Daniela Svabik (17)

Am Fenster

Sie stand an ihrem Fenster. Ihre Finger spielten mit einem Glas, das wie zufällig neben ihr stand, befühlten seinen Rand, glitten beiläufig über seine Gestalt. Ihr Blick war nach draußen gerichtet, doch sie sah nicht. Schon zu oft waren ihre Augen über das Bild geglitten, das sich ihr nun darbot. Ein alter Baum, davor die Straße, über die sie bereits unzählige Male gegangen war. Das Haus gegenüber, jemand der hineinging. Irgend jemand führte seinen Hund spazieren. Alles war nur zu vertraut.

Die Sonne stand am Himmel, doch einige Wolken schienen ihr Licht vor der Erde abschirmen, ja, beschützen zu wollen. Jene Helligkeit konnte nicht zu den Menschen vordringen, die sie benötigten. Die Erkenntnis und die Einfachheit der Freude spendenden Quelle wurde davon abgehalten zu erfüllen, was ihre Aufgabe war. Machtlosigkeit auf allen Seiten, und keine böse Absicht. Nur ein transzendenter Plan, der alles nach seinem unergründlichen Willen lenkte.

Ihre Gedanken liefen in die Welt hinaus, kannten die Grenze des Lebens nicht und traten ihren Zug in das Neue, das nicht Benannte an. Ein Weg, der sie auch in die Weiten ihres Lebens, ihrer eigenen Vergangenheit führte. Bilder tauchten vor ihr auf; sie erhoben sich aus dem Morast des Alltäglichen. Für einen schon beinahe unwirklichen Augenblick wurden sie beschienen von dem willkürlichen Licht der Aufmerksamkeit.

Ein Tag am Strand, zwei kleine Kinder, durch die Wellen tobend, eine Sandburg bauend, ein Lächeln im Gesicht. Das Leben erscheint meilenweit entfernt, kein Problem kann sie erreichen, kann ihre uneingeschränkte Freude trüben. Sie spüren die Sonne auf ihrer Haut, verschwenden keinen Gedanken an die Konsequenzen dieses Genusses. Sie sind frei, alles liegt vor ihnen.

Beständiges Leben unter dem väterlichen Blick.

Ein Blick, der Aufmerksamkeit einfordert. Eine Stimme, in der Unausweichlichkeit liegt. Keine Möglichkeit zur Flucht. Der Vater ist immer präsent, lässt sich nicht verleugnen. Seine Worte prägen sich ein, ihr Klang ist unauslöschlich. Er spricht keine Verbote aus, bedient sich keinerlei Gewalt, lediglich seiner Worte. Das Gefühl der Unterdrückung, das eigene Selbst am Boden.

Ein Nachthimmel. Ein junger Mann, ein Lächeln im Gesicht. Was er sagt, erweckt den Anschein von Surrealität und ist doch Teil der Wirklichkeit. Er spricht von den Sternen, erzählt vom Mond. Seine Berührung scheint das höchste Ziel zu sein.

Es klingelt nicht, jenes Telefon, das nun sichtbar wird. Vergebliches Hoffen auf einen Anruf, der nicht kommen will. Banges Warten und nagende Ungewissheit. Was mag die Zukunft bringen? – Sie weiß nicht, was sie will. Ein Sessel in Reichweite des Apparates. Er schweigt. Die Leitung bleibt tot, leblos, lässt die Worte nicht zu, die gesagt werden müssen. Nichts ist zu hören, außer dem ewigen Ticken der Uhr.

Scherben, ein zerbrochenes Glas. Das Licht bricht sich in den Teilen eines ehemals Ganzen.

Tränen; eine Träne fällt darauf, hinterlässt ihre Spuren.

Schmerz, tief in ihrem Inneren. Begleitet von einer Leere. Ein Vorwurf, der nicht verstummen mag, gefolgt von einem Schwall der Verteidigung vor sich selbst.

Ein Streit; keiner weiß mehr, worum es ging. Nur die Verletzung bleibt zurück. Narben entstehen. Das Gefühl der Verzweiflung breitet sich aus.

Niemand spricht, keinerlei Interaktion herrscht in jenem Kaffeehaus. Eine Frau, alleine, vor ihr eine Tasse kalt gewordener Kaffee.

Das Lächeln eines Kindes.

Ein Wolkenbruch.

Eine abgebrannte Kerze.

Ein nebeliger Tag.

Die Bilder überlagern sich, Ordnung erscheint unerwünscht. Die Farben rinnen ineinander, die Gesichter verlieren ihre Konturen, die Ereignisse ihre Bedeutung. Das Leben vereinigt dies alles in sich – die Freude und das Leid. Kein Bild möchte nun entstehen außer dem alltäglichen.

Sie stand an ihrem Fenster. Sie blickte hinaus, und alles bot sich ihr in neuer Klarheit dar. Schroff hoben sich die Ecken hervor, schrill klangen die Geräusche der Straße zu ihr hinauf, Wie lieblich erschien ihr der Gesang eines vereinzelten Vogels.

Langsam hob sie das Glas mit seinem verheißungsvollen Inhalt an ihre Lippen. Ohne zu schmecken, ohne zu denken, ohne zu fühlen vollzog sich die Vereinigung des Menschen mit der Ewigkeit. Das Ziel war fast erreicht, unendliche Ruhe stellte sich ein, ließ mit einem Mal vergessen; die Anspannung des Lebens und die Bitterkeit der Welt fielen von ihr ab. Ihr Blick blieb auf das Haus gegenüber geheftet. Jemand ging hinein.

Wenige Tage später fand man ihren Leichnam; zusammengesunken lag sie da, die Augen weit geöffnet. Jemand schloss sie ihr, die letzten Pforten zu einer Welt, die nicht die ihre war.