Cornelia Strahlhofer (16)

Rote Blumen

Gestern fielen die ersten Bomben.

Ich lag in meinem Bett und konnte nicht schlafen, wälzte mich unruhig von einer Seite auf die andere, hörte, wie die Sprengkörper in der Ferne explodierten und durch ihre gewaltige Kraft Mauerwerk und Gebäude in Schutt und Asche legten. Ich schloß die Augen.

Wie oft hatte ich mir dieses Geräusch vorgestellt! Die Explosion, das Bersten von Holz, das Splittern von Glas, die Schreie der Menschen, die vergeblich zu flüchten versuchen und in einem Schwall aus Flammen und Rauch qualvoll sterben. Ich hatte mir vorgestellt, wie schrecklich es sein mußte, bei einem Bombenangriff zu sterben, hatte mir ausgemalt, wie der Tod sein würde und jedesmal Angst gehabt.

Nun aber, da ich die dumpfen Einschläge der Granaten vernahm, fühlte ich nichts.

Mein kleiner Bruder lag in seinem Bett in der hinteren Ecke des Zimmers und atmete unruhig. Ich richtete mich auf und erblickte den kleinen, zitternden Körper, der sich im Schlaf von einer auf die andere Seite warf und die Decke mit ein paar eleganten Tritten aus dem Bett beförderte. Ich seufzte, stand auf und ging zu ihm hinüber. Haarsträhnen klebten auf seiner schweißbedeckten Stirn, und seine Augen zuckten hinter den geschlossenen Lidern. Ich hob die Decke auf und rüttelte ihn sanft an der Schulter.

»Jan«, sagte ich leise, »Jan, wach auf!«

Es dauerte noch einige Sekunden bis er die Augen öffnete und wußte, wo er sich befand. Er wirkte erleichtert und doch irgendwie erschrocken.

»Ich…«, begann er leise. Er schluckte, und sein Blick glitt durch den spärlich eingerichteten Raum. »Ich hab geträumt, es ist Krieg!«

Ich merkte, wie alle Farbe aus meinem Gesicht wich. Ich war sprachlos, wußte nicht, was ich meinem fünfjährigen Bruder erzählen sollte. Für einen kleinen Moment wollte ich ihn einfach umarmen, ihm sagen, dass wir kurz davor standen, selbst einem Bombenanschlag zum Opfer zu fallen, wollte ihm sagen, wie sehr ich vor dem Morgen Angst hatte und mir wünschte, dass es erst Gestern wäre, wollte einfach nur weinen.

Tränen stiegen mir in die Augen, doch ich bemühte mich, stark zu bleiben, und sie vor meinem kleinen Bruder zu verbergen. Ich zwang mich zu einem Lächeln.

»So ein Blödsinn! Wieso träumst du solchen Unsinn?! Versuch wieder zu schlafen!«

Ich blieb noch etwa fünf Minuten sitzen und wartete, bis er wieder eingeschlafen war. Wie hilflos er doch aussah! So zart und klein. Ich könnte es nicht ertragen, wenn ihm etwas zustoßen würde, und für ein paar Sekunden klammerte ich mich verzweifelt an die Hoffnung, dass es zu keinen weiteren Kämpfen kommen würde und dass ein Waffenstillstand eintreten würde, bevor unser Dorf angegriffen wird. Es mußte einfach Frieden einkehren!

Eine neuerliche Explosion riss mich aus meinen Gedanken. Ich zuckte zusammen.

Es mußte einfach Frieden geben, dachte ich noch einmal und schlich zurück in mein Bett. »Frieden…«, murmelte ich noch einmal und schlief mit dieser Hoffnung ein. Am nächsten Tag war Krieg.

Ich weiß eigentlich nicht, warum ich meinen kleinen Bruder überhaupt angelogen habe. Vielleicht wollte ich mir nur selbst Hoffnung machen und habe diese Lüge als Vorwand genommen.

Die feindlichen Truppen sind weitergezogen und belagern mittlerweile unser Dorf. Heute früh um sechs sind die ersten Panzer zu unserer Verteidigung gestellt worden. Dunkle Burgen aus Stahl, die unzerstörbar scheinen, und die blitzschnell und eiskalt ihre tödlichen Geschosse auf denjenigen abfeuern, der sich ihnen zu widersetzen wagt. Für mich sind Panzer keine Maschinen. Sie kommen mir wie trainierte Lebewesen vor, die sich dröhnend und unaufhaltsam ihrem Bestimmungsort nähern, um dort ihre Mission zu erfüllen. Der Fahrer ist unsichtbar, und genau diese Anonymität verleiht diesem schwarzen Monster Autorität und die Macht gegenüber allem Lebenden.

Vor einem halben Jahr habe ich des öfteren geträumt, von einem Panzer verfolgt zu werden. Ich lief und lief, doch der Panzer kam immer näher. Ich war erschöpft und wurde immer langsamer, während das Gefährt seine Geschwindigkeit erhöhte. Der Abstand schmolz dahin wie Butter in der Sonne, und ich konnte schon bald den abscheulichen Atem des Monsters in meinem Rücken spüren. Dann stürzte ich, doch bevor mich der Panzer endgültig erreicht hatte, wachte ich jedesmal schweißgebadet auf.

Nach solchen Albträumen hatte ich Angst, wieder einzuschlafen, und war froh, als es endlich hell wurde. Meistens belächelte ich dann meine scheinbar unsinnigen Befürchtungen und rechnete nie damit, dass diese Realität werden könnten.

Ich stehe in der Küche und blicke durch das große Fenster auf die Hauptstraße. Es ist keine Menschenseele zu sehen, nur manchmal fährt ein Militär-Jeep durch die ausgestorbenen Gassen: der Ortswiderstand, wie sich mein Vater auszudrücken pflegt.

Ich mache den Vorhang zu und widme mich wieder Jan, der ungeduldig auf dem Sessel herumrutscht und auf sein Frühstück wartet. »Was ist los?« fragt er unbekümmert.

»Es ist … nichts!« lüge ich und wende mich zum Herd, wo ich es auf einmal unglaublich interessant finde, die Fliesen an der Rückwand zu zählen. Es sind tatsächlich sechsundreißig!

Mutter kommt in die Küche. Ein Blick genügt, und ich weiß, wie ernst die Lage ist. Sie geht zum Fenster, wirft einen flüchtigen Blick auf die Straße und wendet sich vollends zu uns um.

»Also, meine Lieblinge«, sie räuspert sich und versucht zu lächeln, was ihr jedoch kläglich mißlingt. »Es wird sich vieles ändern. Von nun an wird unser Leben etwas anders aussehen.«

Sie sucht vergeblich nach den richtigen Worten, und ich merke, dass sich ihre Augen mit Tränen füllen.

»Wir befinden uns im Krieg. Alle Hoffnung auf Frieden war umsonst, und es sieht so aus, als ob es die großen Mächte auf einen ewig dauernden Kampf ankommen lassen wollen. Vorige Nacht haben sie das Nachbardorf dem Erdboden gleichgemacht. Ich bete zu Gott, dass sie uns in Ruhe lassen!« Mit einer fahrigen Bewegung wischt sie sich die Tränen von den Wangen und lächelt Jan zu. Dieser sitzt jedoch mit offenem Mund da und starrt vor sich auf den Tisch, scheint von nichts Notiz zu nehmen.

»Wo ist Papa?« frage ich besorgt.

»Er ist unten bei den Nachbarn. Sie haben ein Funkgerät und hören Radio. Wenn es etwas Neues gibt, meldet er sich.«

Sie zieht einen Stuhl zu sich heran und setzt sich mit einem leisen Seufzer an den Tisch. Jan sagt noch immer nichts.

»Schule und Kindergarten sind für euch gestrichen«, und mit einem kurzen Seitenblick auf mich fügt sie hinzu, »ebenso ist das Treffen mit Freunden verboten. Ihr werdet die Wohnung nicht verlassen, bis wir näheres wissen!«

Um ihre Aussage zu unterstreichen, schlägt sie mit der flachen Hand auf den Tisch und wendet sich an Jan: »Hast du das verstanden? Kein Spielen im Hof, kein Fahrradfahren! Hast du mich verstanden, Jan?«

Langsam schüttelt er den Kopf. »Es kommt kein Krieg!« Mutter sieht mich verständnislos an.

»Es kommt kein Krieg, weil Sara gesagt hat, dass keiner kommt!« Er rutscht vom Sessel und macht Anstalten, die Küche zu verlassen.

Mutter verstellt ihm den Weg. »Was hast du ihm erzählt?«

Ich blicke betreten zu Boden und flüstere: »Nichts.«

»Darf ich jetzt spielen gehen?« quengelt Jan und versucht, sich an Mutter vorbei durch die Tür zu schieben.

»Du bleibst hier!« sagt sie scharf und packt ihn am Handgelenk.

Jan sieht sie erschrocken an. »Wieso? Es ist ja kein Krieg!«

»Wir befinden uns bereits mitten im Krieg, du kleiner Dummkopf«, platze ich heraus. Mutter straft mich mit einem bösen Blick, doch anstatt aufzuhören, lege ich noch eins drauf. Ich schreie fast. »Wir werden alle sterben, du, ich, unser gesamtes Dorf wird ausgerottet werden. So dumm kannst du gar nicht sein, dass du das nicht kapierst!«

Jan sieht mich mit großen Augen an. Seine Mundwinkel zittern, und er steht kurz davor, in Tränen auszubrechen.

»Hör sofort auf!« schreit Mutter und zieht Jan zu sich heran. Es wird alles gut! Wir werden nicht sterben! Keine Angst!«

Jan schluchzt und vergräbt sein Gesicht in ihrem schwarzen Haar.

»Hör auf, ihn anzulügen! Davon wird es auch nicht besser!« Ich gehe zum Fenster und ziehe den Vorhang zurück. Ein paar ältere Leute sind bereits dabei, mit Leiterwagen ihr Hab und Gut in Sicherheit zu bringen. »Da, bitte, überzeug dich selbst!« Ich bin außer mir vor Angst und Wut.

Mutter schweigt und drückt Jan fester an sich. Angewidert verziehe ich die Lippen und mustere die beiden spöttisch. Gleichzeitig merke ich jedoch, dass ich zu weit gegangen bin. Ich habe nicht nur meine Mutter verletzt, sondern auch meinem Bruder die letzte Hoffnung genommen. Ich schäme mich.

Ich gehe in mein Zimmer, werfe mich aufs Bett und presse mein tränennasses Gesicht in mein Kopfkissen. Wieso muß das hier, in diesem Land passieren? Es gibt so viele Orte auf dieser Welt, warum gibt es ausgerechnet hier Krieg? Es gibt so viele glückliche Kinder und Familien, die sorglos in den Tag hineinleben, auf Urlaub fahren und sich Sorgen über Dinge machen, von denen sie sagen, dass es nichts Schlinuneres gäbe. So möchte ich auch leben! Ich hätte gerne meine eigenen Sorgen, seien es Probleme in der Schule oder mit einem Jungen… Tom gefällt mir gut. Er wohnt drei Straßen weiter und geht auf unsere Schule. Wieso kann ich mich nicht damit befassen? Ich rolle mich auf den Rücken und starre an die Decke. Wieso trifft es uns? … Aber wieso eigentlich nicht?

Ich richte mich auf und sehe zur Tür, wo ich die Gestalt meiner Mutter erblicke. »Willst du noch etwas Kaffee?« fragt sie sanft.

Ich rücke, wische mir die Tränen ab und gehe zu meiner Familie in die Küche.

Meinen Vater bekomme ich in den nächsten Tagen kaum zu Gesicht. Meistens ist er bei unserem Nachbarn und lauscht den Berichten im Radio. Manchmal bringt er sogar Nachricht von Samuel, meinem älteren Bruder, der einrücken mußte und nun mit unserem Heer die Angriffe auf die Hauptstadt abwehrt.

Die Hauptstadt ist das Wichtigste. Dafür werden auch so kleine Dörfer, wie unseres, geopfert. Ich verstehe das nicht. Wenn ich in diesem Land bestimmen dürfte, würde ich jedes noch so kleine Dorf vor den Feinden schützen. Ja, genau das würde ich tun!

Die Zeit scheint still zu stehen, und das Essen wird knapp. In einer Vier-Zimmer-Wohnung eingesperrt zu sein, ist, als wäre man in wirklicher Gefangenschaft, man wird wahnsinnig, läuft im Kreis. Ich komme mir vor wie ein Vogel, dem die Flügel zusammengebunden worden sind. Manchmal beobachte ich die Uhr und rechne jeden Augenblick mit dem Schrecklichsten. Die Tatsache, dass uns die feindlichen Truppen noch nicht bombardiert haben, weckt in uns jedoch eine leise Hoffnung. Solange wir uns ruhig verhalten, keine Flucht und keinen sinnlosen Angriff gegen eine Armee planen, gegen die wir sowieso keine Chance hätten, lassen sie uns vielleicht in Ruhe.

Ich habe begonnen, die Tapete in unserem Zimmer mit Blümchen zu bemalen. Die Roten gefallen mir besonders gut. Ich glaube, ich werde nur mehr rote Blumen malen.

Jan hat in den letzten Tagen kaum gesprochen. Insgeheim gebe ich mir die Schuld an seiner Verfassung. Ich hätte mit ihm nicht so grob reden dürfen, hätte ihm keine Angst machen dürfen. Ich habe versucht, meinen Ausrutscher wieder gutzumachen, doch mein kleiner Bruder straft mich mit Ignoranz und Gleichgültigkeit. Vielleicht ist es auch nur der kindliche Trotz; doch allein die Tatsache, dass er auf alle Annäherungsversuche meinerseits mit Zurückweisung reagiert, macht mich fast verrückt.

Es ist der Beginn der dritten Woche, als sich die Situation schlagartig ändert. Mein Vater stürzt in die Wohnung, völlig außer Atem. Er schreit: »Schnell, sie planen einen Aufstand! Wir müssen raus hier, sobald der Angriff los geht!«

Er packt mich und meinen Bruder an den Armen und zieht uns aus der Wohnung. Mutter holt schnell die Pässe, etwas Geld und die wichtigsten Papiere, ehe sie uns folgt.

»Meine Sachen!« schreie ich, »Ich will noch ein paar von meinen Sachen holen!« Ich versuche, mich loszureißen und in die Wohnung zurückzulaufen.

Den Versuch unternehme ich jedoch nur einmal, da mir mein Vater eine schallende Ohrfeige verpasst und nur noch fester zupackt.

Innerhalb von Minuten ist das Chaos auf den Straßen ausgebrochen.

Familien versuchen, aus dem Dorf zu flüchten und den Kämpfen aus dem Weg zu gehen, doch schon nach wenigen Minuten wimmelt es nur so von feindlichen Soldaten. Erste Schüsse, Schreie - ich werde halb ohnmächtig vor Angst. Irgendwo bricht ein Feuer aus. Bald atmen wir nur noch Rauch.

Ich weiß nicht, wohin wir laufen, ich fühle nichts. Ich habe plötzlich keine Angst mehr, alles läuft wie in einem Film ab. Die Menschen, die Panik, die Toten – träume ich? Der Aufstand ist so schnell vorbei, wie er gekommen war.

Die feindlichen Truppen mußten Verluste einstecken, doch viel größer ist die Anzahl der Opfer derer, die zu flüchten versuchten.

Ich habe noch nie einen Toten gesehen und jetzt, da ich den leblosen Körper meines Bruders in den Armen halte, kann ich nicht beschreiben, was ich fühle.

Es mußte wohl soweit kommen, oder? Ich war kurz davor, alles zu verstehen. Doch jetzt, wenn ich Jan so ansehe, scheint mir alles sinnlos, gemein und ungerecht. Ich verstehe nichts mehr. Wie soll unser zukünftiges Leben aussehen? Gibt es überhaupt eine Zukunft?

Die Luft ist schwül und stickig. Ich liege in einer rauhen Decke eingewickelt zwischen vielen anderen Gefangenen. Ich höre das Weinen vieler Verletzter und das Klagen derer, die ihre Familie verloren haben. Ich kann nicht weinen … noch nicht.

Ich schlafe bald ein und träume.

Ich träume von einem schwarzen Monster, das mich verfolgt. Ich laufe und laufe, doch der Panzer kommt immer näher. Ich bin müde und erschöpft. Ich merke, wie die Luft aus meinen Lungen weicht und werde langsamer. Mein Verfolger erhöht die Geschwindigkeit, und der Abstand wird kleiner und kleiner. Bald spüre ich den Atem des Monsters in meinem Rücken. Ich stolpere und stürze zu Boden. Das Dröhnen wird lauter. Diesmal wache ich nicht auf.