Judith Rifeser (15)

Die Mauer

Noch liegt der dichte, beschützende Schleier der Nacht über der Stadt. Der Mond versteckt sich hinter den Wolken. Nur einzelne, winzige Sterne leuchten am Firmament. Doch ihr Licht ist zu schwach. Zu schwach, um die beiden Gestalten, die dort durch die Gassen hasten, zu verraten.

Doch bald, bald wird die Sonne die Nacht vertreiben. Erbarmungslos.

»Lauf, lauf meine Chiara. Der Weg ist noch so weit, und du bist schon müde. Wir dürfen nicht Halt machen, stehen bleiben. Sonst ist alles verloren. Und dann…? Nimm meine Hand, lass nicht los. Still. Sie könnten uns hören. Und dann…? Allein sind wir, hier. Jetzt.« flüstert die Frau ihrer Enkelin zu.

Tränen verschleiern ihre Augen. Ein Schauer kalten Schweißes rinnt über ihren Rücken, läßt ihre Glieder erstarren. Ihr Blick ist nach vorn gerichtet. Zwanghaft. Sie will nicht zurückschauen, sich erinnern.

Der milde Frühlingswind streichelte vorsichtig über ihre zarte Haut, fuhr sanft durch ihre blonden, gelockten Haare. Das Gras kitzelte ihre Füße und ließ ihre Körper leicht beben. Unzählige Stunden lagen sie da, Mutter und Tochter, lauschten dem heiteren Plätschern des Bächleins, dem Summen der Bienen.

Doch dann, auf einmal war nichts mehr da. Verschwunden. Ausgelöscht. Nach und nach jeder Quadratzentimeter Leben verschluckt. Von Betonblöcken. Grau. Waffenfabriken, Kasernen, Gefängnisse und noch mehr Kasernen, Gefängnisse und Waffenfabriken. Machtlos, hilflos verzweifelten die Menschen. Unter ihre Verzweiflung mischte sich Wut. Hass gegen die Mauer, die Soldaten und die Menschen, die sich nicht wehrten. Aus Angst.

»Die Soldaten patrouillieren von morgens bis abends, in der Nacht. Niemand soll die Mauer überwinden und frei sein, frei wie ein Vogel im Wind und glücklich. Nein, eingesperrt, gefangen in meiner Heimat, in unserer Heimat sollen wir sein. Nein, Mama, so will und werde ich nicht weiterleben!« schrie die Tochter und stürzte, ohne auf die Antwort ihrer Mutter zu warten, aus dem Haus.

Sie habe schon auf die andere Seite geblickt, tuschelten die Menschen. Mama – Chiara – weg – hatte sie gehaucht, bevor sie die Augen für immer schloss. Und ihre Tochter Chiara, zwei Monate alt, zurückließ bei ihrer Mutter.

So ein Dummkopf. Sie wollte fliehen. Am hellichten Tag. Einfach so, höhnten die Menschen.

Neid schwang in ihrer Stimme mit. Sie hatte es gewagt, die Fesseln abzustreifen. Verlassen hatte sie das Gefängnis, ohne die Mauer zu durchbrechen.

»Geduld, nicht so hastig. Komm. Die Ziegel sind locker. Dort. Gib sie mir. Sie sind schwer, ich weiß. Weine nicht. Lass meine Hand los. Schau nach vorne und lauf, lauf in die Freiheit, in ein neues Leben.«

Da stand sie nun, das Mädchen, auf der anderen Seite. Gleich würde ihre Großmutter ihr folgen, durch die Lücke, in ein neues Leben.

Doch … sie zögerte, einen Augenblick nur. Wandte den Kopf. Zurück.

Rücksichtslos vertreibt die Sonne die letzten Schatten der Nacht. Unermüdlich dringt sie in jeden Winkel vor und spendet Licht. Mitleidslos. Grausam.

Ein Schuss. Ein Schrei.

Der Tag hat das nächtliche Geheimnis preisgegeben.

Jetzt liegt die Großmutter da. Tot.