Verena Tatzer (18)

Eierlauf

Vorhang. Spot auf die Mitte der Bühne, eine Dame im altrosa Kleid ist zu sehen, mit Lockenwicklern im Haar, die ihr eine groteske Erscheinung von schmuddeligem »Und trotzdem an Traditionen festhalten« gibt.

Die Bühne ist leer, bis auf ein paar Kartons, die Dame sitzt auf eben so einem, vor ihr ein etwas größerer, der einen Tisch darstellen soll.

Spot von links, ein Herr mittleren Alters, ganz in Grau, der schnüffelnd und die Nase rümpfend auftritt, so, als wäre er gezwungen, einen unangenehmen Geruch wahrzunehmen.

Gleich hinter dem grauen Mann ein junges Mädchen, blond, kurz geschnittene Haare, sehr schlank, fast zu mager, das fröhlich hüpfend auftritt, wie um dem Klischee einer Allegorie des Frühlings zu entsprechen, der Zuschauer merkt jedoch, daß etwas mit ihr nicht stimmt.

Die Dame beobachtet die beiden seltsamen Gestatten, nimmt eine noch disziplinierte Haltung ein, wie es alte Leute tun, die über die vermeintliche Dummheit der Jugend lästern.

Dame: ... Also, hören Sie mal, wir sind hier in ...X ... (Name der Stadt zu nennen, in der das Stück gespielt wird) und in ... X... war es immer ein bißchen anders. Alle Leute haben uns ...Xer vom alten Schlag immer verachtet, doch das kommt nur davon, daß wir eben noch an andere Dinge gewöhnt sind; ich selbst hatte drei Dienstmädchen, schon in jungen Jahren, obwohl die ganze Familie trotz allem ständig schwer in der Mühle gearbeitet hat, da waren so etwas wie Fitness-Center unnötig, ja, sogar lachhaft, wir arbeiteten den ganzen Tag lang hart, unsere Körper waren gestählt von der Arbeit ... (versinkt in klangloses Murmeln) ...

Das Mädchen umkreist die Dame, während der Herr, mit sich selbst im Disput, murmelnd von einem Bühnenende zum andern geht, ständig schnüffelnd, auch an der Dame und an dem Mädchen, was einen komischen Effekt bewirkt.

Herr: ...ja, ja, die Arbeit stählt den Körper, auch ich habe gearbeitet auf dem Kräuterbauernhof meines Vaters, dort roch es immer so gut nach Kräutern (Der Herr redet sehr monoton, ständig betont er die 2. Silbe. Wenn er den Geruch beschreibt, verwendet er immer dieselben Gesten, die eines Tunnels, er zeigt quasi seine Engstirnigkeit) Da war kein EKELHAFTER GERUCH; NACH EXKREMENTEN UND NACH MENSCHLICHEN ÜBERBLEIBSELN; so wie hier, wo es doch so DURCHDRINGEND UND EKELHAFT STINKT, NACH EXKREMENTEN UND MENSCHLICHEN ÜBERBLEIBSELN; (wendet sich zur Dame, mit irren Augen, augenscheinlichfuhlt er sich von diesem Geruch verfolgt)

Jawohl, meine Dame, riechen sie diesen Geruch nicht, diesen Geruch nach menschlichen Überbleibseln und nach Exkrementen, jawohl meine Dame, (hier macht er eine seiner abgehakten Sprechweise entsprechende Pause): Haben sie je Menschenfleisch gegessen?

(Die Dame reagiert nicht pikiert, wie man es erwartet hätte, sondern spricht, sich dem Rhythmus des Herrn anpassend, mit nicht ganz so monotoner Stimmlage): Ja, mein Herr, ich kann sie gut verstehen, es gibt so viele Dinge auf der Welt, die einen schlechten Geruch erzeugen, zum Beispiel faule Eier, oder abgelaufenes Joghurt, oder (sie zählt sehr lange verdorbene Lebensmittel auf, das junge Mädchen, das beiden aufmerksam gelauscht hat, kommt mit kecken Schritten auf die beiden zu, hält kurz inne, stellt sich rechts von der Dame auf, mit hinter dem Rucken verschränkten Armen)

Mädchen: (In extrem zynischem Ton, egal, was sie sagt) Es scheint, daß Sie beide nicht so richtig in Form sind, heute, meine Herrschaften, ihr Aussehen erschreckt mich, so bleich wie sie sind, könnte man sie ja mit dem Tode verwechseln.

Dame: ... oder verdorbene Milch, verfaulte Erdbeeren, die schon ganz matschig sind, Faschiertes, das schon in Verwesung übergetreten ist ... (zählt weiter Lebensmittel auf, die nicht gut riechen)

Herr: (wendet sich immer an den, der spricht, stimmt ihm zu, erzählt gleich darauf von sich, und kommt im zweiten Satz, den er ausspricht, auf den GERUCH) Ja, sie haben recht, gut sehe ich nicht aus, aber wie könnte ich denn, bei diesem GERUCH; nach Exkrementen und nach menschlichen Überbleibseln, denn was bleibt schlußendlich übrig von uns?? Nur der Geruch nach Exkrementen und nach menschlichen Überbleibseln, ...

Mädchen: Ihnen scheint etwas zu fehlen, werter Herr, sind Sie denn so auf Gerüche spezialisiert, daß all die anderen Sinne weit zurücktreten müssen, nur die Nase, aus dem Gesicht herausstechend wie kein anderer Teil des menschlichen Antlitzes,...

Dame (mischt sich erneut in das Gespräch): Ja, doch vielleicht die Ohren bei dem einen oder anderem Menschen.

Es gibt so viele Männer, deren Ohren in besonders auffälliger Weise abstehen, mir fiel einst in England auf, daß dieses Phänomen recht häufig auftritt. Obwohl die Bretonen ja eher kleine, fast zu kleine Ohren besitzen, und Russen meist mit sehr weitläufigen Hörorganen ausgestattet sind, manche meinen, man konnte die »Charakterstärke« eines Mannes an seinen Ohren erkennen (hier wird sie sehr ironisch, fast anzüglich).

Mädchen: (unterbricht den Sermon der Dame harsch) Also, alles was sie sagen, ist so uninteressant. (Sehr traurig, Spot auf das Mädchen, das zum ersten Mal zerbrechlich und sanft wirkt). Heutzutage reden die Leute doch immer nur dasselbe, und das Schlimme ist, daß sie es auch noch gleichzeitig tun, oft befinden sie sich auch noch am selben Ort, so daß ein immenses Gemurmel aufsteigt zum Himmel, ein ungehörtes Durcheinander der einzelnen Stimmen, denen es entweder nichts mehr bedeutet, als einzelner erkannt zu werden, oder die alles eben dafür tun, doch ebenso erfolglos und ungehört bleiben wie alle anderen ... (erwacht aus ihren Gedanken, weil der Herr, der während ihres Monologes aufgeregt auf und ab geht, immer lauter spricht; als sie endet, beginnt er zu schreien)

Herr: ... ja, denn der Geist verfault, gärt, tritt in Verwesung über, all die Prozesse, die so oft Natürlich genannt werden, sind ja eigentlich dem rein Physischen, in weicher Form auch immer, vorbehalten, nein, nein, ja, ja, (wird immer lauter, mit immer ausladenderen Gesten) .... wie eine Krankheit infizieren Fäulnisvorgänge den Geist, den unschuldigen, reinen sogar, den frischen, unverbrauchten, unvoreingenommenen, und der Geist (plötzlich sehr vulgär, angeekelt) fängt an zu riechen, mit der Zeit, dünstet er aus, STINKT, STINKT entsetzlich zum Himmel und STINKT und verfault und stinkt und wird den Fäkalien menschlicher Wesen immer ähnlicher, wie Kot, wie Dreck wie SCHEISSE!!!! (nach diesem intensiven Ausbruch wird ihm bewußt, daß die anderen zwei ihn beobachten, das Mädchen amüsiert, die Frau erstaunt und schockiert)

(Der Herr setzt sich auf den Boden, die Beine verschränkt, und verfällt in eine geisteskranke Apathie, das Mädchen beginnt lauthals zu lachen. Die Dame rennt kreischend von der Buhne. Licht aus. Vorhang)

2. Szene

(Vorhang, Spot auf den Herrn. Zu sehen ist nur der Herr, er sitzt auf einer Mülltonne, die überdimensional groß erscheint, aus Eisen oder Stahl, auf jeden Fall ein glänzendes Metall, das beinahe edel aussieht. Kann auch Gold sein, muß aber nicht sein. Er schreibt etwas in einen überdimensional großen Notizblock, mit einem überdimensionierten Bleistift, murmelt unverständliches Zeug vor sich hin, reißt ein paar Mal das Geschriebene aus dem Block, zerknüllt es zu großen Papierkugeln, die er sorgfältig neben sich auf der Mülltonne plaziert.

Spot: Auftritt des Mädchens, in einem schönen, schlichten Hosenanzug, vorzugsweise mit Fischgrätenmuster, in Grau, mit einer Melone auf dem Kopf, einer roten Krawatte. Sie tritt vornehmen Schrittes auf, langsam, mit einem Spazierstock in der rechten Hand Sie schreitet ein paar Mal auf und ab, bemerkt erst jetzt den Herrn, der nicht aufhört, zu kritzeln.

Mädchen: Wunderschönen Tag der Herr, stets zu Ihren Diensten, womit kann ich Ihnen behilflich sein? Sie scheinen sich schon wieder erholt zu haben, der böse, böse, böse (sie verfällt nach anfänglich sehr höflichem Ton wieder in ihren Zynismus) Geruch belästigt nicht mehr das zarte Näschen?

Herr: (schreckt auf, erkennt nach kurzem Wundern das Mädchen, sehr gegessen): Ach, Sie schon wieder. Sie wird man wohl gar nicht los? Wieso verfolgen Sie mich eigentlich? Gibt es nicht genug Menschen, die mit Ihrer Hilfe besser überleben würden? Ich brauche sie n... (hält kurz inne) ... ich will sie nicht!

Mädchen: ... aber, aber, jetzt sind Sie sehr ungerecht gegen mich! (sie rümpft die Nase, bemerkt den Geruch, der von der Mülltonne ausströmt) ... warum sitzen Sie auf einer Mülltonne? So einen ekelhaften Geruch habe ich ja wohl mein Lebtag noch nicht gerochen, puhh, ist ja kaum auszuhalten!!

Herr: Sehen Sie, deshalb ist das der einzige Ort, an dem ich zur Ruhe komme, Müll stinkt, die Definition von Unbrauchbarem, Weggeworfenen, weil schon Abgenutztem oder Schlecht Gewordenem beinhaltet auch, daß Müll stinkt, stinken DARF, ja stinken MUSS! Hier stinkt es sowieso, jede Mülltonne auf der ganzen Weit stinkt, deshalb kann auch ich ruhig werden, ich muß den anderen Geruch nicht mehr riechen, weil der Müll-Gestank, den ich mir sowieso erwartet habe, der quasi legitim ist, alles überdeckt.

Mädchen (hält sich die Nase mit der linken Hand zu, schüttelt den Kopf vor lauter Unverständnis): Sie sind ein weitaus schwerwiegender Fall als ich dachte, mein Herr.

Herr: (immer noch in sehr ruhigem, behäbigem Ton. Der Herr scheint wie ausgewechselt zu sein, während das Mädchen zusehends unsicherer wird) Ach, dann ist das also kein Zufall, daß wir uns begegnet sind?? Sind sie mir etwa ... (sehr herablassend) ... gefolgt??

Mädchen: (neutral, doch lange nicht mehr so zynisch, eigentlich sehr verletzlich wirkend) Nun, sagen wir, daß ich von Ihnen angezogen wurde. (wieder sicherer, weil ablenkend) Was ... was schreiben sie denn da?? (umkreist die Mülltonne, setzt sich schließlich neben ihn, versucht zu lesen, was der Herr geschrieben hat, der jedoch will es ihr nicht zeigen.)

Herr: ... Gedichte, aber ... ich will nicht, daß Sie sie lesen ...

Mädchen: Na, kommen Sie schon, ich gebe Ihnen auch etwas Geld dafür.

Herr: (fast beleidigt) Nein, meine Gedichte sind nicht verkäuflich!

Mädchen: (öffnet langsam zuerst Sakko, dann Weste) ... wir können auch ficken, wenn Sie das wollen. (völlig emotionslos)

Herr: (Hat ihr begierig zugesehen) ... komm, setz dich neben mich! (er deutet neben sich, das Mädchen, wissend, worauf diese Geste hinauslaufen wird, tut es, sie setzt sich neben den Herren auf die Mülltonne.)

Herr (zieht sich sein Hemd aus, erst jetzt bemerkt man, wie jung er ist): Gefalle ich dir denn gar nicht?? (Das Mädchen ist von der Sanftheit des Mannes überrascht, es ist verwirrt, und wird unsicher)

Mädchen: Nun, doch ... doch, ich meine, ... jetzt, da du so auf der Mülltonne sitzt und mit mir sprichst ...

Herr: Ich laß dich meine Gedichte lesen, auch ohne ... (noch ein begehrlicher Blick) ... Gegenleistung. (gibt dem Mädchen den überdimensionalen Notizblock, sie kann ihn kaum halten, liest zögerlich und in getragenem Ton laut vor)

Mädchen: (das »R« muß gerollt werden, im Laufe des Gedichtes wird das Mädchen immer lauter, bis es fast dem Rhythmus des Herrn am Anfang des Stückes imitiert)
STRAHLENDER Sonnenschein
STRahlender Sonnenschein
scheinender Sonnenstrahl
strahlender Sonnenschein
sonniger Strahlenschein
das ist es, was ich mir wünschte

(das Mädchen schnuppert, rümpft die Nase, wird aufgeregt)

... wäre da nicht dieser Geruch, dieser ekelhafte Geruch nach Exkrementen und menschlichen Fäkalien, dann ...

Herr: (nimmt sie leidenschaftlich in den Arm, küßt sie) Magst Du mich kein bißchen?

Mädchen: (perplex, schaut ihn ganz erstaunt an, küßt ihn.)

Herr: ... nur mit Dir kann ich so glücklich sein, hier auf der Mülltonne.

Licht aus. Vorhang.

3. Szene

Die alte Dame sitzt auf einem Stuhl, vor ihr ein Tisch, auf dem sich ein Teller befindet. In dem Teller der Kopf einer Zecke, überdimensioniert, also ungefähr menschenkopfgroß. Die Dame hält einen Löffel in der Hand. Sie wirkt sehr präsent, ihre ganze Erscheinung, immer noch die Lockenwickler in den Haaren, etc. wirkt sehr künstlich und unecht.
Sie ist in sehr grelles Licht getaucht, " die artifizielle Situation noch unterstreicht.

Dame: Oh-ho, da ist ja ein Zeck in meiner Suppe! (Sehr überschwenglicher Ton, ein verstörtes Lächeln auf den Lippen. Die Dame betrachtet den Zeck, den sie offensichtlich erst jetzt bemerkt hat, sehr genau. Nach längerer Pause:) Ah, gottseidank, es ist nur der Kopf einer Zecke, der Arsch hätte mir hineingeschissen!

Auftritt des Mädchens. Sie wirkt blaß, fast krank, und sehr betrübt. Langsamen Schrittes geht sie bis zur Dame. Setzt sich auf den zweiten Stuhl. Die Dame bemerkt sie, doch ist sie so eingenommen von der Tatsache, daß ein Zeck in ihrer Suppe schwimmt, daß sie ihr nicht wirklich zuhört.

Mädchen: Guten Abend. Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich mich ein Weilchen zu Ihnen setze?

Dame: Aber nein, mein Schatz, nimm Platz, du armer Spatz, ist doch eh' alles für die Katz! – Weißt du schon das Neueste? Da ist ein Zeck in meiner Suppe!

Mädchen: Aber das ist ja fürchterlich! (den Zeck bemerkend ist sie entsetzt) Sie werden die Suppe aber doch nicht essen oder?

Dame: Aber, aber du kleiner Wonneproppen , ein kleiner Zeck in Ehren, das kann keiner verwehren!

Mädchen: Was reden Sie da? Sehen Sie nicht? Da ist wirklich ein Zeck in Ihrer Suppe, ein ekeliger, grindiger ...

Dame: ... Zeck, ich weiß, Honigmäulchen, ein Zeck! Zeck, Meck, ein kecker Zeck meckert und leckt das Crack! Oh, ich habe vielleicht einen Hunger, ich schaue doch auf meine Linie, und habe seit Tagen nichts mehr gegessen! So ein Zeck hat fast keinen Nährwert! (nimmt den Löffel, versucht den Zeck zu essen, schafft es aber nicht) Also, diese Schale ist wirklich hart, sehr schwierig, bis zum Fleisch vorzudringen ...

Mädchen: Oh mein Gott, sie sind ja wahnsinnig.

(Auftritt des Herrn. Er hat eine Wäscheklammer auf seiner Nase, ist sehr gut gekleidet, beschwingt-fröhlich, wie ausgewechselt)

Herr: Wunderschönen guten Morgen! Ein herrlicher Tag, das ist sehr inspirierend!

Mädchen: (stürzt auf ihn zu, ist heilfroh, ihn zu sehen) Oh, da bist du ja endlich! Ich habe dich drei Tage und drei Nächte lang gesucht! Ich dachte schon, du hättest es nicht mehr ausgehalten, den Geruch, und ... und dir einfach ... etwas angetan!

Herr (sehr distanziert, so als wäre nichts gewesen) Ach, Schatz, die Zeiten sind doch längst vorbei, ich weiß gar nicht, was du hast. Ich habe jetzt ein System gefunden, das mir hilft, ein normales Leben zu führen, diese Wäscheklammer auf meiner Nase!

Dame: (immer noch bemüht, den Zeck zu knacken) Steht Ihnen ausgezeichnet, mein Herr, wirklich.

Herr: Finden Sie, wirklich? oh, was essen Sie denn da? Einen Zeck? Oh, wie mag der wohl schmecken?

Dame: Wenn ich ihn erst mal geknackt habe, dann schmeckt er sicher wunderbar!

Mädchen: Wie kannst du so etwas sagen, der ist doch ekelhaft! Ich erkenne Dich gar nicht wieder, Du bist ganz anders, ohne deine Angst ...

Herr: Ja, so ist nun einmal der Lauf der Dinge! Man muß stets etwas Neues ausprobieren! Stell dich nicht so an, das ist ja lächerlich! (zur Dame) Darf ich's wagen, mir ein Stück Zecke abzutragen, in meinen Mund zu stecken, und ihn zu zerreißen?

Dame: OH Sie sind ja ein Poet reizend, bitte, greifen sie zu!

Mädchen: Hier habe ich nichts mehr verloren. (zum Herrn) Vielleicht bist du genesen von deinem Irrtum, wenn wir uns wiedersehen das nächste Mal!

Sie nimmt einen Wanderstock und einen Hut, der plötzlich da ist, und sagt, ja, hier habe ich nichts mehr verloren. Ich muß wohl eine Reise tun. (Sagt's, dreht sich auf dem Absatz um und geht.)

 

AKT II: 1. Szene

Das Mädchen in Wandermontur, sie sieht auf einem Hügel, es ist Nacht. Man sieht Lichter einer Stadt, die unten am Hügel liegt. Das Mädchen blickt melancholisch in die Ferne. Sie dreht sich zum Publikum, wirft plötzlich den Stock von sich, reißt sich den Hut von Kopf und trampelt auf ihm herum. Sie gerät immer mehr in Rage.

Mädchen: Was für eine Scheißidee! Wandern gehen! Hätte ich ihm die Klammer von der Nase gerissen, er wäre wieder so gewesen, wie ich ihn liebte! Sie läßt sich auf den Boden fallen. Wie komme ich nur auf die Idee, Wandern zu gehen?? Das hat vielleicht zu Nestroys Zeiten funktioniert, aber das ist lang vorbei. Ich hätte besser daran getan, mir ein paar Gramm Koks oder zumindest Gras zu kaufen, und einen kleinen Trip zu genießen.

Eine Gestalt richtet sich auf.

Mädchen (erschrocken): Oh, wer bist denn du? Die Gestalt antwortet nicht. Sie deutet ihr, mitzukommen. Willst du mich in eine Phantasiewelt fuhren, um mich zu läutern? Willst du mir den Weg zeigen, den ich gehen muß? Die Gestalt fängt an zu lachen. Ein sehr zynisch klingendes Lachen wie Kater Karlo (Harr-Harr-) Gestalt: Schätzchen, die mysteriösen Gestalten sind auch nicht mehr das, was sie mal waren! Nein, ich führe dich nirgends wohin, aber es fängt an, scheißkalt zu werden, deshalb dachte ich, ich piss' auf deine melancholischen Anfälle und verzieh mich. Aber ..... Gestalt, ganz in Schwarz, auch kein Gesicht. Nur ein großer, lachender Mund, sei hat Mitleid mit dem Mädchen. ... Ich sehe schon, unsere Wege haben sich nun mal gekreuzt. Komm mit, ich weiß einen Platz, wo es warm ist. Die Gestalt muß eine grausam klingende, ehrfurchtseinflößende Stimme haben.

2. Szene

Das Mädchen folgt ihm widerspruchslos. Sie gehen im Kreis, ein, zwei Male, und sind plötzlich an einem sehr sonnigen Ort, alles ist sehr bunt, eine große Sandkiste, grell pink angemalt, steht in der Mitte des Raumes, in der Sandkiste sind Erwachsene in Baby-Montur, in Strampelhöschen, ein Mann mit langem weißen Vollbart, eine Frau um die 30, ein Jugendlicher, und ein "echtes" Baby. Sie alle spielen mit großen Plastikschaufeln und Pastiksieben. Der Mann hat lebensgroße Zinnsoldaten, allerdings aus Plastik und im selben Farbton wie die Sandkiste angemalt, mit denen er spielt. Der Jugendliche weint ohne Unterlaß. Sie alle beachten das Mädchen nicht, es ist verwundert und bleibt kurz vor der Sandkiste stehen. Die Gestalt verschwindet, lachend. Das Mädchen beobachtet die "Kinder" beim Spielen.

Dann gibt es sich einen Ruck und spricht das 'echte' Baby an, der einzige, der natürlich wirkt.

Mädchen: He, Kleiner, sag ... Das Baby unterbricht sie wütend.

Baby: (eine sehr helle Stimme, wie ein Kleinkind eben, das noch Probleme mit der richtigen Betonung hat) Was fällt Ihnen ein, mich so respektlos zu duzen? Nur weil ich klein bin, heißt das noch lange nicht, daß Sie mir nicht mit einer gewissen Höflichkeit entgegenkommen müßten! EINE FRECHHEIT ist das!!

Mädchen (unangenehm berührt): Verzeihen Sie bitte, es war nicht meine Absicht, Sie zu offensieren, ich dachte nur,

(das Baby, immer noch ungehalten) Baby: Ja, ja Sie denken. Denken, wer kann heutzutage noch ernsthaft behaupten, daß er denkt??!!! So etwas existiert nicht mehr! Früher, als ich noch jünger war ...

Mädchen: Ich möchte nicht neugierig erscheinen, aber Sie sind doch noch sehr jung?

Baby: Ach, immer diese Vorurteile! Körperlich bin ich sehr wohl noch etwas jung an Jahren, aber mein Geist hat sich so schnell entwickelt, mein Körper ist zurückgeblieben, konnte dieser rasend schnellen Entwicklung nicht mehr folgen .... wenn Sie den da fragen, der ist jung ! Bei ihm ist das Umgekehrte der Fall, er entwickelte seinen Geist quasi umgekehrt proportional zu seinem Körper.

Mädchen: Ah, ich verstehe ....– nicht! Aber, verzeihen Sie (den Jugendlichen ansprechend), warum sind Sie denn so furchtbar traurig?? (Der Jugendliche reagiert nicht, er weint hemmungslos weiter)

Baby: Warum er traurig ist? Warum ist man schon traurig?? Es gibt so viele mögliche Gründe. um traurig zu sein, suchen Sie sich einen aus!! Jetzt entschuldigen Sie mich, ich habe zu tun! Spricht's und spielt weiter mit den anderen. Das Mädchen ist verwundert, schüttelt den Kopf und geht ab. Man sieht die Kinder noch eine Zeitlang spielen, vor allem der Mann, mit den Soldaten, die sich im Spiel gegenseitig erschießen. Dann Licht aus, Vorhang.

 

3. Szene

Das Mädchen geht langsamen Schrittes, es sind Lichtpunkte in der Ferne zu sehen, eine Stadt muß nicht weit entfernt sein. Es stürmt und schneit, das Mädchen ist offensichtlich erschöpft. Ihre Kleidung ist zerfetzt und zerrissen. Sie geht in Richtung der Lichtpunkte, leise, fröhliche Musik ist zu hören, die immer lauter wird, bis sie an ein Schild stößt, auf dem zu lesen steht: "Da, wo man immer vorbei kommt". Sie geht weiter, an ein paar Häusern vorbei, auf den Hauptplatz des Dörfchens. Die Musik ist jetzt laut, aber nicht unangenehm, in der Mitte des Platzes ist ein Feuer, um das einige Menschen fröhlich tanzen, die Musikanten spielen immer schneller und fröhlicher. Das Mädchen setzt sich etwas abseits neben einer Frau, die einen kleinen weißen Schleier auf dem Kopf trägt. Sie wirkt sehr überirdisch, sehr offen und beinahe schon unmenschlich freundlich, ohne sich aufzudrängen.

Frau: Komm, iß ein wenig Suppe, du siehst sehr schlecht aus. (Sie reicht dem Mädchen eine Schüssel aus Holz. Das Mädchen lächelt sie dankbar an, nimmt die Schüssel, verschüttet aber die Hälfte der Suppe beim Versuch, sie zu essen.)

Frau: Du kannst ja nicht einmal mehr essen, sprechen scheinst du auch verlernt zu haben. ... Keiner soll heute frieren oder den Menschen entwöhnt sein. (Sie nimmt erneut Suppe, gibt dem Mädcheen zu essen, daß sich gierig füttern läßt. ) Du kannst bei uns bleiben, in unserer Küche schlafen, bis du wieder sprechen und essen kannst, bis du wieder Mensch bist. Siehst du den schönen Mann, der gerade mit der alten Frau dort tanzt? Das ist mein Mann, und heute ist unser Hochzeitstag.

(Als hatte der Mann die Worte der Frau gehört, läßt er die alte Frau stehen, nimmt die Frau an der Hand und tanzt mit ihr, lachend. Ein anderer junger Bursch schnappt das Mädchen und tanzt mit ihr)

(Es wird dunkel, man sieht den Wechsel zum Tag. Es muß einige Zeit vergangen sein, denn das Mädchen sieht gesund aus, es hat ein weißes Kleid an, sitzt vor dem Haus auf einem Stein. Die Frau kommt aus dem Haus.

Mädchen: Ich werde morgen weiterziehen. Danke.

Frau: Du kannst wieder sprechen, essen, du bist auch wieder Mensch, es ist gut.

Mädchen: Wirst du ein Kind bekommen?

Frau: Ja ..., woher ...

Mädchen (etwas verschämt, peinlich berührt): Ich kann euch hören, manchmal in der Nacht, wenn ich nicht schlafen konnte ... aber gestern nacht, da war es anders zwischen Euch ...

Frau (nimmt das Mädchen bei der Hand) Ja, ich werde ein Kind bekommen. Komm mal wieder zu uns, ich möchte es dir vorstellen. Hier kommt man immer vorbei, wenn man nicht sucht.

Mädchen: Danke. (Sie umarmt die Frau, nimmt ihren Rucksack und geht)

5. Szene

Man sieht dieselbe Szenerie wie zu Beginn des Stuckes, nur in der Mitte der Bühne ein überdimensionierter Menschenhintern aus Pappmachée, auf jeden Fall sichtlich "selbergebastelt", also amateurhaft, in knallrosa. Die alte Dame immer noch mit Lockenwicklern im Haar, nur in roter Reizwäsche, überschminkt, sie erinnert an eine sehr alte Hure, mit knallrotem, schlecht bemaltem Mund.

Der Mann in Unterhosen, die Wäscheklammer stets auf der Nase. Die beiden laufen kreischend hinter einander her, in die Öffnung des Hinterteils hinein, auf der anderen Seite laufen sie wieder hervor, lachend. Auftritt des Mädchens. Sie wirkt sehr ruhig, strahlt Ausgeglichenheit aus. Sie tritt von links (oder woher auch immer) auf die Bühne, die zwei Gestalten mit Kopfschütteln beobachtend. Sie trägt ein weißes schlichtes Kleid und geht barfuß nach einer Weite auf die zwei Kreischenden zu.

Mädchen: So, jetzt bin ich doch noch auf euch gestoßen.

Mann: (lachend und hysterisch, sehr erschöpft, er bleibt kurz stehen, betrachtet das Mädchen, als wurde er sich an sie erinnern, dann lacht und kreischt er wieder.) Ich kenne dich nicht, aber komm, mach mit!!

Mädchen (sehr distanziert, auf eine überirdische Art und Weise, sie lacht kurz auf, dann fragt sie): Was tut Ihr denn da?

(Die Frau rennt immer im Kreis, durch den Hintern durch, ohne Unterlaß)

Mann: (ruhig, jedoch außer Atem) Wir haben eingesehen, daß wir nicht richtig gehandelt haben, unsere Fehler bereuen wir. So viele Kompromisse haben wir geschlossen, uns immer den Begebenheiten angepaßt, unsere Seelen haben wir verkauft. Jetzt aber wissen wir, daß wir Arschkriecher sind, nichts anderes als Arschkriecher, deshalb stellen wir uns – zum ersten Mal!!- den Tatsachen, der Realität schauen wir frohen Mutes in die stumpfen Augen, wir haben erkannt, was wir sind, wir leben es aus!! Deshalb haben wir uns den Arsch hier zusammen gebaut, aus Müll, ein elendiger Gestank, sag ich dir, fürchterlich, aber, (Kurze Pause) .... aber es soll ja authentisch sein, was wir tun, weil wir nicht wirklich in Ärsche kriechen können, kriechen wir durch diesen!! Mach mit! Befreie dich von deinen Ängsten, vergiß deine Zweifel, mach mit!!

(Spricht's, lacht und kreischt, läuft der alten Dame wieder nach, immer im Kreis. Das Mädchen schüttelt leise den Kopf. Sie dreht sich um und geht. Die beiden kreischenden hören nicht auf zu rennen, mindestens noch drei Minuten lang. Dann Licht aus, Vorhang.)

Schlußstück

(Das Mädchen in der Mitte der Bühne, Spot auf sie, sonst kein Licht. Eine sehr schnelle bunte Videosequenz wird auf sie projiziert, – sie trägt immer noch das weiße Kleid, nur öffnet sie die Arme, das Kleid ist so geschnitten, daß sie eine mehr oder weniger quadratische Flache darstellt, auf die projiziert werden kann. Die läßt den Kopf hängen. Als die Videosequenz anfängt, richtet sie sich auf. Die Sequenz ist am besten eine sehr schnelle Reise, durch Städte, Länder, verschiedene Gesichter treten kurzfristig in den Vordergrund, verschwinden wieder, immer weiter und weiter, das Mädchen bewegt sich nicht, blickt nur starr ins Publikum. Das Licht wird immer dämmriger, bis es schließlich ganz dunkel ist.

La fin.

copyright Verena Tatzer